Der Anfang vom Ende

Der Anfang vom Ende

Nach der Uraufführung des Stückes „Bühnenbeschimpfung“ am Maxim Gorki Theater in Berlin im Dezember vergangenen Jahres, erfuhr nun das Stück der israelischen Autorin Sivan Ben Yishai in Graz am Schauspielhaus seine Erstaufführung. Zur Freude, aber auch zum Ärger von Menschen aus dem Publikum.

Mit Thomas Kramer, Sarah Sophia Meyer, Luiza Monteiro, Anna Rausch und Anke Stedingk beginnt der Abend mit eingespieltem, tosendem Applaus in grellen Tüllkostümen vor dem Vorhang. Da wird auditiv geklatscht, was das Zeug hält und dementsprechend verneigt sich auch das Ensemble. Das Stück nimmt ein Ende vorweg, das es sich wünscht – schier nicht enden wollende Beifallsbekundungen. Die bunten Kostüme von Carolin Mittler, von der auch das Bühnenbild stammt, machen deutlich: Was hier zu sehen ist, ist pures Spiel. Egal, was auch immer gesagt wird, man sollte nicht vergessen, dass das Ensemble Theater spielt und nicht darauf vertrauen, dass das, was es sagt, auch seine Meinung ist.

Die Autorin verlangt nicht nur von den Schauspielerinnen und Schauspielern viel ab, schließlich sprechen diese auf lange Strecken über sich und über die anderen und nicht so, wie sie es gewohnt sind, in der direkten Rede. Auch die Regie ist in einem solchen Fall besonders gefordert. Schirin Khodadadian verleiht den Texten, die sich in drei unterschiedliche Gruppen einteilen lassen, mit ihrer Inszenierung Halt.

Geht es zuallererst um die Menschen auf der Bühne, die Schauspielerinnen und Schauspieler, schlüpft er danach die Rolle und Gedanken des Publikums, um schließlich mit einem dystopischen Szenario die Zukunft des Theaters zu beleuchten.

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Ensemble „Bühnenbeschimpfung“ (Foto: Lex Karelly)

Bei den eigenen Erfahrungen im Theaterbetrieb, die vom Ensemble erzählt werden, brilliert Anke Stedingk, der man auch später alles, was sie sagt, förmlich aus der Hand fressen möchte. Ihr komödiantisches Talent, ihre offene, konfrontative, zugleich aber selbstironische Art ist einfach umwerfend. Thomas Kramer hatte zuvor schon seinen großen Auftritt ganz in der Nachfolge des Film-enfant-terribles Klaus Kinski. Wie Letzterer beim Dreh zu Fitzcarraldo, redete sich Kramer so in Rage, dass seine Kolleginnen vor ihm zurückwichen, um ihm nicht in die Quere zu kommen. Lautstark ließ er seiner Wut auf die herrschenden Verhältnisse, letztlich aber auf sein eigenes Ja-Sager-Gen, freien Lauf.

Mit der Publikumssicht, seiner Erwartungshaltung, seinen Vorbereitungen und Gedanken während der Vorführung, aber auch seiner mehrfachen Frage, wie lange das Stück denn noch dauern würde, setzt Sivan Ben Yishai einen Gegenpart zu den Erfahrungen des Ensembles. Dass die einen nichts sind ohne die anderen und umgekehrt, wird dabei klar. Nicht aber, welchen Sinn es hat, ins Theater zu gehen. Und tatsächlich schuf die Regisseurin ein Szenario, in welchem sich drei Personen dazu durchringen, die Vorführung noch vor ihrem Ende zu verlassen. Es ist eine der wunderbarsten, da humorvollsten Szenen, die das Drama zu bieten hat. Wie Anke Stedingk ihre Kollegin Anna Rausch auf ihrem Rücken trägt und Sarah Sophia Meyer vor ihr gebückt die imaginierte Sitzreihe verlässt, führt zu einer allgemeinen Erheiterung.

