Das funktioniert nie!

Das funktioniert nie!

Es gibt Schnell-Leser, die Bücher durch Querlesen in einem Bruchteil der normalen Lesezeit verschlingen. Es gibt Schnell-Seher, die durch Museen laufen und nur bei ausgewählten Werken verweilen. Aber von Schnell-Hörern hat man bislang noch nichts gehört.

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Wien Modern (c) Markus Sepperer

Seit dem 11.11. 2016 – Faschingsbeginn! – gibt es auch das. Das Publikum von Wien Modern hatte die Möglichkeit, alle 15 Quartette von Dmitri Schostakowitsch in einer räumlichen und zeitlich abgestimmten Simultanaufführung im großen Saal des Konzerthauses zu hören und sich damit als Schnell-Hörer zu betätigen. Ganz nach dem altbekannten Witz, dass, wenn alle gleichzeitig spielen, das Konzert auch schneller aus ist.

Die Idee zu dieser Präsentation ist als umso absonderlicher zu bezeichnen, als der Komponist für seine Quartette keine einheitliche Form verwendete und ihren Aufbau von zwei bis zu sieben Sätzen gestaltete. Noch nie gab es ein Konzert, bei dem ich mir schon im Vorhinein eine feste Meinung bildete, die mit einem prägnanten Substantiv auf den Punkt zu bringen ist: Schnapsidee.

Zugleich jedoch war es meine immense Neugier auf alles Neue, Ungehörte, die mich in dieses Konzert leitete. Vorauseilende Meinungen sind mit Vorsicht zu genießen. Diese Erkenntnis kam mir dann schon nach wenigen Momenten im Konzertsaal. Denn nicht nur, dass die 15 Ensembles, die dazu benötigt wurden – eines für jedes Streichquartett – höchst klug aufgestellt waren. Die Klangerfahrung, die an diesem Abend vermittelt wurde, hatte tatsächlich ihren ganz besonderen Reiz.

Eine waghalsige Idee fand viele Kooperationspartner

Bald schon war klar: So etwas geht nur mit ein und demselben Komponisten und da wahrscheinlich auch nicht mit jedem. Auch die Bereitschaft der Ensembles auf dieses Experiment ist nicht hoch genug einzuschätzen, begaben diese sich doch auf ein höchst unsicheres Terrain. Denn abgesehen von der letzten Probe im Saal selbst, dürfte es bis dahin nicht wirklich sicher gewesen sein, ob dieses Wagnis auch tatsächlich funktionierte.

Wien Modern (c) Markus Sepperer

Wien Modern (c) Markus Sepperer

Um die Idee nicht völlig ohne Kontext im musikhistorischen Raum stehen zu lassen, wurden im Programmheft die ästhetischen Strategien von Kontrapunkt, Collage, Überlagerung und Simultaneität von Bernd Alois Zimmermann, Luciano Berio, Charles Ives und Joseph Haydn angeführt. Sicherlich auch ein Argument, die Verantwortlichen der mdw und der muk zu überzeugen, ihre Studierenden zur Teilnahme an diesem Event zu motivieren. Wenn nicht ohnehin die großen Namen wie das Arditti und das JACK Quartet oder das Ensemble Resonanz neben anderen dafür Strahlkraft genug hatten.

Eine herkömmliche Konzertkritik funktioniert hier nicht

Dass sich in diesem Artikel nun keine Aussagen zu der Interpretation der einzelnen Quartette finden, ist leicht nachzuvollziehen. Vielmehr beschränkt dieser sich auf visuelle Beobachtungen, auf höchst subjektive Klangwahrnehmungen und nicht zuletzt auch auf Gedanken, die sich mir während dieser Aufführung aufdrängten. Als nicht ungewöhnlich empfand ich den Umstand, dass gewisse rhythmische Muster relativ rasch erkennbar wurden. Auch, dass Grundstimmungen einzelner Quartette sich ähnelten.
Das nach circa 30 Minuten solo spielende Solistenensemble Kaleidoskop, welches das Quartett Nr. 11 auf diese Weise zumindest für eine kurze Zeit vom linken Balkon aus exklusiv erklingen ließ, wurde in einem bestimmten Moment beinahe überfallsartig von den anderen Ensembles übertönt. Dieses auditive Schockerlebnis nach wenigen Augenblicken kontemplativen Zuhörens wich der intensiven Erfahrung, eine dramatisch verdichtete Klangmasse im Raum beinahe körperlich spüren zu können. Diese Musikkulisse, die den Anschein erweckte, dass sich jederzeit der Raum selbst in die Lüfte erheben konnte, ließ sicherlich niemanden im Publikum kalt.

Durch das Zirpen, Dröhnen, Pochen, Säuseln, das Schwirren und Stampfen schlug sich dennoch vereinzelt dieses oder jenes Thema eine kleine Schneise in den Raum, um bald wieder zu verschwinden und anderen Platz zu machen. Die Überraschung war groß, als sich die musikalische Dichte plötzlich vom hinteren in den vorderen Saalabschnitt verlagerte, um schließlich in der Mitte, auf dem Podium selbst zu landen.

Zeit, die Gedanken schweifen zu lassen

Eine enorme Kakophonie, die nach ungefähr 30 Minuten einsetzte, machte es unmöglich, Strukturen zu hören oder auch nur zu erahnen und zwang meinen Geist zu anderen Denkmechanismen. Und prompt stellten sich mir Fragen wie: Welche Konzert-Klänge werden eigentlich an einem Abend in einer ganz bestimmten Stadt in einem bestimmten Zeitraum produziert? Wie würde sich eine Zusammenfassung aller Konzertereignisse rund um den Erdball zu einem bestimmten Zeitpunkt anhören? Was hätte man hingegen vor 200 Jahren mit derselben Fragestellung hören können?

