Kaddish Requiem ‚Babyn Yar‘, so der Titel des Abends vereinte am 2. Juni sowohl das titelgebende Werk des ukrainischen Komponisten Jevhen Stankovych als auch die Uraufführung der für diesen Abend komponierten „Todesfuge“ von Evgeni Orkin. Zu dieser wohlüberlegten und passenden Kombination kam es, da die Wiener Festwochen ursprünglich auch Teodor Currentzis mit dem SWR-Symphonieorchester eingeladen hatten, um Benjamin Brittens „War Requiem“ zu intonieren. Der Dirigent, der sowohl einen griechischen als auch einen russischen Pass besitzt, hat sich bislang nicht zum Ukraine-Krieg geäußert oder distanziert, was Lyniv dazu veranlasste, von dem Doppelabend mit zwei großen Orchestern Abstand nehmen zu wollen.
Milo Rau, Festwochenintendant, zog daraufhin die Reißleine. „Wir respektieren Lynivs Wunsch, aktuell nicht in einen inhaltlichen Kontext mit Currentzis gestellt zu werden. Leider war dadurch unsere Entscheidung für die Absage des geplanten Konzerts unter dem Dirigat von Teodor Currentzis, den wir als Künstler sehr schätzen, alternativlos“, war sein Kommentar nach der Entscheidung, Currentzis wieder auszuladen. Er und sein Team mussten erkennen, dass die Musik nicht imstande ist, tiefe Feindesgräben, die aktuelle Brisanz aufweisen, zu befrieden.
„Todesfuge“ für Violine, Sprecher und Orchester
„Todesfuge“ für Violine, Sprecher und Orchester (Foto ECN)
Die Neuaufstellung des Konzerts bot jedoch Gelegenheit, konzeptionell eine Auftragsarbeit an einen weiteren ukrainischen Komponisten zu vergeben. Evgeni Orkin, seines Zeichens auch Klarinettist, vertonte Paul Celans Gedicht „Todesfuge“ für Violine, Sprecher und Orchester und lieferte damit ein beeindruckendes Werk ab. Man sollte Oksana Lyniv für ihre Standhaftigkeit danken, die es ermöglichte, diese neue Arbeit eines ukrainischen Komponisten vor einem großen Publikum in Wien zur Aufführung zu bringen.
Das Werk beginnt mit einer über Lautsprecher eingespielten Aufnahme, in welcher man auditiv an einer Radiosender-Suchaktion teilnimmt. Das rasch hörbare Rauschen, all jenen gut bekannt, die am Radio noch händisch Sender suchten, wird abgelöst von kurzen Sprachfetzen und musikalischen Einsprengseln, unter anderem dem Motiv des Schlagers „Heimat, deine Sterne“ aus dem Jahr 1941. Mit dieser einfachen Idee schafft es der Komponist, die Zuhörenden zurück in jene Zeit zu versetzen, in welcher der Nationalsozialismus in Europa wütete und Millionen Menschen in Konzentrationslagern umbrachte. In seiner darauffolgenden Orchestrierung schuf Orkin sehr direkt und gut verständlich die Gegenüberstellung zweier Welten, die in diesen Lagern aufeinandertrafen. Zum einen lebten dort NS-Schergen, die abends, nach ihrem menschenverachtenden Tagwerk, im warmen Haus ihren Feierabend genossen und dabei an ihre Heimat und sentimental an ihre Freundinnen und Frauen dachten. Zum anderen wird in der Komposition auch das Grauen der Inhaftierten hörbar, die selbst ihr Grab schaufeln und vor ihrer Hinrichtung auch noch musizieren mussten. Der Komponist wählte die Melodie des Heimat-Sternen-Schlagers symphonisch aufgemöbelt, als immer wieder erklingendes Thema. Die Idee, sowohl einen NS-Offizier im Text Paul Celans hörbar werden zu lassen als auch die Ausführungen der Häftlinge, die ihre Not mit lyrischen Metaphern umschreiben, setzte Philip Kelz als Erzähler eindringlich um. Er verstand es, die antipodischen Gefühlsmomente, die Celan kunstvoll einfing, höchst lebendig werden zu lassen. Gegen Ende des Werkes wurde Celans eigene Interpretation seiner Todesfuge eingespielt und durch einen musikalischen Schwebezustand untermalt.