Kurz zuvor mussten die Schauspielerinnen, umgezogen und somit nicht mehr gut erkennbar, verteilt im Saal von ihren Plätzen wieder zurück auf die Bühne. Dies veranlasste eine ältere Dame, die dafür etwas zur Seite rücken musste, zum rüden Kommentar, dass sie „mit so einem Schas“ nicht gerechnet hätte. Schließlich bezahlte sie auch noch „richtige“ Theaterkarten. Und tatsächlich beschäftigt sich der Text ein wenig später auch mit dem Phänomen der Erwartungshaltung der Besuchenden, die ja gerne eine Geschichte erzählt bekommen würden. Etwas von einem anderen über etwas anderes. Das postdramatische Theater, sosehr die Jugend damit auch schon aufgewachsen ist, hat für manch andere wiederum eine geringere Wertigkeit. Mithilfe von Leon Jereb an der E-Gitarre und Kaya Meller an der Trompete sowie Luiza Monteiro, verwandelt sich die Szenerie auf und vor der Bühne in einen großen, professionellen Chor, der das kollektive Singen und Hören zu jenem Erlebnis gestaltet, das seine Wirkung beim Publikum niemals verfehlt. Die Gemeinsamkeit der musikalischen Darbietung, kräftig unterstützt vom Statisten-Pool des Schauspielhauses, fährt in die Gemüter und wird dementsprechend beklatscht.

Es ist die Mischung aus einer abwechslungsreichen Regie und einem ebensolchen Text, der gar nichts außen vor lässt, was das Theater selbst betrifft, welche Wirkung zeigt. Eine Wirkung, die mit einem Langzeitgen ausgestattet ist. Vieles, was man an diesem Abend hört und sieht, hallt nach. Vor allem immer wieder die Frage nach dem Warum und die Feststellung, dass Theater heutzutage nichts mehr bewirken könne. Zugleich aber blitzt immer wieder jene Lust am Spiel durch, welche dieses Medium über die Jahrtausende am Leben hielt. Im Epilog, in welchem die Autorin das Theater selbst zu Wort kommen lässt, erzählt dieses aus einer Zukunftsperspektive, in welcher die Menschen um ihr Überleben auf dem Planeten kämpfen. Lange schon ist darin das theatrale Gebäude nutzlos geworden und verfällt aufgrund der unwirtlichen Witterungen letztlich komplett. Die Natur hat sich seiner angenommen und verleibt es sich kompromisslos ein. Hier zeigt die Bühnenbildnerin, wie schon ihre Kollegen und Kolleginnen bei den Aufführungen der Saison zuvor, was auf und mit der Bühne des Schauspielhauses alles möglich ist. Die hochkant aufgestellten ersten Sitzreihen verlieren sich im Bühnendunkel, aus dem dichter Rauch emporsteigt. Heimelig fühlt sich anders an und tatsächlich erfährt man, dass von diesem Theater einst nur mehr Rudimente vorhanden sein werden. Der Zustand, in welchem sich das Theater derzeit befindet, darf zusammengefasst als Anfang vom Ende beschrieben werden. Gäbe es nicht doch einen Hoffnungsschimmer.

Trost spendet letztlich ein Text über den immer wieder kehrenden Aufbau eines Shinto-Schreines, welcher als Metapher für das Überleben und Weiterleben des Theaters gelesen werden darf. Dass sich auch die Bühnenarbeiter und -arbeiterinnen einen Applaus abholen dürfen, ist nicht nur sinnvoll, sondern auch mehr als gerechtfertigt. Ein Abend zum Nach-, aber auch Vorausdenken, nicht nur über die Zukunft des Theaters.

