Schlachtgebrüll anstelle von philharmonischen Klängen

Schlachtgebrüll anstelle von philharmonischen Klängen

In Polen ist er ein Säulenheiliger, im deutschsprachigen Raum ist er jedoch mittlerweile fast unbekannt. Slawomir Mrożek, jener Literat, der in den 70-er Jahren gerne mit kurzen Stücken an einem Abend gleichzeitig mit Einaktern von Vaclav Havel im Burgtheater vertreten war.

Anna Maria Krassnigg, künstlerische Leiterin des Festivals, ist dafür bekannt, in ihr Programm gerne vergessene dramatische Perlen einzubauen. So kommt beim diesjährigen Festival, welches das Motto „fragil / fragile“ trägt, Mrożeks Drama „Schlachthof – Wir essen nur Karfiol“ zur österreichischen Erstaufführung. Die Regie führte die in Russland geborene Ira Süssenbach, die 2012 ihr Heimatland aufgrund der politischen Entwicklung verlassen hat, in Wien ansässig wurde und hier die österreichische Staatsbürgerschaft erhielt.

"Schlachthof" wortwiege (Foto: Victoria Nazarova)

„Schlachthof“ wortwiege (Foto: Victoria Nazarova)

Mit einem Spitzen-Ensemble erzählt sie mit außergewöhnlichen Überraschungsmomenten die absurde Geschichte eines jungen Geigers, der unter der Fuchtel seiner Mutter steht, von der er sich trotz einer sich anbahnenden Liebe, nicht befreien kann. Nico Dorigatti, der schon im Vorjahr im Havel-Drama „Audienz“ das Publikum in den Kasematten von Wiener Neustadt rockte, wird seinem Ruf eines jungen Vollblutschauspielers ohne Angst vor akrobatischen Einsätzen, voll und ganz gerecht. Er mimt jenen jungen Mann, der – welch köstliche Idee – anstelle einer Geige eine singende Säge bedient, dessen musikalisches Talent jedoch begrenzt erscheint. Sein Frevel, einem Konterfei von Niccolò Paganini auf einem Notenbuch einen Schnurrbart aufzumalen, führt zu einer unerwarteten Wendung. Es soll nicht die einzige in diesem Stück bleiben.

Roberto Romeo überzeugt gleich in drei unterschiedlichen Rollen, als despotische Mutter, als Schlachter und als Paganini, der kraft seines neuen Schnurrbartes zum Leben erwacht ist. Mithilfe der Kostüme von Elena Kreuzberger verwandelt er sich in Windeseile in die gänzlich verschiedenen Charaktere. Diese Quick-Changes sind verblüffend und für das Publikum unglaublich unterhaltsam.

"Schlachthof" wortwiege (Foto: Victoria Nazarova)

„Schlachthof“ wortwiege (Foto: Victoria Nazarova)

Saskia Klar präsentiert gleich zu Beginn ihr musikalisches Talent mithilfe eines Kazoos, auf dem sie innigst und mehrstrophig Whitney Houstons „I will always love you“ intoniert. (Musik David Lipp) Unter der Maske von Henriette Zwölfer ist sie, welche in diesem Festival auch als Kreusa in „Medea – Alles Gegenwart“ auftritt, nicht wiederzuerkennen. Nachdem der junge Geiger mithilfe Paganinis Geist eine rasante Genie-Verwandlung hinter sich gebracht hat, erhält Mrożeks Farce einen neuen Dreh.

"Schlachthof" wortwiege (Foto: Victoria Nazarova)

„Schlachthof“ wortwiege (Foto: Victoria Nazarova)

Petra Staduan als Direktorin der ortsansässigen Philharmonie, welcher das Talent des Geigers zu Ohren gekommen ist, verpflichtet ihn zu einem Konzert anlässlich des städtischen Jubiläumsjahres in ihren „Gewölben“. Einer Ortsbezeichnung, die höchst passend zum aktuellen Aufführungsort im mittelalterlichen Wehrbau von Wiener Neustadt ist. Staduans Auftritte erinnern stark an jene von Varieté-Conférenciers, eindringlich, präsent und überzeugend mit einer bewussten, höchst outrierten Bühnen-Präsenz. Kaum hat sich der junge Künstler an seine neue Genie-Aura gewöhnt, holt ihn ein aus dem Nichts auftauchender Schlachter wieder auf den Boden der Realitäten zurück. Mit den Sätzen „Töten ist die Hauptsache! Der Schlachthof ist die Hauptsache!“, „Musik kann es geben, oder nicht!“, entzieht er dem seltsamen Genie im Handumdrehen seine Daseinsberechtigung.