Wien Modern (c) Markus Sepperer

Wien Modern (c) Markus Sepperer

Ein Teil der Hörerschaft hatte sich um das große Podium in der Saalmitte platziert und nach ungefähr 10 Minuten begonnen, sich sowohl gegen als auch im Uhrzeigersinn um dasselbe zu bewegen. Je unübersichtlicher das auditive Geschehen wurde, umso rastloser zog es seine Runden im Saal, produzierte förmlich einen nicht enden wollenden Strom mit kleineren Verwerfungen, Kringeln, Ballungen und Strudeln.

Wie aus dem Nichts warf abermals unerwartet das Adamas Quartett einige Tonfolgen aus dem 9. Quartett brutal in den Raum und ließ damit die Stimmung völlig kippen. Ließ mein Nachdenken über die subjektive Interpretation von Musik und den Aberglauben an eine Werktreue in gänzlich andere Gefilde abgleiten. So sprunghaft wie sich die Quartette in ihrer willkürlichen Hörfolge nun zeigten, so schlagartig änderten sich auch die Ideen, die sich während des Hörens einstellten, bis sich meine Aufmerksamkeit an einem bestimmten Punkt völlig von der Musik abwendete.

Das Publikum folgt der Klangstimmung

Nun fiel mir auf, dass die Klang-Wandernden eine ganz eigene Marschgeschwindigkeit entwickelt hatten. Wie sie sich, gleich Flaneuren auf großen Promenaden, gegenseitig beobachteten, sich einer indifferenten Rhythmik angleichend, treiben ließen. Und wie ganz nebenbei, fand mein Geist auch wieder zu Schostakowitsch zurück. Entdeckte Muster in seiner musikalischen Ausdrucksweise, Konstanten in seiner Klangsprache. Einher ging dies mit einer allgemeinen Klangentflechtung, Ausdünnung, durch die es wieder möglich wurde, einzelne, kantilene Passagen aufzunehmen. Sie so zu hören, als wäre ihr Zusammentreffen nicht zufällig, sondern beinahe bedingend. Aufregung, Dramatik, Abgeklärtheit und Nervosität konnten nun auch wieder als einzelne, emotionale Gefühlswahrnehmungen benannt und den einzelnen Passagen zugeschrieben werden.

Eine außergewöhnliche Idee, die ohne Zweifel funktionierte

Und dann plötzlich die Erkenntnis, dass die Zusammenstellung der Quartette, der Abfolge des jeweiligen Beginnes und die räumliche Aufstellung ein unglaublich aufgeweckter Geist durchgeführt haben muss. Jemand, der einen scharfen, musiktheoretischen Verstand und zugleich auch einen sehr sensiblen, auditiven Hörapparat sein Eigen nennen darf. Bernhard Günther, dem neuen Intendanten von Wien Modern, dürfen diese Blumen gestreut werden.

Das Ende der Aufführung, die mit 75 Minuten anberaumt war, ließ sich auch ohne jegliche Schostakowitsch-Erfahrung von seinem Klangbild her erahnen. Die allgemeine Beruhigung, die sich unter den vielen Streichern breitmachte, übertrug sich auch auf das Publikum. Seine beinahe schon laufende Gangart verlangsamte sich merklich und kam schließlich, wenige Minuten vor Schluss, ganz zum Erliegen. Die letzten fünf Minuten des letzten Satzes des Quartetts Nr. 15, durften alleine erklingen und jene Dramatik und Trauer verbreiten, die diesem Quartett innewohnen. Das traurige Flirren der Streicher und die anschließende Übernahme der kleinen Melodie in das tiefe Celloregister, das am Schluss die Bratsche übernimmt, erfolgte wie unter einem Bann. Einem Bann, unter dem das Publikum noch lange Zeit nach Verklingen des letzten Tones gefangen schien. Die lange Stille und die danach anhaltenden, lange andauernden Ovationen, waren der objektive Beweis, dass die Umsetzung der Idee der simultanen Aufführung tatsächlich funktionierte. Ein höchst außergewöhnlicher Konzertabend.

Die dunklen, gefährichen Seiten des Lebens

Die dunklen, gefährichen Seiten des Lebens

„Es ist eine richtige Kooperation, bei der ich auch bei der Komposition meine Meinung geäußert habe“, so beleuchtete Mollena Lee Williams-Haas, die Ehefrau des Komponisten Georg Friedrich Haas, bei einem Interview die Entstehung von Hyena.

Jenem Werk, bei dem sie selbst als „story teller“ auf der Bühne des großen Saales im Konzerthauses stand. Und was sie dabei erzählte, während die Haas´schen Klänge sie dabei unterstützten, war harter Tobak. Aus ihrem Leben gegriffen, selbst durchlitten, selbst erlebt, selbst über-lebt.

Von den tiefsten Tiefen ins Rampenlicht

Mollena Lee Williams-Haas war Alkoholikerin. Schwere Alkoholikerin, die am Ende ihrer Sucht eine Flasche Whisky in drei Zügen austrinken musste, um sich selbst ruhig zu stellen. Dem großen Glück, einen Entzug machen zu können, verdankt sie ihr Leben. Nun, einige Jahre später, begeisterte sie im Rahmen von Wien Modern das Publikum .

Hyena Mollena Williams-Haas (c) Markus Sepperer

Hyena Mollena Williams-Haas (c) Markus Sepperer

Knappe eineinhalb Stunden erzählte sie dabei, wie sich ihr in einem dramatischen Augenblick im Spital jener Dämon offenbarte, der sie seither nie mehr losließ. Jene grauenhafte, schmutzige Hyäne, namens Bubbles, jenes Geschöpf, das sie, wann immer es möchte, dazu verführen will, abermals Alkohol zu trinken. Jener Dämon, dem sie nun schon jahrelang die Stirn bietet und der ihr die Hoffnung rauben will, trocken zu bleiben.