Nonsens auf hohem Niveau tut richtig gut

Nonsens auf hohem Niveau tut richtig gut

Es ist nicht zu glauben, aber es stimmt doch. In 90 Minuten kann man im Staccato hintereinander folgende Geschichten erzählt bekommen:

Von einer Familie kurz vor Weihnachten, für die geheime Geschenke das Wichtigste sind und eine Missachtung der Tradition fatale Folgen haben könnte.
Von einer Kreuzfahrt, die ein Mann für den nächsten Tag buchen will, da er vermeintlich nicht mehr lange zu leben hat.
Von einer Begegnung auf dem Friedhof, bei welcher ein Toter wegen seiner Armbanduhr ausgegraben werden muss.
Von einem Friseurbesuch mit humanoiden Objekten.
Von einem unglücklichen Sturz vom Rollstuhl – in unseren und in Shakespeares Zeiten.
Von der Beendigung eines Dienstverhältnisses, in welchem sich die Rollen zwischen Chef und Angestelltem beständig verändern.
Vom Besuch von Außerirdischen, die sich in unserer Welt nicht zurechtfinden.
Von einem Erben, der nichts erbt und diese Demütigung kunstreich besingt.
Von einem Mann im Gaza-Streifen und einer Australierin, die ihn mit mithilfe eines U-Bootes und einer Kuh zu retten versucht.
Von einer Partie Glasergesellen, die beim Warenhaus Kastner in der Grazer Innenstadt kaputte Auslagenscheiben reparieren sollen.
Von einer Kindergärtnerin und einem Wirtschaftsanwalt, die weder auf dem Eislaufplatz noch im Museum ein Paar werden.
Vom kranken Nietzsche, der trotz Krankenhausaufenthalt nicht genesen kann.

Wer glaubt, so etwas ginge sich nie und nimmer aus, der sei eines Besseren belehrt. Mit einem Besuch im Orpheum, vorzugsweise an Montagen, kann man sich selbst ein Bild davon machen, wie denn das tatsächlich geht.

Dort arbeitet an (fast) allen Montagen ein Teil des TIB-Ensembles, um das Publikum mit seiner Improshow „Montag“ zu unterhalten. In Zeiten wie diesen, bei dem einem selten zum Lachen zumute ist, ist diese Theaterperformance ein wahres Vademecum. Eineinhalb Stunden lang kann man sich komplett vom Alltag ausklinken und staunen, wie es das Ensemble schafft, aufgrund von Zurufen des Publikums immer wieder neue Situationen darzustellen und aus ihnen komplette Geschichten zu bauen. Wer am jeweiligen Tag auf der Bühne stehen wird, weiß man zuvor nicht. Die Schauspielerinnen und Schauspieler wechseln ständig, was den Vorteil hat, dass das Publikum immer wieder andere Besetzungs-Kombinationen erleben kann.

Es macht großen Spaß zuzusehen, in welcher Geschwindigkeit und mit welch sprachlichem Witz Situationen erfunden und umgesetzt werden, sich im Handumdrehen aber auch wieder verändern können. Wenn Lorenz Kabas mimt, dass sein linkes Auge von einem Schlittschuhunfall Schaden davongetragen hat, aber beteuert, dass das nicht schlimm sei, denn er wäre ja ohnehin gebürtiger Rechtsäuger und würde ab nun sowieso „mehr im Profil“ arbeiten, damit man die Entstellung nicht gleich sehen könne, darf man sich mehr als nur auf die Schenkel klopfen.
Jacob Baningans Verwandlungen in museale Skulpturen oder seine musikalische Interpretation einer verlorenen Erbschaft sind nicht nur vergnüglich, sondern rufen Staunen ob der Ideenvielfalt hervor, die bei ihm schier grenzenlos zu sein scheint.

Und wenn Monika Klengel eine tollpatschige Eisläuferin imitiert, nimmt man ihr das genauso ab wie die Rolle eines Arztes in jener Irrenanstalt, in der Nietzsche mit dem Bildnis seiner Mutter konfrontiert wird und völlig ausrastet. Mit dem Hinweis, dass diese Behandlungsmethode brandneu sei, eigentlich „noch gar nicht erfunden“, beweist Klengel zugleich psychologisches Wissen, das wie auf Knopfdruck von ihrem Kollegen Jacob weiter kommentiert wird.

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Improshow „Montag“ (Foto: Johannes Gellner)

Die gedanklichen Ping-Pong-Spiele und die schmerzfrei umgesetzte, körperliche Inszenierung ergänzen sich zu einem höchst amüsanten Geschehen, das absoluten Sucht-Charakter hat.