So irritiert der Musiker – angesichts dieser unerwarteten Delegitimation seines Berufes – auch ist, so rasch findet sich die Konzertdirektorin in die neuen Gegebenheiten. Im Handumdrehen greift sie die Idee einer neuen, künstlerischen Darbietungsweise auf und begrüßt nun das Publikum mit der Titulierung „sehr verehrte Organismen, hochverehrte Eiweißsynthesen!“ Dass der Mensch unter solchen Gesichtspunkten nicht mehr moralisch agieren kann und keine Ehre und keinen Glauben mehr besitzt, ist für Mrożek logisch. Auch, dass die Kunst „ausgeheilt“ hat und man nur mehr an der Reinigung der Kultur teilnehmen kann.

In Süssenbachs letztem Bild (Bühne Andreas Lungenschmid) sitzt der Geiger mit entblößtem Oberkörper auf einem metallenen Pferd. Sein Erscheinungsbild erinnert nicht von ungefähr an jene Fotos, die den russischen Präsidenten im Jahr 2009 als kraftvollen Reiter in den Social-Media-Kanälen verewigten. Psychologisch schließt sich der Kreis, denn sowohl Geliebte als auch Mutter lassen sich nach vorherigen Rückholversuchen von seiner Macht und Herrschsucht nicht beeindrucken. Vielmehr erniedrigen sie ihn ein letztes Mal mit ihren Ansichten zu seinem Männlichkeitswahn und zu seiner Nicht-Begabung. Dorigattis finaler Abgang erschreckt mehr noch als die letzte Ansage der Konzertdirektorin an das Publikum, die danach fragt, wer denn in ihrem Realitäts-Spiel über Leben und Tod nun wohl der nächste wäre.

Es ist ratsam, sich auf die Absurdität von Mrożeks Text einzulassen, die auch durch unerwartete Bühnenbildwechsel unterstrichen wird und nicht darauf zu pochen, mit logischen Erklärungen der Geschichte Herr zu werden. Geschrieben unter dem Eindruck des kommunistischen Regimes, zeigt der Autor auf, wie rasch sich unterschiedliche Charaktere einer neuen Gesellschaftsordnung unterwerfen, die zwar menschenverachtend ist, aber in der man dennoch unter der Prämisse der Opportunität sein eigenes Fortkommen bewahren kann.

Erstaunlich ist, dass Passagen darin vorkommen, die zeitgeistiger nicht sein könnten und vom Publikum heute anders verstanden werden als noch vor 40 Jahren. Wenn die Direktorin der Philharmonie darüber spricht, dass die verspeisten Tiere aus den Bäuchen des Publikums hörbar werden, dann ist der Gedanke zur Fleisch-Industrie mit der massenhaften Tötung und zur Propagierung von Veganismus und vegetarischem Lebensstil ad hoc assoziiert.

Das Festival „wortwiege“ erfüllt mit dieser Inszenierung abermals sein Versprechen, auf die Arbeit von jungen Regisseurinnen aufmerksam zu machen, die nach ihrer Ausbildung meist nicht in Österreich verbleiben, sondern rasch ins Ausland verpflichtet werden. Allein das sollte Anlass genug sein, sich alljährlich aufzumachen an jenen Ort, in welchem in alten Gemäuern der frischeste Theaterwind weht, den man sich in Österreich nur vorstellen kann.

Das fetzt!

Das fetzt!

„Keeping up with the Penthesileas“ von Thomas Köck und Mateja Meded bringt die Kardashians nach Wien. Oder sind es Penthesilea, die Königin der Amazonen und ihr Gefolge?

Auf die Idee, den antiken Frauenmythos mit den millionenschweren Influencerinnen zu vergleichen, muss man erst kommen. Dafür braucht es literarisches sowie historisches Wissen und die Portion an Kühnheit, die letztlich jene auszeichnet, die gewinnen.