Eine starke Künstlerpersönlichkeit

Ihr enganliegendes, schwarzes Kleid und die schwarzen Strümpfe konkurrierten mit ihren weißen, mit Glitzer besetzten, knöchelhohen Turnschuhen. Das Outfit der Künstlerin machte klar: Hier steht eine Frau auf der Bühne, die weiß, wer sie ist. Die nichts verstecken will, nichts beschönigen. Eine Frau, die das Dunkle und das Helle des Lebens gleichermaßen erlebt hat.

„Ich fühle die Tiefe dieser Krankheit“, sagt sie gegen Ende der Aufführung um hinzuzufügen, dass sie sich die Hoffnung, nicht wieder zur Flasche zu greifen, nie nehmen lassen wird. Immer wieder wechselt sie bei ihrer Performance die Position, um dabei die Nähe zum Publikum zu suchen. Das ist rund um das Podest platziert, auf dem das Klangforum unter Bas Wiegers agiert. Die Musik, die Haas beisteuerte, illustriert zum Teil das dramatische Geschehen. Sie lässt mit der Pauke einen lärmenden Raum malen, während Williams-Haas ihre Spitalseinlieferung beschreibt. Sie nimmt bedrohlich an Volumen zu, während sich das Hyänen-Ungetüm aus dem Boden schält, um sich an die Fersen der alkoholkranken Frau zu heften.

Musik und Sprache ergänzen sich hervorragend

Nie nimmt die Musik jedoch überhand, deckt zu keinem Zeitpunkt die Sprache der Performerin zu. Vielmehr ist die Homogenität, mit der sie ausgestattet ist, trotz aller klanglichen Einfälle und Soli, wie sie zum Beispiel dem Schlagwerker zugeordnet sind, verblüffend.

Mollena Lee Williams-Haas hat ihre Geschichte in den USA jedoch ohne die Musik ihres Mannes vorgetragen. Und dabei unglaubliche Reaktionen erfahren. So wartete nach einer Performance eine Schlange von Menschen auf sie, um ihr danach zu gratulieren und von eigenen Erlebnissen mit dieser Krankheit zu berichteten. Die Geschichte eines alkoholkranken Mannes, der während einer Radioübertragung ihrer Erzählung auf dem Weg zur Beschaffung von Alkohol umdrehte, um mit dem Trinken aufzuhören, zeigt, wie tief die Künstlerin mit ihrer Arbeit die Menschen berühren kann.

Mollena Williams-Haas und Georg Friedrich Haas (c) Markus Sepperer

Mollena Williams-Haas und Georg Friedrich Haas (c) Markus Sepperer

Die innige Umarmung des Ehepaares während des Applauses, war gekennzeichnet von einer Zuneigung, die weit über die Freude einer gelungenen, kreativen Zusammenarbeit hinausgeht. Eine wunderbare Geste, wie man sie auf den Bühnen dieser Welt selten so erleben darf.

Das 9. Streichquartett gespielt in völliger Dunkelheit

Im Anschluss daran wurde das 9. Streichquartett von Haas im abgedunkelten Saal uraufgeführt. Die Verdunkelungsprozedur, der sich die Galeriebeleuchtung eine Zeitlang widersetzte, nahm das Publikum belustigt hin.

In diesem Streichquartett setzt der Komponist auf klangliche Reduktion. Es lebt von immer wiederkehrenden, in kleinen Abweichungen gespielten, langsamen Passagen mit zum Teil melodischen Akkordzerlegungen und für ihn typischen, jedoch hier sehr schlank gehaltenen Klangschrauben, die leicht an- und abschwellen.

JACK Quartet (c) Markus Sepperer

JACK Quartet (c) Markus Sepperer

Dass es Haas wichtig war, das Quartett nach der Hyena erklingen zu lassen, wurde besonders an jener Stelle verständlich, an dem sich die Musik wie ein wildes Ungetüm generiert, dass sich zwar wieder beruhigt, aber mit einer lang anhaltenden Dissonanz zeigt, dass es nicht verschwunden ist. Obertöne und Mikrotonalität sind ein weiteres Charakteristikum dieses Werkes, genauso wie eine lange Passage, die durch einen Pizzicato-Einsatz quer durch alle Streicher geprägt ist. Die Imitation einer tickenden Uhr und Stellen, die mit einer diffusen Gefahr assoziiert werden können, lassen breiten Interpretationsspielraum.

Das JACK Quartet bewies mit dieser Aufführung im wahrsten Sinne des Wortes sein gegenseitiges, blindes Vertrauen. Ohne Blickkontakt, sich nur auf die auditiven Reize verlassend, erwies es sich als ein würdiger Uraufführungspartner dieses dunklen Stückes.

Die wichtigsten Fragen.

Die wichtigsten Fragen.

Bernhard Günther, der zum ersten Mal als Intendant für das Programm verantwortlich zeichnet, stellte dieses unter ein Motto, das sich über vier Sätze erstreckt. „Die letzten Fragen: Woher kommen wir? Wohin gehen wir? und wo zum Teufel sind wir hier überhaupt?“ Dementsprechend war auch das Konzertangebot des ersten Abends ausgerichtet.

Bei diesem bewies Cornelius Meister im Großen Saal des Konzerthauses abermals seine Könnerschaft in der Interpretation zeitgenössischer Werke. Mit dem RSO hatte er sowohl eine österreichische Erstaufführung von Georg Friedrich Haas, als auch eine Uraufführung von Jorge E. López einstudiert.