Wer noch auf der Suche nach Weihnachtsgeschenken ist – Karten für die Improshow des ‚Theater im Bahnhof‘ sind bei Jung und Alt gleichermaßen sicher willkommen!

Mit wem redest du da?

Mit wem redest du da?

Unter der Regie von Ulrike Arnold wird gleich in den ersten Augenblicken klar, dass auch in unseren Tagen dieses Phänomen so ist, wie es immer war. Da gibt es auf der einen Seite die Kellner, die mit Tabletts, die mit Aperol-Gläsern bestückt sind, förmlich um ihr Leben rennen, bis ihnen die Luft wegbleibt. Dies allerdings mit so witzig gezeichneten Figuren, dass man dabei herzlich lachen kann. Auf der anderen Seite rudert die reiche Gesellschaft wortlos mit den Armen kreisend über die Bühne, so, als wäre sie nicht mehr von dieser Welt. Es mag wohl an der an Slapstick-Momenten reichen und teilweise outrierten Zeichnung der Figuren liegen, dass die Funken im Laufe des Abends eher spärlich sprühen, denn ein Gesamtfeuerwerk abgeben.

Ständig präsent sind Clemens Rynkowski und Jan Samson Kirzanic, die beiden Musiker, welche die Handlung mit einem zeitgeistigen Sound live untermalen. Dabei wechseln sie von Stage-Pianos und Synthesizern, E-Gitarren und einer großen Tuba auch hin zu einem Pianino und bieten eine große akustische Bandbreite.

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„Der Zerrissene“ von Nestroy im Schauspielhaus Graz (Foto: Lex Karelly)

Das erste Bühnenprospekt, ein gemalter Himmel mit vielen Wolken, erinnert an Nestroys Zeiten, in welchen das Bühnenbild zum großen Teil aus gemalten Tableaus bestand. Das weiße Sofa und das weiße Sitzkissen stammen aber aus einem heutigen Möbelhaus. Arnold belässt den Text zum größten Teil im Nestroy`schen Diktum und ergänzt ihn stellenweise mit Worten aus unserem Sprachgebrauch. In der „Gastronomie“ fehlen „Praktikanten“, die Armen sind „Unterschicht“ und der verhinderte Modegeschäft-Besitzer, von seiner ursprünglichen Profession her aber Schmied, Gluthammer, kam bei der Kundschaft nicht gut an, da es alles in „metallic blue“ anfertigen ließ.

Zugleich aber animierte die Regisseurin die Grazer Autorin Ulrike Haidacher gemeinsam mit dem Ensemble anstelle der Couplets Songs zu verfassen, die sich mit den verschiedenen Rollen des Stücks auf einer Meta-Ebene befassen. Herr von Lips darf sich darin seine eigene Zerrissenheit mit „ich bin halt so“ zementieren, Kathi macht klar, dass sie nur so brav sei, weil Nestroy ihre Rolle so geschrieben habe. Frau von Schley beklagt, dass sie nach ihrem Auftritt in der Posse nicht mehr vorkommt, Herr Krautkopf fühlt sich in seiner unerwünschten Freunderlwirtschaft unwohl. Musikalisch geht davon nichts wirklich leicht ins Ohr, was nicht dazu angetan ist, auf dem Nachhauseweg nachgesungen zu werden. Vielmehr steuern die Tracks eine gehörige Portion Wehmut bei, die dem Gesamtfeeling einen neuen Dreh verpassen.

Ein brillantes Ensemble gibt 100 Prozent und macht den Abend sehenswert, der mit zweierlei Brillen gesehen werden kann. Einmal mit jener, mit welchen junge Menschen das Verwirrspiel um Arm und Reich, Tod und Leben, Freundschaft und Speichelleckerei sehen. Das rasante Treiben mit seinen vielen humorigen Szenen, seien es die Raufereien zwischen Herrn von Lips und Gluthammer oder Krautkopf und dem vermeintlichen Steffl, oder die wirksamen, weil unerwartbaren Auf- und Abgänge, kommen beim jungen Publikum extrem gut an. Mit raschen Videosequenzen und -schnitten aufgewachsen, in welchen in wenigen Sekunden der Witz überspringen muss, erfreuen sie sich daran, live an solchen Aktionen teilhaben zu können.