Das 7-köpfige Ensemble darf in der rasanten, atemberaubenden Inszenierung nicht nur zeigen, was es schauspielerisch draufhat, sondern auch, wie es um seine Kondition bestellt ist. Selina Nowak aka. Zelina Power, bildende Künstlerin und Wrestlerin, stand der Regisseurin Anna Marboe tatkräftig zur Seite, um die sportlichen Herausforderungen im Ring zu meistern, welchen der Kardashian-Clan ausgesetzt ist. (Ausstattung Mirjam Stängl)

KEEPING UP WITH THE PENTHESILEAS (Foto: Bettina Frenzel)

KEEPING UP WITH THE PENTHESILEAS (Foto: Bettina Frenzel)

Martin Hammer agiert als einpeitschender Wrestling-Host, der sich alsbald aufgrund der geballten Womanpower selbst auf höchst gefährlichem Terrain wiederfindet. Zu tun hat er es mit Pilar Borower, Nina Fog, Hannah Joe Huberty, Isabella Knöll und Christoph Radakovits. Sie performen in verschiedenen Rollen – einmal als Kardashians, dann wieder als feministischer Chor, der außerhalb des Ringes Kim, dargestellt von Edwarda Gurrolla, mit peinlichen Fragen zu Leibe zu rücken versucht. Denn eines ist klar, so wie es einst war, dass dem Matriarchat das Patriarchat folgte, so spielt es sich in unserer Zeit nicht ab.

Vielmehr erfährt man, wie sehr sich Mutter und Kardashian-Töchter ein männliches Wirtschaftssystem angeeignet haben, dass sich so manche gestandene Feministin mit Schrecken abwendet. Oder aber auch vor Neid erblasst.
„Von nix kommt nix“, sagt man in Österreich, wenn man darauf verweisen möchte, dass ein erreichter Erfolg nicht über Nacht auftritt, sondern dahinter meist harte Arbeit steckt. Dass dies auch bei den Kardashians so war, wird aus vielen verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet.

Es ist die extrem körperbezogene Theaterarbeit, welche diese Inszenierung besonders macht und von anderen abhebt. Unterbrochen wird sie – auch zum Luftholen des Ensembles und des Publikums – von feinen musikalischen Nummern. Ein Solo von Gurrolla, in welchem sie den Hit „Aye Mamá“ von Rigoberta Bandini singt, oder aber auch ein chorischer Einsprengsel, feinstens intoniert und arrangiert, beruhigen die Nerven aller Beteiligten, die teilweise blank liegen. Sie täuschen aber nicht darüber hinweg, dass es innerhalb der Familie nur um eines geht: Wer verdient wie viel, womit und wodurch – egal auf wessen Kosten.

Da stellt sich zwangsläufig die Frage: „Who did the work?“, wie es folgerichtig der Suffragetten-Chor tut, der darauf aufmerksam macht, dass ohne die mühsame und über ein Jahrhundert lange kämpferische Arbeit der Frauen ein Leben wie das der Kardashians nicht möglich wäre. Aber müssen sie deswegen dankbar sein? Oder machen sie das einzig Richtige – sich dessen zu bedienen, was die männlich dominierte Wirtschaftsgesellschaft schon seit Jahrtausenden tut?

Die Liebes-Entbehrungen, die schweißtreibenden Work-outs, die täglich zu absolvieren sind, der unbeugsame Wunsch, die Millionen, die man auf dem Konto hat, nicht Männern zu verdanken, sondern dem eigenen Tun, ist dies tatsächlich verwerflich?

Der Text, staccato vorgetragen, bietet Stoff für mehr als eine einzige Inszenierung. Themen wie „Frauen in der Werbung“, „Wie bewältige ich einen Shitstorm?“, Selbstermächtigung auf Kosten anderer, männlich dominierte Geschichtsschreibung – all das und noch mehr, kommt ebenfalls zur Sprache. Dass einem dabei nicht ein reflexiver Overload heimsucht, ist der klugen Regiearbeit zu verdanken, die mit einer großen Portion Witz in der Figurenführung arbeitet. Marboe weiß, dass auch die bittersten Pillen mit Humor gut schmecken können.

„Keeping up with the Penthesileas“ – eine Anspielung auf das Kardashian TV-Format, mit welchem sie globale Berühmtheit erlangten, ist ein Ritt zwischen gestern und heute, eine Abrechnung mit unrechtmäßiger Aneignung genauso wie mit Vertuschung und Täuschung. Es ist eine Theaterproduktion, die fetzt, unterhält und zugleich zum Nach-Denken, zum Nach-Lesen oder Nach-Schauen anregt. Mission completed.