Ein bedrohlicher Penderecki zu Beginn

Den Auftakt machte jedoch Krzysztof Penderecki. Die Widmung seines Stückes „Threnos. Den Opfern von Hiroshima“ von 1960 fügte er erst später hinzu, aber eigentlich bedarf es gar keines Titels, um die Spannung und Katastrophe nachzuvollziehen, die sich im großen Streichapparat (52 Instrumente) auditiv niederschlagen. Schon der scharfe Diskant zu Beginn zeigt Unheilvolles an. Die nervöse, prickelnde Grundstimmung, die darauf folgt, geht bald in ein bedrohliches Diktum über. Darin reiht sich eine unheilvolle Sequenz an die nächste. Bis heute ist es genial, wie man in diesem Penderecki-Werk sowohl erlittenes Einzelschicksal als auch jenes von Millionen Menschen nachvollziehen kann. Die Interpretation von Meister war glasklar und völlig unprätentiös, wie man es von ihm gewohnt ist.

Ganz hoch oben, ganz tief unten

Der Österreicher Georg Friedrich Haas (*1953), dem 2014 ein Schwerpunkt bei Wien Modern gewidmet war, wurde von gleich sechs unterschiedlichen Trägern zu seinem Konzert für Posaune und Orchester beauftragt. Der SWR, das Sinfonieorchester Basel, das RSO, Wien Modern und das Wiener Konzerthaus und eine Förderung der Ernst von Siemens Musikstiftung zeigen damit, dass es auch in Zeiten knapper werdender finanzieller Ressourcen möglich ist, dotierte, künstlerische Aufgaben zu vergeben. Den Posaunenpart übernahm Mike Svoboda, dem sich Haas nicht nur musikalisch, sondern auch freundschaftlich verbunden fühlt. Die Uraufführung erlebte das Konzert in diesem Jahr bei den Donaueschinger Musiktagen. Für Cornelius Meister war es, genauso wie die Symphonie von López, Neuland. Neuland, das er sich bravourös aneignete. Es war seinem Dirigat gut anzumerken, dass er nicht nur bis hin zu den kleinsten Partiturelementen seine Wahrnehmung geschärft hatte, sondern auch das Große und Ganze der jeweiligen Werke vermitteln konnte.

Mit der Passacaglia von Bach und Mozarts Großer Messe, KV 427 hat das Posaunenkonzert von Haas gemein, dass es in C-Moll beginnt. Dieser Umstand muss weiter nichts bedeuten, fügt sich jedoch bei der Betrachtung des Gesamtbildes des Konzertes wie ein weiteres Puzzlesteinchen hinzu. Haas gestaltet den anfänglichen Orchesterpart in höchstem Maße symphonisch, wobei das tonale System zu Beginn noch auf festen Beinen steht. Vom Orchester breit unterstützt, schwillt die Posaune langsam auf einem Ton an und verebbt wieder und variiert nur innerhalb der melodischen C-Moll Zerlegung. Feierlich und tragend erlebt man so den Einstieg, von dem man, kennt man die Werke von Haas, bereits weiß, dass er trügt. Beinahe unmerklich schiebt sich, nach einer akzentuiert gesetzten Harfe, eine feine Unschärfe in den Klang, bringt das allzu harmonische Bild etwas aus dem Gleichgewicht, um bald schon wieder eine sphärische, raumbeschreibende Stimmung auszubalancieren. Die Mikrotonalität, die ab nun öfter ihr Recht einfordert, ist ein Charakteristikum des Komponisten. Und sie verfehlt, klug eingesetzt, bei ihm nie ihre Wirkung, die je nach musikalischem Kontext ganz unterschiedlich sein kann.

Vom Raumschiff Enterprise in die Untiefen der menschlichen Seele

All jene, die als Jugendliche mit Raumschiff Enterprise fernsehtechnisch sozialisiert wurden, konnten sich dabei unschwer in einem Flug durch Zeit, Raum und endlose Galaxien wiederfinden. Beobachtend, staunend, zeitvergessend durfte man zuhören, allein – dieser Flug hielt jedoch nicht ewig an. Ein leichter Aufwind schien den Klang nach oben zu schieben, mit ihm Fahrt aufzunehmen, um schließlich unter Trommelbegleitung abzustürzen. Zu schön wohl, es hatte nicht sein sollen, dieses Wonnegefühl, das Haas jedoch so nicht für sich stehen ließ.

Mike Svoboda (c) Markus Sepperer

Mike Svoboda (c) Markus Sepperer

Wer hoch fliegt, stürzt tief. Und so setzt er dem elysischen, traumwandlerischen Zustand einen kontrastierenden entgegen, der sich zumindest zu Beginn noch musikalisch enorm witzig präsentiert. Völlig trunken dümpelt dabei die Posaune in ihrer tiefen Lage herum, während sich der Rest des eben noch so eleganten Raumschiffes in Luft aufzulösen scheint. Wie ein besoffener Musikant, der seine Stücke nur mehr auszugsweise wiedergeben kann, generiert sich jetzt seine Solostimme und wird dabei dissonant begleitet. Wie in einem wehleidigen Selbstgespräch, in das Betrunkene gerne verfallen, parliert nun die Posaune und evoziert dabei zugleich höchst humorvolle Assoziationen. Jammernd, sich gegenseitig bestätigend und aufheizend, stimmt das Orchester bald mit ein. Vorbei das gewichtslose Fluggefühl, jetzt wird tief eingetaucht in die Untiefen der menschlichen Seele.