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„Der Zerrissene“ von Nestroy im Schauspielhaus Graz (Foto: Lex Karelly)

Die Lachnerven jener Menschen hingegen, die schon lange ins Theater gehen und Nestroy zum Teil in vielen Inszenierungen gesehen haben, werden aufgrund ihrer vordisponierten Brille nicht so stark attackiert. Zu groß sind für sie zum Teil die charakterlichen Übertreibungen angelegt, zu weit weg die Abstraktion der Hautevolée, als dass starke Identifikationsmomente auftauchen würden.

Željko Marović als sagenhaft reicher Herr von Lips blödelt sich anfangs mit Vampir-Zähnen durch seine Langeweile, erlebt später, vom Schicksal dennoch gebeutelt, mit einer „schiachen Haube“, was es heißt, ein Habenichts zu sein und himmelt letztlich innig seine geliebte Kathi an. Er weiß in allen emotionalen Zuständen den perfekten Ton zu finden und erntet damit viele Sympathien. Kathi – Luisa Schwab – bleibt von Beginn bis zum Schluss bodenständig und hält gekonnt alle um sie herum verrückten Mannsbilder in Schach. Sie agiert wie der unverrückbare Kern einer Zentrifugalkraft, die nur durch sie zusammengehalten wird. Die beiden vermeintlichen Freunde des jungen Millionärs, Stifler – Oliver Chomik – und Wixer – Kaspar Simonischek – ergänzen sich perfekt in ihrer chamäleonhaften Wandelbarkeit zwischen Herren der besseren Gesellschaft und sich angeifernden Rivalen. Franz Solar als Krautkopf beklagt des Öfteren am Klo sitzend seinen schmerzenden Kopf, brüllt, was das Zeug hält, wenn seine Angestellten wieder einmal nicht parieren und schmeichelt vergebens um die Gunst seiner zu Reichtum gekommenen Nichte. Seine Art zu spielen, erinnert am stärksten an jene Nestroy-Darsteller, denen man in herkömmlichen Inszenierungen begegnete, was mit großem Spaß verbunden ist. Grantelnd, mit dem Schicksal hadernd, despotisch und zugleich völlig überfordert zieht er alle Register von Gefühlszuständen, mit denen er gesegnet ist. Sein Freund Gluthammer, Sebastian Schindegger, darf zu Beginn mit einer viele Meter langen Eisenstange waghalsig hantieren und zur allgemeinen Erheiterung beitragen. Zugleich berührt sein Spiel dort, wo aufblitzt, welch romantisches Wesen hinter seiner harten Schale steckt. Olivia Grigolli läuft in ihrem Chanson-Auftritt zu wahrer Größe auf und zeigt darin eine ganz andere Seite als jene von Madame Schleyer, die sich schon kurz vor der Verehelichung mit Lips sah. Herrlich jene Szene, in welcher Clemens Maria Riegler als geschniegelter und gestriegelter Justitiarius mit Nerd-Charakter den Tischhaustisch mit Ketchup- und Majonäse-Flaschen, Salzstreuern, Blumenvasen und Bierflaschen ordnet. (Kostüme Anna Lechner)

„Mit wem redest du da?“, diese Frage wird immer wieder von verschiedenen Personen an jene gestellt, die sich zum Publikum gewandt haben, um dieses in eigene Gedanken oder auch den Fortgang des Geschehens einzuweihen. Damit stellt die Regisseurin jene Bestrebungen bloß, die in vielen Inszenierungen fröhliche Urständ feiern und oft nicht wirklich ihr Ziel erreichen: das Publikum einzubeziehen. Mit dieser häufig gestellten Frage wird aber auch augenzwinkernd die Idee transportiert, dass das Geschehen nicht im Theater stattfindet; ein offensichtlicher Trugschluss, der ob seines Witzes gekonnt bis zum Schluss seine Lacher nicht verfehlt.