Der Komponist verwendete eine ganze Reihe von Stilmitteln, welche das Leben in einem Konzentrationslager nachempfinden lassen. Romantisch klingende Takte, die von Pfeiftönen abgelöst wurden, um das Kommando an einen Hund zu verdeutlichen, waren zu hören. Aber auch das Klagen der Klarinette, Klezmer-Klänge oder eine Stelle, an welcher man lautes und schweres Atmen der Instrumente vernehmen konnte. Zusammen ergab dies einen eigenen, lebendigen Organismus, der mehr als nur komponierte Klänge und deren Strukturen ausstrahlte.
Ein dramaturgischer Kniff am Ende des Stückes, ließ die körperlichen Misshandlungen an den Menschen im KZ nicht nur hör-, sondern auch sichtbar werden. Kelz zerrte dabei so stark an seinem Hemdkragen, dass er diesen dabei zerriss. Auditiv verstärkt, hinterließ diese Aktion einen Nachhall des Entsetzens ob der Brutalität, die in den Konzentrationslagern verübt wurde. „Todesfuge“ für Violine, Sprecher und Orchester von Evgeni Orkin erwies sich mehr als eine Komposition für den Konzertsaal. Er schuf damit die Möglichkeit, sich an das, was man selbst nicht gesehen hat, zu erinnern und diese Erinnerung mit mehreren Sinnen wahrzunehmen.
Chapeau nicht nur an den Komponisten, sondern alle Mitwirkenden.
Unter Oksana Lyniv agierte an diesem Abend das von ihr gegründete YsOU Young symphony Orchestra of Ukraine, sowie im zweiten Werk von Jevhen Stankovych das Kyiv Symphony Orchestra und „The National Choir of Ukraine“, ‚Dumka‘.
Das Kaddish Requiem ‚Babyn Jar‘
Der Tenor Alexander Schulz und der Bassbariton Viktor Shevchenko begleiteten, ebenso wie Philip Kelz, das Kaddish Requiem ‚Babyn Jar‘, für das die Sängerinnen und Sänger des Chores aus der Ukraine angereist waren. Die Damen traten in langen, weißen Kleidern auf, die Assoziationen mit weißer Bestattungsgarderobe aufkommen ließen.
Foto ECN
1941 wurde in Kyiv an mehr als 33.000 jüdischen Menschen ein grausames Massaker verübt. Im Tal ‚Babyn Yar‘ metzelten deutsche NS- und Polizeieinheiten der Stadt die zusammengetriebenen Menschen grausam hin und verscharrten, bzw. verbrannten sie später, um keine Spuren zu hinterlassen. Die Verantwortlichen dieser beispiellosen Tat wurden aus verschiedenen Gründen nie zur Rechenschaft gezogen. Ein Erinnern daran war bis zum Fall der Kommunismus nicht möglich. Stankovych gelang mit seiner Komposition ein musikalisch ephemeres, dennoch die Zeit überdauerndes Werk, in welchem die Getöteten eine Stimme bekommen. Die siebensätzige Komposition ist mit einem Text von Dmytro Pawlytschko versehen. Darin wird nicht nur über die bestialische Tat erzählt. An einer Stelle, von Kelz gesprochen, kommt es zu einer Gottesanklage, in der es heißt: „Bedaure nicht unser Schicksal, bedaure nicht die menschliche Schande – selbst bedaure Dich, Herr!“ Damit spricht das menschliche Geschlecht keinen Gotteszweifel aus, sondern klagt ihn selbst ob seiner unvollkommenen Schöpfung an. Ein Gedankengang, der einzigartig zu sein scheint und der in dem Text zwischen unterwürfigen Gebeten und Frohlockungen der ewigen Ruhe eingebettet zu finden ist. Dass Kelz im zuvor von ihm zerschlissenen Hemd auftritt, verschränkt die beiden Werke in ihrer Idee, das Leid der Menschen nicht nur hör-, sondern zumindest in übertragener Weise auch sichtbar zu machen.