Bald schon bekommt Mike Svoboda Unterstützung von seinen Posaunenkollegen, die unisono in sein Jammerlied einstimmen. Bedrohlich beginnt sich der Klangraum zu verdichten, was nicht bedeutet, dass diese musikalische Klage klüger wird, oder mehr Seriosität bekommt. Nur wenn es Kräfte gibt, die das Negative bestärken, wirken diese eben auch mehrfach. Das Aufbrausen der Schlagwerker zeigt an, dass nun das herbei gebetete Elend endlich zum Greifen nahe ist. Mission completed könnte man ironischerweise hinzufügen, oder, umgangssprachlich: Jetzt hat er es endlich geschafft. Ist ja auch nichts schwerer zu ertragen, als eine Reihe von schönen Tagen, wie allgemein bekannt ist, möchte man trotzig hinzufügen und die Posaune am liebsten aus dem Orchester verweisen.

Diese beginnt, nachdem das Gejammer langsam abebbte, in einem scheinbaren, über Minuten anhaltenden, langsamen Abwärtsglissando sich ihrer Untat zu schämen oder zumindest, wie es bei einem anständigen Kater oft der Fall ist, nach und nach bewusst zu werden. Das Orchester, das wie nebenher wieder langsam in einen zarten, singenden Modus übergeht, übertönt zugleich die Atempausen des Solisten perfekt, der mit einigen wenigen, ganz verhaltenen Tönen, das Stück beendet.

Cornelius Meister, Georg Friedrich Haas, Mike Svoboda (c) Markus Sepperer

Cornelius Meister, Georg Friedrich Haas, Mike Svoboda (c) Markus Sepperer

Programm-Musik für ein individuelles Programm

Es braucht nicht viel Vorstellungskraft, um sich das beschriebene Szenario oder auch ein anderes, individuell zurecht geschnittenes, lebhaft vorzustellen. Das Wunderbare an dieser untitulierten, jedoch deutlich fühlbaren Haas`schen Programm-Musik ist, dass sie sich in jedes Lebensbild anschmiegen kann. Dass sie keinem Dogma verpflichtet ist, keiner hehren Idee, interpretationswillig ist, aber dennoch wunderbare Zeitbezüge aufweist. Wer lachen kann, darf das. Wer nur staunen möchte, soll nur staunen. Wer sich lieber den Kopf zergrübelt – auch das ist hier erlaubt. Wer die Bipolarität des musikalischen Geschehens auf eine Metaebene holen möchte, sie als Ausdruck des Menschlichen mit all seinen Höhen und Tiefen auffasst, auch der oder die werden diese Idee im Stück gespiegelt finden.

Drei Sätze und unzählige Perlen

Die Uraufführung des Abends wurde von Jorge E. López (*1960 in den USA) komponiert und war nicht nur eine Herausforderung für Orchester und Dirigenten, sondern auch für das Publikum selbst. Seine Symphonie Nr. 4 (zwischen 2013 und 16 entstanden) ist ein dreisätziges Werk, dessen einzelne Sätze jedoch beinahe nahtlos ineinander übergehen. Zwar verändern sich dabei die verwendeten Klangfarben und damit verbunden auch Kompositionsmuster, die Zuhörerschaft ist jedoch gefordert, diese Übergänge selbst wahrzunehmen. Breitet sich zu Beginn ein symphonischer Klangteppich mit Einsprengseln einzelner Stimmen aus und hat den Anschein, kein Ende zu nehmen, ist man doch überrascht, als er plötzlich mit Marsch- und ein Galoppeinsprengseln eine andere Seite des musikalischen Romans aufschlägt. Eines Romans, so hat es teilweise den Anschein, der in kleinen Verästelungen immer weiter mäandert, um am Schluss, in seinem dritten Teil, mit auf- und absteigenden Glissandi, die rhythmisch kontrastiert und von kurzen Melodieschnipseln unterbrochen werden, eine neue Charakterfärbung zu bekommen. Das Geräusch von asynchron tickenden Metronomen ersetzt kurz vor Schluss den Klang, der von wenigen Posaunentönen wiederaufgenommen und finalisiert wird.

Jorge E. López, Cornelius Meister (c) Markus Sepperer

Jorge E. López, Cornelius Meister (c) Markus Sepperer

López 4. Symphonie strotzt nur so von Einfällen und Zitaten, die in kleine Teilchen zerlegt, kaum ausgesprochen, schon wieder konterkariert werden. Die perlende Endlosschnur, an der man sich dabei hörend entlang hantelt, kann aufgrund der Ideenfülle nach gar nicht allzu langer Zeit nicht mehr daueranalysiert werden. Sicherlich vom Komponisten ein bewusst eingesetztes Stilmittel, das je nach persönlicher Verfasstheit des Publikums zu ganz unterschiedlichen Reaktionen führte. Von „in höchstem Maße entspannend“ bis „langweilig“ reichte das Erlebnisspektrum des knapp 1-stündigen, musikalischen Vortrages, der vom Orchester bis zur letzten Note mit allerhöchster Aufmerksamkeit ausgeführt wurde.

Reisen ins Nirgendwo

Reisen ins Nirgendwo

Das RSO unter Sylvain Cambreling unternahm am 19. November im Konzerthaus eine imaginäre Reise ins Nirgendwo. Denn verorten ließ sich keines der Konzerte. Weder im realen, noch im imaginierten Raum. Im Rahmen von Wien Modern kamen Werke von Isabel Mundry, Mark Andre und Rebecca Saunders zur Aufführung.

Allen drei Stücken gemeinsam war nicht nur der große Orchesterapparat, der dabei bemüht wurde, sondern auch eine dunkle, oft mit Spannung aufgeladene Stimmung, die mannigfache Assoziationen zuließ.