Sehr gut funktionieren die räumlichen Umbauten. (Bühne Franziska Bornkamm) Eine großzügige Umgebung mit Blick in den Himmel, verwandelt sich gekonnt durch Emporschieben eines neuen Raumes in eine vertäfelte, ländliche Wirtshausstube. Die Szene in den unterirdischen Gängen wiederum gestaltet sich genau gegenteilig zur allgemeinen Erwartung und erregt dadurch allgemeine Heiterkeit. Ein kleines Kabüffchen, in dem acht Menschen nur dicht an dicht Platzfinden, wird zur Nestroy’schen Possen-Metapher. So wie alle Beteiligten sich zum Schluss zusammengepfercht in der kleinen, schwarzen Box befinden, so intensiv muss letztlich auch die Handlung komprimiert werden, um zu einem Schluss zu kommen. Egal, wie viel an Charakter- oder weiterer Handlungsverständlichkeit dabei auch auf der Strecke bleibt. Dieser Blick auf den charakteristischen Schreibstil von Nestroy, ausgedrückt durch eine extrem verengte Bühnensituation, ist interessant und vergnüglich gleichermaßen und daher sehr gut umgesetzt.

Alles in allem erlebt man am Grazer Schauspielhaus einen Abend, in dem sich neben jeder Menge Spaß auch jene Zerrissenheit finden lässt, die das Theater manches Mal bewusst oder auch unbewusst produziert. Die Beurteilungen werden je nach aufgesetzter Brille unterschiedlich ausfallen.

Mit Beethoven und den Hip-Hoppern im Park

Mit Beethoven und den Hip-Hoppern im Park

Wenn man, wie bei dieser Vorstellung in eine Location geht, die man nicht kennt, ein Stück sieht, das in Österreich das erste Mal aufgeführt wird und auch bisher nicht die Gelegenheit hatte, die Schauspielerin live auf der Bühne zu erleben, dann liegt es fast auf der Hand, dass man überrascht wird. Dass diese Überraschung jedoch rundum so positiv ausfällt, das verblüfft dann doch.

Die Location – das Artists – im selben Haus wie das Volksheim untergebracht, jedoch mit eigenem Eingang und kurioserweise einer anderen Adresse, ist ein Veranstaltungsort mit überaus freundlichen Menschen, die dort werken. Angefangen vom Kartenverkäufer im Vorraum, bis hin zu jenem, der hinter der kleinen Bar steht und sichtbar Freude an Konversationen hat. So banal es klingt, aber allein schon der nette Empfang verbreitet eine angenehme Stimmung. Ein Umstand, den so manch arrivierte Bühne nicht mehr im Fokus hat.

Schramek hat sich, nach einiger Zeit Spielabsenz, ein Stück ausgesucht, das ihr auf den Leib geschrieben scheint. Die sympathische Schauspielerin schlüpft darin in sage und schreibe acht Rollen, inklusive ihrer eigenen als Erzählerin. Im Drama gehört sie einer Damenrunde an, die sich in einer noblen Pariser Altersresidenz zusammengefunden hat. Noch rüstig, unternehmen die vier Freundinnen gemeinsame Ausflüge und treffen sich bei Kuchen und Tee. Kiki, so der Name der Hauptfigur, entdeckt eines Tages am Flohmarkt einen Gipsabdruck von Beethovens Antlitz und ist verwundert. Weder sie noch Zoe, Rachel oder Candie hören Musik, wenn sie das gipserne Antlitz betrachten. Ganz im Gegensatz zu ihrer Jugendzeit, in welcher Beethovens Streichquartette, Klavierkonzerte, Fidelio oder seine Symphonien wie von selbst bei der Betrachtung in ihren inneren Ohren erklangen.