Es ist eine schlechte Luft in der Welt

Es ist eine schlechte Luft in der Welt

Lazars Roman „Der Nebel von Dybern“ wird derzeit in einer Bühnenfassung unter der Regie von Johanna Wehner am Schauspielhaus in Graz gezeigt. Dem Verleger Albert C. Eibel ist es zu verdanken, dass mit seinen Neuauflagen sowohl die Theaterstücke als auch das restliche Werk der jüdischen Autorin wieder zugängig werden. Auf der Info-Seite über Maria Lazar der Buchhandlung Thalia, ist weiteres Interessantes zu diesem Thema nachzulesen.

Die Grazer Produktion, die zu Saisonbeginn als österreichische Erstaufführung angekündigt war, musste jedoch diese Meriten im Herbst an das Theater Nestroyhof Hamakom abgeben. Kam die Inszenierung in Wien mit nur drei Personen aus, sind in Graz neun auf der Bühne. Unter der Neuintendanz von Andrea Vilter wurde man bei den großen Produktionen im Haus bisher noch immer mit den Bühnenbildern positiv überrascht. So auch dieses Mal. Dem Ruf des Theaters an sich tut dies gut, gerade in Zeiten von schwierigeren Abo-Verkäufen, ist doch ein interessantes Bühnenbild ein nicht unwesentlicher Baustein zu einer gelungenen Produktion und lockt Publikum an.

Der Nebel von Dybern Schauspielhaus Graz (Foto: Lex Karelly)

Der Nebel von Dybern Schauspielhaus Graz (Foto: Lex Karelly)

Benjamin Schönecker ließ für diese Inszenierung einen schmucklos-zweckmäßigen Industriebau aus den 70-ern des vorigen Jahrhunderts aufbauen. Der verglaste Eingangsbereich zu einer Chemiefabrik dient für Auf- und Abgänge. Am linken, vorderen Bühnenrand wurde eine kleine, mit Natursteinen gemauerte Sitzgelegenheit montiert. Unter bunten Glühlämpchen, die den Eingang zur „Gastwirtschaft am Rand“ markiert, treffen sich die alte, blinde Kathrine, sowie Barbara, die von Josef ein Kind erwartet und Jan. Durch diese Szenerie werden zugleich auch die Gegenpole des Dramas sichtbar. Die rurale Kuschelromantik des Gasthauses, in der sich das arbeitende Volk trifft, steht in direktem Gegensatz zum harten Business der Chemiefabrik mit ebensolchen Akteuren: Diese Dualität findet sich auch in den Figuren von Lazar wieder. Visualisiert wird dies zusätzlich durch eine raffinierte Farbgebung der Kostüme von Miriam Draxl.

Die Geschichte um den todbringenden Austritt von Giftgas, die unheimliche, aktuelle Bezüge aufweist, kann als Psychodrama gelesen werden, oder aber auch als Mahnung, mit unserer Welt pfleglicher umzugehen. Johanna Wehner konzentriert sich stark auf die Figurenführung von Maria Lazar und zeigt auf, wie verschieden die einzelnen Personen auf die Katastrophe reagieren.

Der Nebel von Dybern Schauspielhaus Graz (Foto: Lex Karelly)

Der Nebel von Dybern Schauspielhaus Graz (Foto: Lex Karelly)