„Non-Places, ein Klavierkonzert“ (2012) von Isabel Mundry eröffnete das Programm.  Es sind keine Klänge, die anfangs zu hören sind, sondern Wind, der durch stimmloses Blasen, aber auch Streichen und Klopfen auf den verschiedenen Instrumenten erzeugt wird. Bald schon werden Stimmen hörbar, die Geräuschkulisse einer Stadt wird eingespielt. Das anschließende Sesselrücken und das Sprechen der Musizierenden, wird live performt. Ein augenzwinkernder Beginn, denn es hat dabei den Anschein, als ob das Orchester gerade auf die Bühne gekommen wäre und noch rasch ein paar Worte miteinander wechseln müsste, bevor es richtig losgeht. Es dauert eine Weile, bis Ruhe einkehrt. Dann ziehen kleine, unbestimmte Melodiefetzen vorbei. Immer wieder werden die kurzen, unterschiedlichen Sequenzen durch Pausen unterbrochen, in denen der Nachhall der Instrumente den Ohren schmeichelt. Charakteristisch ist ein ständiges Auf- und Abebben des gesamten Klangapparates, eine Art Pulsieren. Der Klavierpart, gespielt von Nicolas Hodges, mit Läufen und kräftigen Akkorden, fügt sich darin harmonisch ein. Zuerst leise, dann immer häufiger und lauter, meldet sich eine drohende Pauke zu Wort. Fast unmerklich gleitet das Geschehen in eine Art zweiten Satz, der nicht so stark pulsiert, sondern eher das Gefühl eines verhaltenen, subtilen Grauens evoziert. Leise, tiefe Bläser und abermalige Windgeräusche mischen sich dazu. Ein Wispern kurz, dann wandeln einzelne Töne durch verschiedene Instrumente. An einer Stelle ergibt ein kurzes Trio von Hackbrett, Klavier und Xylophon eine außerordentlich schöne Klangmischung. „Soweit ich denken kann“, dieser Satz, von den Musikerinnen und Musikern gesprochen, bleibt im Gedächtnis haften. Anderes verschwimmt, ist undeutlich und doch präsent. Noch einmal verändert sich der Charakter, lässt Läufe hörbar werden, hinauf, hinunter, mit Stolpersteinen versehen über die es gilt, nicht den Takt zu verlieren. Einige Loops, einige Sekunden von musikalischen Zitaten, nur wenige Takte, dann beginnt sich das Geschehen wie zu Beginn wieder pulsierend zusammenzuballen. Pizzicati und harte Schläge auf die Streichersaiten wechseln einander ab. Die abermalige Einspielung von Alltagsgeräuschen kündet den nahen Schluss an. Leise Percussion-Klänge, ein Beckenhall, ein letztes, hörbares Einatmen, dann kommt das Orchester zur Ruhe.

Die Komponistin selbst schreibt über ihr Werk, dass sie das Ich und Du in diesem Stück besonders herausforderte. Das Verhältnis zwischen Zu- und Abgewandtheit, Bezogenheit und Fremdheit oder Zärtlichkeit und Gewalt hätte sie darin verarbeitet. Schön, dass das komplexe Werk dennoch Raum genug für eigene Assoziationen lässt. An dieser Stelle sei ein kleiner Hinweis auf das subjektive Hörerlebnis von live performter zeitgenössischer Musik angebracht, vor allem wenn man einer Uraufführung beiwohnt: Wer nicht durch vorgegebenes Textmaterial in eine bestimmte gedankliche Richtung gelenkt werde möchte, dem sei das Lesen der theoretischen Abhandlungen aus den Programmen erst nach dem jeweiligen Konzert selbst empfohlen. Die Ohren machen wesentlich größere Augen, wenn sie unbeeinflusst durch Lesefutter ihren Dienst verrichten dürfen. Beglückend, wenn schließlich Theorie und eigene Hörerlebnisse übereinstimmen, hoch interessant jedoch, wenn dies nicht der Fall ist. Dann kann sich die Auseinandersetzung mit der theoretischen Ebene auch richtig spannend gestalten.

Mit „…hij…1“ (2010) für Orchester von Mark Andre, erklang kein zweites Konzert, denn von Klang kann man in diesem Zusammenhang nur ganz peripher sprechen. Der 1964 in Paris geborene Komponist präsentiert zu Anfang ein Stück, das nur für die Augen erfahrbar wird. Denn obwohl der Dirigent dirigiert und das Orchester Bewegungen macht, erklingt kein einziger Ton. Man sieht, wie das Geschehen von der Geige in die Bratschen und schließlich in den gesamten Streicherapparat übergeht. Man kann den langsamen Vier-Vierteltakt gut mitzählen, was aber notiert ist, bleibt den Ohren verborgen. Bald schon hört man zumindest das leise Knacken der gedrückten und wieder losgelassenen Ventile und Klappen der Bläser, dann leise, tonlose Klavieranschläge. Andre arbeitet mit jenen akustischen Phänomenen, die normalerweise im Klangrausch eines Konzertes untergehen. Das Klopfen auf die Mundstücke, gemeinsam von allen Bläsern ausgeführt, ergibt einen ganz subtilen Klang, genauso wie das Klopfen mit der Hand, dass die Bassisten auf die Schnecken ihrer Instrumente ausüben oder das indirekte Schlagen auf Pauken und Trommeln. Ohne die herkömmliche Technik zu bemühen, steigt die Lautstärke an, ein Papierrascheln und beständiges Bewegen von kleinen Aluminiumpapierstücken ergeben ein zusätzliches, permanentes Geräuschbild, das man bald gewohnt wird. Das Streichen der Bögen nicht auf den Saiten, sondern am Holz der Instrumente, das Schnarren der Klaviersaite, die auf- und abgerieben wird, all das bereitet in Andres Komposition ein ungewöhnliches Hörerlebnis. Nur ganz zart kommen Streicher und Bläser ab und zu ins Spiel, hörbar nur peripher, mehr eine Erinnerung an einen Klang als ein Klang selbst. Auch in diesem Konzert spielt Wind eine wichtige Rolle und wird von Andre auch an den Schluss gesetzt. „…hij…1“ ist eines jener zeitgenössischen Werke, für das es eine unbedingte Live-Konzertempfehlung braucht. Die visuelle Wahrnehmung ist bei dieser Arbeit unerlässlich.