Eine absteigende, atonale Folge aus 10 Tönen bildet das Leitmotiv, das sich in verschiedenen Sätzen und unterschiedlichen Instrumentationen wiederfindet. Schleppend wandert es zu Beginn von den Streichern in die Bläser und erwartet bald einen süßen, lang anhaltenden Choreinsatz. Oft werden solche Phänomene nicht geboten, denn das, was der Chor besingt, hat nichts mit einer Lieblichkeit zu tun. Wie schon in der zuvor erklungenen Todesfuge verwendet auch Stankovych eine Klarinette, um mit ihr das Klagelied einzuleiten. Hörbar ist über weite Passagen auch ein leises, rhythmisches Paukenschlagen, ähnlich dem Takt eines Herzens. Bald wechseln laute Klangballungen mit leisen Passagen ab, dann wieder verfällt der Chor in einen rhythmisch akzentuierten Sprechgesang, der durch alle Stimmenregister wandert. Der Komponist versteht die menschlichen Stimmen nicht als Ergänzung der Instrumente, sondern als Erweiterung der musikalischen Ausdrucksmöglichkeiten des Orchesters, diesem ebenbürtig. Oksana Lyniv dirigiert mit vollem Körpereinsatz. Weit ausladende Gesten wechseln mit zarten ab, präzise angezeigte Einsätze geben den Orchestermitgliedern Sicherheit, gerade mit einer Partitur wie dieser, die bislang nicht oft gespielt wurde.
Ein weiteres Charakteristikum des Werkes ist ein verstärkter und vergrößerter Schlagwerkeinsatz. Dabei werden die Saiten des Klaviers genauso rhythmisch bearbeitet wie Glockenstäbe, Xylofone oder ein Gong. In einer dramatischen Szene hat der Tenor Schulz eine lange, intensive Passage zu bewerkstelligen, die ihm Kraft und Ausdauer abverlangt und von hoher Dramatik kündet. Shevchenkos Baritonlage ist häufiger im ruhigen Erzählmodus anzutreffen, immer jedoch mit einer beeindruckenden Fülle ausgestattet, die sowohl dem großen Orchester als auch dem Chor bestens standhält.
Kaddisch Requiem ‚Babyn Jar‘ wurde vom Publikum, in dem viele Ukrainerinnen und Ukrainern waren, intensiv gefeiert. Es wird als Erinnerungsmomentum nicht nur in die ukrainische Musikliteratur eingehen, sondern im besten Fall auch in jene von Resteuropa.
In Sichtweite des Kongress- und Theaterhauses von Bad Ischl befindet sich die ehemalige Villa des jüdischen Komponisten Oscar Straus (1870-1954). Phonetisch könnte man ihn der großen Strauß-Dynastie zuordnen, mit der er jedoch nichts zu tun hatte. Ganz im Gegenteil: Aufgrund etwaiger Verwechslungen ließ er das ursprünglich zweite s, das er am Namensende trug, sogar amtlich streichen. Anlässlich der Eröffnung der Kulturhauptstadt Bad Ischl und Salzkammergut 2024 wurde die Produktion der Komischen Oper Berlin „Eine Frau, die weiß, was sie will“ aus dem Jahr 2015 für zwei Abende nach Bad Ischl eingeladen. Ab diesem März wird das Stück in Berlin wieder aufgenommen. Die Entscheidung, Oscar Straus erklingen zu lassen und nicht auf den hier omnipräsenten Franz Lehár zurückzugreifen, macht Sinn. Denn, wie Elisabeth Schweeger, die künstlerische Leiterin der Kulturhauptstadt mehrfach betonte, war es ihr wichtig, auch auf die jüdische Vergangenheit der Stadt hinzuweisen. Eine Vergangenheit, die lange nicht aufgearbeitet wurde.
Eingang der Villa von Oscar Straus in Bad Ischl (Foto. European-Cultural-News)
Die Villa, in welcher der viel gereiste Komponist seinen Lebensabend verbrachte, steht zu einem Teil heute leer. Am Haupteingang liegen verwaist Zeitungen, nur im ersten Stock ist eine aktuelle Wohnsituation zu erkennen. Doch gerade dieses Haus könnte mehrere Romane allein über seinen ehemaligen Besitzer erzählen. Oscar Nathan Straus kam schon als Kind mit seinen Großeltern jeden Sommer, wie es im 19. Jahrhundert üblich war, nach Bad Ischl zur Sommerfrische. Hier erlebte er eine Stadt voller Musik. Blasmusik, öffentliche Konzerte im Kurpark, aber auch Aufführungen im Lehár -Theater oder auch im Kongresshaus standen auf der Tagesordnung. Bald wünschte sich der Junge zwei Instrumente – eine Trompete und eine Trommel. Seine liebenden Großeltern erfüllten ihm den Wunsch und dürften sich bald danach die ehemalige Beschaulichkeit der Ischler Sommerfrische zurückgewünscht haben. Denn Oscar beherrschte bald beide Instrumente und brachte das Kunststück zusammen, sie gleichzeitig zu spielen. Von seinem Wunsch, Komponist zu werden, konnte ihn seine Familie nicht mehr abbringen. Die Jugendanekdote, welche von einer der Stadtführerinnen gerne erzählt wird, beleuchtet gut das gesellschaftliche Umfeld wieder, in welchem das Einzelkind aufwuchs. Zugleich auch jene Stimmung, die Ischl damals zu einem Zentrum des kulturellen Sommerlebens in Mitteleuropa werden ließ.