Anke Stedingk als alte Kathrine, die Kassandra-gleich das Übel, das über sie hereinbricht, nicht nur benennen, sondern auch riechen kann, spielt sich großartig direkt vom Bühnenrand aus in die Sympathien des Publikums. Sie ist es, die von Beginn an wittert, was kommen wird und mit ihrer herben und schroffen Art männerabwehrend der schwangeren Barbara eine echte Stütze bietet. Ihr Stehsatz „Es ist eine schlechte Luft in der Welt“ bezieht sich nicht nur auf die Katastrophe, die sich durch den Einsatz von Giftgas im 1. Weltkrieg ereignete und auf die sich Maria Lazar indirekt in ihrem Roman bezog. Vielmehr liegt eine Umdeutung auf heutige Zustände mehr als auf der Hand. Marielle Layher verkörpert als die junge Wirtin Barbara eine starke Frau mit einem unbeugsamen Willen, dem niemand entgegentreten kann. Die Vorstellung, dass ihr Kind einmal nicht auf grünen Wiesen in einer glasklaren Luft aufwachsen wird können, führt letztlich zum familiären Drama. Ihr Mann Josef – Mario Lopatta – ist jemand, der am liebsten vor allen Unbillen die Augen verschließt und das Schlimme wegschiebt, solange es nur möglich ist. Sein Gegenspieler Jan, Thomas Kramer, durchschaut am schnellsten von allen die Vertuschungsmechaniken der Verantwortlichen der Chemiefabrik, aus der das Giftgas auf unerklärliche Weise in die freie Natur gelangte. Seine aufbrausende Art, aber vor allem sein Nicht-locker-Lassen, wenn es darum geht, die Schuldigen aufzudecken, werden ihm zum Verhängnis.

Tim Breyvogel als Generaldirektor und Simon Kirsch als Alexis, stolzer „Leiter der Abteilung A“, personifizieren beide nicht nur das schlechte Gewissen von Unglücksverursachern. Sie versuchen vielmehr mit aller Macht zu vertuschen, dass der Nebel von Dybern kein Naturphänomen ist, sondern eine hausgemachte Umweltkatastrophe, die viele Menschen das Leben kostet. Ihrem fahrigen und hypernervösen Verhalten steht jenes von Dr. Thomsen – Sebastian Schindegger – diametral gegenüber. Er ist der Erste, der verstanden hat, dass eine toxische Substanz das Leben bedroht, durch seine Lethargie und Obrigkeitshörigkeit ist er aber nicht in der Lage, zeitgerecht zu warnen und das Gebiet evakuieren zu lassen.

Mit Clarisse – gespielt von Otiti Engelhardt – zeichnete Lazar eine höchst moderne Frauenfigur. Die Gattin des Fabrikdirektors und junge Mutter verzweifelt an ihrer Untätigkeit und kann sich bei ihrem Mann kein Gehör verschaffen. Sie hätte das Zeug zu einem wertvollen Mitglied im Krisenstab, wird aber, als „Kindchen“ tituliert, nicht ernst genommen. Dass sie, genauso wie Kathrine, einen Namen trägt, der Bezüge zu einer anderen Frauen herstellt, ist kein Zufall.  Die Frau von Fritz Haber, dem „Vater des Giftgases“ und späteren Nobelpreisträgers, hieß Clara. Sie nahm sich wenige Tage nach dem Einsatz von Chlorgas in Ypern, der 1200 Soldaten tötete, selbst das Leben.

Der Charakter der Heilsarmeeschwester, welche die geflüchtete Bevölkerung von Dybern in einem unterirdischen Kino bewachen soll, ist nicht wirklich durchschaubar. Anna Klimovitskaya spielt darin eine Frau, die sich streng an ihre Vorgaben hält, weiß aber wesentlich mehr, als es anfänglich den Anschein hat. Erst kurz vor Ende lässt sie mit einer Ansage aufhorchen, die deutlich macht, wer der eigentliche Verursacher der Katastrophe war. Eine dramaturgische Wendung, die zeitgenössischen Krimis in nichts nachsteht und deshalb an dieser Stelle auch nicht preisgegeben werden soll.

Mit einer musikalischen Untermalung von Vera Mohns, sowie einer raffinierten Lichtführung von Thomas Trummer, in welcher die bedrohlichen Nebelschwaden sichtbar werden, zieht die Regie weitere Register, die zum Gelingen des Abends beitragen.

Es ist nicht nur die Aktualität des Stoffes, die beeindruckt. Auch, dass die Geschichte nachhaltiges Denken beim Publikum hervorruft, zeigt, wie gut die Produktion gelungen ist. Die Charaktere stehen, höchst klug nachgezeichnet, für viele, die im Real-life in lebensbedrohlichen Situationen, in welchen sie Verantwortung übernehmen müssten, dies aus Feigheit jedoch nicht tun. Die Mitläufer, die Nicht-Wissen-Wollenden, die Hardliner, die Vertuscher, sie alle finden sich in jeder Gesellschaft und bilden ihren überwiegenden Teil. Jene, die das Unheil schon voraussehen und es aufdecken wollen, waren zu jeder Zeit und sind auch heute in der Minderheit. Ganz abgesehen von den vielen Namenlosen, die Opfer waren, sind und noch sein werden.