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Andrea Schramek in „Kiki van Beethoven“ (Foto: Hilde Matouschek officinia)

Éric-Emmanuel Schmitt, der Autor der Stückes, erzählt eine Geschichte mit zwei parallelen Handlungssträngen, die sich im Objekt des Gipsportraits verzahnen.

Es ist zum einen die Erzählung über jene seelischen Verwundungen, die man im Laufe seines Lebens erhält, aber gerne vergessen und zuschütten möchte, inklusive der Geschichte eines jungen Mannes, der einen Suizid wählte.

Zum anderen erlebt man mit, wie sich zwischen Kiki und einem jungen Hip-Hopper, den sie in einem Park kennengelernt hat, eine Freundschaft der besonderen Art entwickelt. Eine Freundschaft, mit Nachhaltigkeitscharakter, wie sich herausstellen wird.

Ab einem bestimmten Alter hat man viel erlebt und gesehen und aus den Erfahrungen seine eigenen Schlüsse daraus gezogen. Viele Menschen legen sich dabei eine Art seelische Hornhaut zu, um die psychischen Wunden zuzudecken, die sie erlitten haben. Schmitt konstruiert mit scheinbarer Leichtigkeit Situationen, die dazu angetan sind, die individuellen Wunden der vier Frauen wieder offenzulegen. Als Katalysator und Sichtbarmachung der Wandlungen dient Beethovens Musik, die im Heilungsprozess aller eine wichtige Rolle spielt.

Es sind die berührenden Momente jeder Geschichte, die Schramek so pur über den Bühnenrand bringt, dass man vergisst, dass hier nur eine einzige Frau vor einem steht. Der Besuch in Auschwitz, bei welchem Rachel an der Gedenktafel der Ermordeten einen Teil ihrer Familie entdeckt, gehört dazu. Aber auch die Sehnsucht der heimlichen Postkartenschreiberin Zoe, die erkannt hat, dass ihr in diesem Leben keine reale Liebe glückt. Stattdessen verschickt sie mithilfe ihrer Enkelin Postkarten aus aller Welt an einen Mann, den sie unerkannt bleibend, liebt.

In Kiki selbst bricht die Erinnerung an den Selbstmord ihres Sohnes auf, den sie ihrer Schwiegertochter zuschreibt. Erst als ihr diese einen Brief überreicht und eindringlich bittet, ihn zu lesen, erkennt sie, dass ihre Einschätzung falsch war, sie vielmehr mit der Schuldauslagerung ihre eigene Trauer, Angst und Wut zu unterdrücken versuchte.

Auch wenn die einzelnen Geschichten direkt ins Herz gehen, so verfügt Éric-Emmanuel Schmitt doch über die Fähigkeit, mit subtilem Humor so gegensteuern zu können, dass man keine Taschentücher zücken muss. Dies mag wohl einer der Gründe sein, warum er derzeit zu einem der meistgespielten und meistgelesenen Autoren in Frankreich zählt.

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Andrea Schramek in „Kiki van Beethoven“ (Foto: Peter Wohlfarth)

Die Art und Weise, wie die Schauspielerin die einzelnen Charaktere sichtbar macht, ist beeindruckend. Genauso wie das Timing ihrer Gesten und ihrer Mimik. Jeder Handgriff, jeder einzelne Schritt sitzt perfekt und kommt zum richtigen Zeitpunkt. Aufregung und Wut, Mitleid und Empörung sind nur einige Emotionen, welche sie mit Leichtigkeit sichtbar machen kann. Auch der Wandel zwischen verschiedenen Orten und Zeiten fällt ihr in ihrem one-woman-Auftritt nicht schwer. Alles in allem liefert sie ein schauspielerisches Gesamtpaket ab, das richtig überzeugt. Und vor allem, das Lust auf mehr macht.

Die Auseinandersetzung mit der eigenen Endlichkeit, gepaart mit einem Blick in die Zukunft ergibt ein überaus rundes, dramatisches Konstrukt mit Tiefgang und Humor gleichermaßen. Mit „Kiki van Beethoven“ darf man einen Theaterabend erleben, der zum Lachen, zum Weinen und zum Nachdenken anregt. Und das mit den ureigensten Mitteln, die dem Theater zur Verfügung stehen: einer guten Geschichte und einer ebensolchen Schauspielerin.