Seiner Hartnäckigkeit verdankte er es schließlich, dass sein Berufswunsch letztlich von seiner Familie doch akzeptiert wurde. Ausschlag gab ein Attest des bekannten Musikkritikers Eduard Hanslick, der darin dem jungen Mann „Frische und Einfachheit“ in zwei seiner Liedkompositionen bescheinigte. Straus studierte in Wien, später in Berlin und verdiente sein erstes Geld als Kapellmeister in Brünn, Teplitz-Schönau sowie Mainz. Für das Berliner Kabarett „Überbrettl“ schrieb er über 500 Kabarett-Lieder, geschuldet auch dem Umstand, dass fast jede Aufführung tags darauf von der Zensur verboten wurde.
Oscar Straus: „Eine Frau, die weiß, was sie will“ (Foto: Iko Freese / drama-berlin.de)
Der finanzielle Erfolg stellte sich bei dieser Tätigkeit jedoch nicht ein, erst mit „Ein Walzertraum“, 1907 in Wien aufgeführt, gelang Straus sein großer Durchbruch. Sosehr Straus für seine „Operetten“ auch bekannt wurde, sosehr sollte man auch seine kritischen Lieder aus Berlin und die ersten Operetten wie „Die lustigen Nibelungen“ nicht vergessen. Letzte trug einen derart deutsch-kritischen Unterton, dass es bei einer Aufführung in Graz zu Tumulten kam und diese vom Spielplan abgesetzt werden musste. Untersuchungen, welche Straus und seinen Librettisten Fritz Oliven, einen Berliner Rechtsanwalt, der unter dem Pseudonym Rideamus Texte für ihn schrieb, zu Beginn des 20. Jahrhunderts beleuchten, zeigen einen Komponisten, der sich damals schon bewusst war, dass Zeiten anbrechen würden, die Gefahr für ihn bedeuten könnten. Ein Umstand, der sich mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten bewahrheiten sollte.
Oscar Straus: „Eine Frau, die weiß, was sie will“ (Foto: Iko Freese / drama-berlin.de)
Vor den Nazis floh der Straus zuerst von Berlin aus nach Bad Ischl, anschließend in die Schweiz, danach nach Paris und Südfrankreich und letztlich in die USA, wo er für Hollywoodfilme Musik komponierte. Ein Sohn starb an der Front im 1. Weltkrieg, ein weiterer wurde 1944 im Konzentrationslager in Auschwitz ermordet. Nur zwei seiner fünf Kinder überlebten den Vater. Kurz nachdem er 1948 die amerikanische Staatsbürgerschaft erhalten hatte, kehrte Oscar Straus nach Bad Ischl zurück.
Als „Operette“ angekündigt, erwies sich „Eine Frau, die weiß, was sie will“ in der Fassung des Regisseurs Barrie Kosky, viel eher als eine rasante Nummern-Revue mit atemberaubenden Kostüm- und Charakterwechseln. Dagmar Manzel und Max Hopp schlüpften in insgesamt 20 Figuren, zum Teil sogar gleichzeitig in zwei verschiedene. Die Inszenierung, musikalisch geleitet von Adam Benzwi, versetzte das Geschehen in das Berlin der 30-er Jahre, also in jene Zeit, in welcher das Werk auch entstanden war. Ausgestattet mit einem einzigen Bühnenbild wird die Geschichte einer jungen, verwöhnten Frau erzählt, die nicht weiß, dass eine berühmte
Oscar Straus: „Eine Frau, die weiß, was sie will“ (Foto: Iko Freese / drama-berlin.de)
Operettendiva ihre Mutter ist. Vielmehr lebt sie in der irrigen Annahme, dass ihr diese Soubrette ihren Mann ausspannen will. Erst in der letzten Szene lösen sich die psychologischen Verwicklungen auf. Es sind die schnellen Rollenwechsel, aufgrund der Minimalbesetzung mit zwei Personen und die überzeichneten Figuren, die keinen verkitschten Operettenstaub erkennen lassen. Aber nicht nur die aberwitzige Spielfreude, die von Manzel und Hopp gezeigt wurden, sondern auch der Witz der Liedtexte selbst, bescherte dem Publikum Heiterkeit. „Warum soll eine Frau kein Verhältnis haben?“ ist eines der wohl berühmtesten Lieder, das, aus dem Werk ausgekoppelt, in vielen Chanson-Abenden des deutschsprachigen Raumes zu hören war und auch wieder zu hören ist. Oscar Straus kann in diesem Werk als jemand wahrgenommen werden, der bestens auf der Unterhaltungsklaviatur des Musiktheaters seiner Zeit spielen konnte. Die Chance, dass seine Ohrwürmer auch zuhause nachgesungen werden konnten, hatte er genauso zu nutzen gewusst, wie die subtile Sichtbarmachung von moralischen Anforderungen, welchen die Menschen sowohl in den 30er-Jahren als auch heute nicht gerecht werden können.