„Der Nebel von Dybern“ darf als weiterer gelungener Saison-Baustein am Schauspielhaus in Graz angesehen werden und macht zugleich auch neugierig, mehr von Maria Lazar zu lesen und auch zu sehen.

So könnte es sein

So könnte es sein

Die aktuelle Produktion „HILDE so oder so, sie und ich“ im TIB in Graz wartet sowohl mit Liedern von Hildegard Knef als auch einer Brustkrebs-Geschichte auf. „Die Knef“, wie sie in den deutschsprachigen Ländern genannt wurde, war selbst daran erkrankt und widmete diesem Kapitel ihres Lebens auch ein Buch, das Aufsehen erregte. „Das Urteil“ – so der Titel – brach mit dem Tabu, über die Erkrankung nicht zu sprechen.

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Foto: Johannes Gellner


In der Inszenierung unter der Regie von Ed. Hauswirth wechseln sich die Erzählung einer Frau, die über ihre Brustkrebserkrankung berichtet, mit Chansons der Knef ab. Martina Zinner versucht nicht, das unvergleichliche, dunkle Timbre der deutschen Sängerin zu imitieren. Auch werden die Songs elektronisch modern unterlegt (Thomas Pfeffer), sodass an ihnen nichts Angestaubtes mehr zu erkennen ist.

Ihre großen Hits wie „Von nun an ging’s bergab“, „So oder so ist das Leben“ oder „Für mich soll’s rote Rosen regnen“ präsentiert Zinner ohne Pathos, dafür aber mit einer Zartheit, die sehr berührt. Beständig kippt der Eindruck, an einer Krankengeschichte teilzuhaben, um sich im nächsten Moment doch wieder darin zu finden. Erzählt Zinner von sich, von der Knef oder eine Geschichte, wie sie alljährlich tausende Frauen auf dieser Welt erleben? Es ist dieser Drahtseilakt zwischen Illusion und Realität, der über den ganzen Abend hin aufrechterhalten wird und diesen spannend macht. Aber auch viele Infos kommen ohne Besserwissergetue über die Rampe. Wenn Zinner über ihre Erfahrungen mit unterschiedlichen Ärztinnen und Ärzten berichtet, weckt dies sicher in der einen oder dem anderen unliebsame Erinnerungen an eigene Diagnosegespräche und Verständnis für die Protagonistin.


Ein Bühnenbild mit weißen Stores mit floralem Muster, wie er in den 70ern- und 80ern des vorigen Jahrhunderts modern war, ein kleines, mit weißem Plüsch überzogenes Podest, das ein skurriles Eigenleben führt, und ökonomische, aber wirksame Kostümwechsel, sowie eine kleine Hausbar, aus der sich Zinner, oder war es die Knef?, Cognac einschenkt, reichen völlig um zwischen unterschiedlichen Raum-Zeit-Gebilden mühelos zu switchen. (Ausstattung Heike Barnard)

„Ein rücksichtsloser Abend, so wie es mir gefällt“ sollte es für die Schauspielerin werden. Er wurde nicht rücksichtslos, sondern ganz im Gegenteil: empathisch, zart, witzig, mit einigen dunklen Einfärbungen, die das Thema mit sich bringt. Es wurde ein Abend, der unterhält, der nachdenklich macht, der aber auch herzlich zum Lachen anregt. Die Inszenierung mit der höchst authentischen Martina Zinner schafft es, ein Gefühl dafür zu vermitteln, wie es „sein könnte“ an Brustkrebs zu erkranken, ohne in mitleidtriefendes Gehabe zu verfallen. Textbeiträge von Pia Hierzegger dürften hier maßgeblich daran beteiligt gewesen sein. Die Premiere wurde zu Recht intensiv akklamiert.

Ein Pseudo-Feminismus, der keiner ist

Ein Pseudo-Feminismus, der keiner ist

Um einen Text wirklich beurteilen zu können, sollte man ihn gelesen haben. Wenn man eine Theaterkritik schreibt, dann umso mehr. „Die Party – eine Einkreisung“ von Ulrike Haidacher, wird im Schauspielhaus Graz als Ein-Personen-Stück im Schauraum gezeigt. 2022 erlangte der gleichnamige Roman der Autorin literarische Adelung, wurde Haidacher für das Werk doch mit dem „Peter-Rosegger-Literatur-Preis“ ausgezeichnet.