Den Abschluss des Abends bildete „Still“ für Violine solo und Orchester von Rebecca Saunders. Bereits im Jahr 2011, seinem Entstehungsjahr, war das Werk bei Wien Modern mit Widmann an der Geige aufgeführt worden. Wie damals beeindruckte sie auch dieses Mal das Publikum. Unglaublich präzise, mit einem kräftigen Strich und zugleich lyrisch warm, kann ihr Spiel beschrieben werden. Die langsam sich nach oben fortschreitenden Tonfolgen der Violine behaupten sich gegen das Orchester nur dann, wenn der Solopart mit einer Präsenz gespielt wird, die keinerlei Zweifel aufkommen lässt, was den Solopart betrifft. Die Geigerin war bereits mehrfach mit Solo-Recitals im Wiener Konzerthaus zu Gast und wurde  2013 zum ‘Artist of the Year’ der International Classical Music Awards ausgezeichnet. Ihr wunderbares Instrument, eine G. B. Guadagnini-Violine von 1782, passt sich problemlos auch den zeitgenössischen Herausforderungen an, wie man deutlich hören konnte.

Zu Beginn des Stückes hat es den Anschein, als würde die Nervosität, die vom dunkel gefärbten Geigenklang ausgeht, das Orchester anstecken. Wilde Solo-Tremoli reißen nicht nur die Streicher, sondern auch die Pauke mit. Immer wieder dazwischen ist ein klagendes Mau-Mau zu hören. Das stetige, aber langsame Ansteigen der Tonhöhe, das in langgezogenen Passagen von sich geht, die nur in einem geringen Tonumfang angelegt sind, wirkt zuweilen animalisch. Harte Schläge der Bässe verstärken diesen Eindruck. Immer wieder ebbt die Klangkonzentration ab, kommt das Geschehen beinahe zum Stillstand. Kaum werden zwei Töne hintereinander angespielt, schon beginnt sich die Spannung wieder zu formieren. Aus düsteren Klangwolken hört man leise Kuhglocken, aber auch das Xylophon und vor allem dunkle Bläser. Wie ins Nirwana verschwindet an einer Stelle sanft die Geige. Nach einer Generalpause eröffnet die Dissonanz einer Sekund den zweiten Teil. Wieder sind es dröhnende Pauken, Ballungen der Streicher und Bläser, die sich zusammenfinden. Wie ein kleiner Lichtblick treten gegen Ende die Geige und Bratsche aus der Klangmasse heraus. Unterstützt von zarten Flöten verabschiedet sich die Violine mit einem langen Ton im hohen Register. Versöhnlicher hätte Saunders den Schluss wohl nicht bauen können. Widmann erntete für ihr Spiel zu recht nicht enden wollenden Applaus.

 

Abermals ein dramaturgisch bestens ausgewählter Abend, der es möglich machte, Ähnlichkeiten in den Kompositionen aufzuspüren und eine Art Zeitgeist wahrzunehmen, was die aktuelle Verwendung von orchestralem Klangmaterial betrifft.

Konzertkritik von „Still“, aufgeführt bei Wien Modern aus dem Jahr 2011 hier.

Phace tanzt

Phace tanzt

Sie gehören weltweit zu den besten Ensembles für zeitgenössische Musik. Sie zeichnen sich durch ihre Flexibilität und ihren Mut aus, Neues auszuprobieren. Beides brauchten die Damen und Herren des Ensemble Phace bei der österreichischen Uraufführung von Monadology XVIII «Moving Architecture».

Es ist ein Gemeinschaftswerk des Komponisten Bernhard Lang und der Tänzerin und Choreografin Silke Grabinger, das sie bereits 2002, anlässlich des 10-Jahre-Jubiläums des Baus des Austrian Cultural Forum NYC von Raimund Abraham, erarbeiteten.
Nicht nur, dass die Komposition und die Choreografie Hand in Hand gingen. Nicht nur, dass Grabinger eine eigene Notation für die Choreografie erarbeitete, die Lang dann in seine Partitur integrierte. Die Choreografie bezieht sich auch auf die Musikerinnen und Musiker. Sie kommt dann zum Einsatz, wenn diese in ihrer musikalischen Produktion Pause haben.

Barbara Vuzem und Matej Kubuš agierten dabei sowohl solistisch, als auch als Vortanzende, die dem Ensemble Halt und Sicherheit bei seinen ungewohnten Bewegungen gab. „Ein wichtiger Punkt ist, dass die Bewegungen auf den Gesten der Musikerinnen und Musikern basieren, die ich von den Proben abgenommen habe. Ich habe mich dabei gefragt: Wie bewegt sich eigentlich ein Musiker, eine Musikerin, wenn sie nichts tun? Es ist interessant, welch lustige, interessante und unterschiedliche Gesten es da gibt. Daraus konnte ich einen eigenen Bewegungskatalog erarbeiten“, erklärte Grabinger in einem gemeinsamen Interview mit Lang. Und auch, dass die Bewegungen nicht in die Breite ausufern, sondern vertikal ausgerichtet sind, war dabei zu erfahren. Ein Bezug auf den nur 7,5 Meter schmalen Grundriss des Hauses, das aber 24 Stockwerke aufweist.