Ran ans Publikum, mit mythologischen Gestalten!

Ran ans Publikum, mit mythologischen Gestalten!

Gedacht war die 3-er-Serie als Vorstellungslauf des neuen Ensembles am Schauspielhaus in Graz. „Metamorphosen“, Teil 1 – 3, so wurden die kurzen Stücke betitelt. Gestaltet wurde Teil 1 und 2 unter Mitwirkung des Ensembles selbst sowie der Regisseurin Anna-Elisabeth Frick. Kurzweilige, zum Teil trashige Ausflüge in die Mythologie wurden geboten, über die man sich von einem zum anderen Mal wieder freuen konnte.

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Meta Morphosen Teil 1 – Otiti Engelhardt, Luisa Schwab, Mario Lopatta (Foto Lex Karelly)

Im Gegensatz zu den allgemein bekannten Götter- und Heldensagen gestalteten sich diese Trips modern, mit Heldinnen und Helden, die sich nicht anders benehmen als unsereins das tut. So durfte sich das Publikum in der einen oder anderen mythologischen Gestalt zum Teil selbst wiedererkennen. Ob Vertumnus oder Pomona – der Gott von Obst und Gemüse und die Baum-Nymphe, ob Pan, Echo oder Narziss, Fama, Herkules oder Medusa – sie alle brachten das Publikum zum Staunen und zum Lachen.

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Meta Morphosen Teil 2 – Franz Solar, Luisa Schwab, Oliver Chomik, Dominik Puhl (Foto Lex Karelly)


Der direkte Kontakt mit dem Zuseherinnen und Zusehern wurde von Fama am stärksten gesucht, flüsterte sie doch dem einen oder der anderen ihre angeblich gerade erfahrenen Neuigkeiten ins Ohr. Währenddessen übte sich Herkules im Hochsprung, immer mit dem Hinweis, dass er die nächste Herausforderung auf alle Fälle schaffen würde. Der Angst einflößenden Erscheinung von Medusa, in giftig-gelbem Outfit, mochte man nicht wirklich näherkommen. Hingegen schaffte es die Band im Teil 3 der Metamorphosen mit Leichtigkeit, das Publikum mitzureißen. Da wurde gerappt, was das Zeug hielt und unter der Leitung von Tim Breyvogel im Saal ordentlich musikalisch eingeheizt. Kalliope und Arachne, Phaeton oder Ceres, sowie die Geschichte eines Mädchens, das sich nichts mehr wünschte, als ein Baum zu sein, erhielten eigene Tracks, die sich zum Teil als wahre Ohrwürmer erwiesen.
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Metamorphosen Teil 3 (Marielle Layher, Anna Klimovitskaya, Tim Breyvogel, Luiza Monteiro, Sarah Sophia Meyer) Foto: Lex Karelly


Je kleiner ein Raum, je näher ein Ensemble am Publikum spielen muss, umso stärker muss es präsent sein und das war es tatsächlich. Im Schauraum braucht es von den Sitzplätzen in der ersten Reihe nur einen kleinen Schritt, um sich auf der Bühne zu befinden. Dementsprechend nahe kommen die Schauspielerinnen und Schauspieler auch an die Sitzenden heran. Ob schon zu Beginn, beim Eintreten in den Raum oder bei der anschließenden Ursuppen-Ausspeisung, alle waren bemüht, mit den Zuseherinnen und Zusehern in irgendeiner Art und Weise Kontakt aufzunehmen. Neben all den theateralischen Finessen war es vor allem diese Idee, die einen Nachhaltigkeitscharakter aufweist. Denn wenn ich jemanden aus dem Ensemble näher kenne, dann bin ich selbstverständlich auch bereit, mehrere Stücke anzusehen, in welchen die Person auch mitspielt. So gesehen waren die „Metamorphosen“ auch eine kluge Akquise-Maßnahme.

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