Der Roman oszilliert stark zwischen Realität und Fiktion, beginnt mit surrealen Situationen und erinnert alsbald an die schrecklichen Keller-Lebensumstände, die einige Kinder und Erwachsene in Österreich im vergangenen Jahrhundert durch perverse männliche Kreaturen erleiden mussten. Kampusch und Fritzl sind Namen, die auch heute noch im kollektiven Gedächtnis verankert sind.

Marlene Hauser in "Die Party" im Schauspielhaus Graz (Foto: Lex Karelly)

Marlene Hauser in „Die Party  – eine Einkreisung“ im Schauspielhaus Graz (Foto: Lex Karelly)

In Haidachers Roman hält eine junge, gebildete Frau dem Wahnsinn einer Partygesellschaft entgegen, die sich dadurch auszeichnet, dass die feministischen Ressentiments der bourgeoisen Gemeinschaft im Laufe des Events immer stärker zum Vorschein treten. Verwoben wird die Erzählung über den Gastgeber, einen renommierten Wiener Regisseur und seine Gästeschar, mit den Erinnerungen der jungen Frau an ihre Kindheit und ihre Schwester. Haidacher arbeitete plausibel den Schwesternhass heraus, der auf beiden Seiten besteht. Plakativer sind bei ihr der regieführende „Künstler“ und seine Freunde angelegt. So plakativ, dass sie nicht mehr als reale, sondern nur mehr als überzeichnete Figuren wahrgenommen werden können, als symbolhafte Gestalten, die klischeehaft feministische Gegenbilder verkörpern. Dies tun sie mit einer Überheblichkeit und im Geiste eines unanfechtbaren Gutmenschentums, dass der jungen – namenlosen – Frau zurecht schlecht wird.

Marlene Hauser in "Die Party" im Schauspielhaus Graz (Foto: Lex Karelly)

Marlene Hauser in „Die Party  – eine Einkreisung“ im Schauspielhaus Graz (Foto: Lex Karelly)

In der Fassung für die Aufführung im Schauspielhaus gehen leider die traumhaften Sequenzen und die surrealen Momente, welche den Roman in ein eigenes Raum-Zeit-Gebilde versetzen, fast ganz verloren. Der Keller zeigt sich erst ganz zum Schluss als eine Bedrohung, in der es um Leben und Tod gehen kann, nicht schon, wie im Roman, gleich zu Beginn. Dadurch verliert vieles, was gesagt wird, seine doppelte Ebene und bleibt nur plakativ stehen. Unter der Regie von Lukas Michelitsch verstärkt sich zwar die Körperlichkeit von Haidachers Personen, zugleich jedoch fehlen ihnen jene fatal-diabolischen Ansätze, welche dazu führen, dass die junge Frau letztlich ein grausames Ende findet. Dieses wird auf der Bühne nicht gezeigt, auch nicht angeschnitten, zumindest nicht so, dass es verstanden werden kann. Zwar bleibt der Nachspann, der auch im Roman hinter das Ende ein Zweites setzt. Die Ausgrenzung jener jungen Frau jedoch, die sich dem Mainstream aller entgegensetzt und die versteht, dass das, was um sie herum geschieht, letztlich nichts mit Feminismus zu tun hat, diese Ausgrenzung wird nicht spürbar.
Sehenswert an diesem Abend ist jedoch die Schauspielerin Marlene Hauser. Sie verkörpert nicht nur die studierte Eisverkäuferin, sondern auch alle anderen Charaktere. Innerhalb weniger Augenblicke schlüpft sie von einer Rolle in die nächste, ohne dass man auch nur ansatzweise Schwierigkeiten hat, die jeweiligen Personen zu erkennen. Ein karges Bühnenbild von Franziska Bornkamm und Eva Seiler wirft die Frage auf, ob es überhaupt eines gebraucht hätte. Fazit: Eine wunderbare schauspielerische Leistung trifft auf einen Text, dem die Schönheit abhandengekommen ist und auf eine Regie, die es sich – milde ausgedrückt, – sehr leicht gemacht hat.

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