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Monadology XVIII „Moving Architecture“ (c) Markus Bruckner / Phace

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Monadology XVIII „Moving Architecture“ (c) Markus Bruckner / Phace

Die Musik von Bernhard Lang fußt ebenfalls auf dem Gebäude-Grundriss, der sich nach oben hin ständig verjüngt. Und so ist auch das Anfangs-Stück das längste und das allerletzte, das kürzeste. Mit weißen Stirnbändern und Bemalungen rund um den Kopf, weißen Shirts und Hosen waren die Tanzenden und Musizierenden ausstaffiert. Einzig die Solistin Daisy Press trug ein bodenlanges, weißes Kleid, das sie beim Gehen wie einen Fächer auseinander falten konnte. Ein wunderbares Lichtdesign unterstützte die extrem abwechslungsreiche Performance. Mal glänzend weiß und hell, dann wieder leicht rosa beleuchtet, mal in Schatten getaucht, dann wieder unter einzelnen Lichtkegeln agierten die Damen und Herren auf der Bühne des Tanzquartiers. Dem Generalthema „Pop Song Voice“ von Wien Modern wird das Stück in mehrfacher Hinsicht gerecht. Denn Lang verwendete Bob Dylan´s „Like a Rolling Stone“ als Ausgangsmaterial, das er nicht nur zu Beginn, sondern immer wieder innerhalb des Stückes aufblitzen lässt.

Der Komponist verschmolz Texte der Emigrantin Rose Ausländer mit seiner Musik, die Grabinger an einigen Stellen förmlich illustrierte. Als Press über den „floor“ singt, legen sich alle auf den Boden, als sie einen Raum als „Zelle“ benennt, beginnen sich alle wie in Hospitalisierungsbewegungen mit ihrem Oberkörper rasch nach vor- und zurückzubewegen.

Die vielen Loops, aber auch kurzen Wiederholungspassagen ergeben eine eigene Dynamik, in die man sich rasch einhört. Die einzelnen musikalischen Teile, die ganz unterschiedlich gefärbt sind, gehen teilweise ineinander über, oder präsentieren sich wie symphonische Ausschnitte, aber auch kammermusikalische Sätze. An einer Stelle lassen Fanfaren und langgezogene Dur-Akkorde in Gedanken einen italienischen Fürstenhof der Renaissance auferstehen, dann wiederum groovt der Sound und swingt, sodass man gerne mittanzen möchte.

MOV ARCH - (C) Markus Bruckner - PHACE_4163c

Monadology XVIII „Moving Architecture“ (c) Markus Bruckner / Phace

MOV ARCH - (C) Markus Bruckner - PHACE_4192c

Monadology XVIII „Moving Architecture“ (c) Markus Bruckner / Phace

Vom Dunkel der Emigration, die sich in den ersten Teilen breit macht, hin zu einer starken Hoffnung und auch Spaß am Leben ist die Komposition ausgerichtet. Die Bewegungselemente jedoch bleiben immer dieselben. Der choreografische Kanon zeigt zackige Arm- und Bein- und ruckartige Kopfbewegungen. Die Menschen sehen in dieser Choreografie aus, als wären sie von einem Außen getrieben. Nur an einer Stelle darf sich Vuzem an ihren Partner in Zuneigung anlehnen. Sonst, so hat es den Anschein, ist das Leben ein einsames, von Arbeit und Zwängen geprägtes.

Ergänzend zum ohnehin schon dichten Geschehen auf der Bühne sind verschiedene Projektionen zu sehen. Nicht durchgehend, sondern in einer bewussten Dramaturgie von abstrakt bis illustrierend, erhellt sich die Wand hinter dem Ensemble zeitweise. Gezeigt werden Bilder des ACF von außen, konzentrische Kreise, die dunkler und heller werden, Rauch, der wie ein bewegtes, abstraktes Bild von oben nach unten seine Schlieren zieht, aber auch zarte Wolken beim allerletzten Satz. Hoch oben, im letzten Stock darf man schon den Himmel schauen!

Immer wieder in der Musikliteratur werden Musikerinnen und Musiker auf die Bühne geholt. Aber wenn, dann als musizierende Statisten, die ein Orchester spielen oder auch als Solistinnen und Solisten oder als marschierende Blasmusikkapelle. In diesem Stück ist die Rolle sowohl der Ensemblemitglieder als auch der Tanzenden und der Solistin gänzlich neu gedacht. Sie verschmelzen zu einer Einheit, einem Organismus, bei dem sich die Grenzen zwischen den verschiedenen Berufen auflösen. Dass sie alle, inklusive dem Dirigenten Joseph Trafton, barfuß agierten, hat ganz sicher nicht nur etwas mit der Ästhetik der Choreografie zu tun. Ohne Schuhe auf der Bühne zu sitzen, ist für Musikerinnen und Musiker so, als würden sich Tänzerinnen und Tänzer nackt ausziehen. Das Mitklopfen eines Taktes gestaltet sich völlig anders, ob man Leder oder Plastik unter den Füßen hat, oder gar nichts. Die Erdung, das Gefühl, mit dem Boden in direktem Kontakt zu stehen, wirkt sich sicherlich auch ursächlich auf das Spiel selbst aus. Die bloßen Füße können aber auch als ein Hinweis auf die Verletzbarkeit des Menschen gedeutet werden. Auf der Flucht zu sein, so wie Rose Ausländer es war und wie es heute Millionen Menschen weltweit sind, bedeutet unter Umständen, alles zu verlieren und mit Glück das nackte Leben zu behalten.

Dass sich solche Gedanken einstellen, kann als Indiz dafür gesehen werden, dass Lang und Grabinger mit all den Interpretinnen und Interpreten ganze Arbeit geleistet haben. Das Stück hat das Zeug, sich zu einer Musik- und Tanzikone des beginnenden 21. Jahrhunderts zu mausern. Dazu bedarf es nicht viel mehr, als einiger verständnisvoller Augen und geschulter Ohren, die sehen und hören, welch unglaubliches, vorausschauendes Kreativpotential in Monadology XVII „Moving Architecture“ enthalten ist. Und dies weitertragen oder damit weiterarbeiten.

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