2021 wurde anlässlich des „Festivals der Regionen“ ein Projekt in Angriff genommen, in dessen Verlauf eine Landkarte mit „Stecknadeln der Erinnerung“ für die Stadt Bad Ischl erstellt wurde. Das Straus-Haus ist darauf nicht markiert, vielleicht auch, da es in jener Zeit, welche die Spazier-Route „Jüdisches Ischl“ beleuchtet – nämlich die 30er- und 40er-Jahre – noch nicht in Besitz von Oskar Straus war. Es wäre jedoch an der Zeit, die Geschichte des Komponisten einem größeren Kreis von Interessierten bekannt zu machen, nicht nur Musikbegeisterten, die in den meisten Fällen selbst nicht darüber Bescheid wissen.
Die Aufführung in Bad Ischl darf man deshalb als Aufforderung zu weiteren, eigenen Recherchen ansehen. Was wir hier mit weiterführenden Links gerne unterstützen:
Für das Publikum gestaltete sich die Raumsituation jedoch anders als gewohnt. Das Parkett war in seiner Mitte von den Sesselreihen befreit. Auf dem Konzertpodium und entlang der seitlichen Sitzreihen waren insgesamt 50 Klaviere und ein Cembalo sowie das Klangforum mit seinen Instrumenten verteilt. Auf diese Weise war es möglich, während der Aufführung im Saal seinen Platz zu wechseln, was jedoch aufgrund der vielen Menschen nur wenige tatsächlich auch taten. Zu dicht stand man etwas über eine Stunde lang nebeneinander, entschädigt jedoch durch die Musik, die als Programm-Musik bezeichnet werden kann.
Im Vorfeld schon wurden einzelne Teile des Klanggeschehens analysiert und besprochen, wurde dem Werk eine breite Palette an unterschiedlichen klanglichen Ausdrucksmitteln attestiert. Aus diesem Grund soll hier der Fokus auf andere Ebenen der Komposition mit dem Titel „11.000 Saiten“ gelegt werden.
Zuallererst verblüfft die Tatsache, dass Haas mit einem Klangapparat arbeitet, der sehr ungewöhnlich ist. Neben den herkömmlichen Streichern und Bläsern, sowie Percussion-Instrumenten verlangt er ein Cembalo und 50 Klaviere, die von der Firma Hailun zur Verfügung gestellt wurden. Auf deren Homepage liest man, dass das seit 20 Jahren bestehende chinesische Unternehmen Klaviere mit hohem Anspruch zu günstigen Preisen anbieten möchte und weiter, dass für die technische Entwicklung das Fachwissen des Wiener Klavierbauers Veletzky herangezogen wurde. Mit diesem Konzert hat sich der Bekanntheitsgrad von Hailun nicht nur bei jenen 50 Studierenden der MDW gesteigert, die auf den Klavieren spielten. Auch jener Teil des Publikums, der im Parterre vor den Instrumenten zu stehen kam, dürfte das erste Mal den Firmennamen auf den Instrumenten gelesen haben.
11.000 Saiten von Georg Friedrich Haas (Foto: Markus Sepperer)
Haas lässt, zur großen Verblüffung, das Stück mit einigen Takten Cembalo-Musik beginnen. Die Orchesterbegleitung, die rasch einsetzt, verfremdet das Geschehen ein wenig und holt es aus einem barocken Umfeld in die Gegenwart. Kaum meint man, im nächsten Moment einem Feen- und Zauberspiel beizuwohnen, schon wird dieser Eindruck durch einen großen, symphonischen Schlussakkord abgelöst. Einem Schlussakkord, der kurioserweise ganz zu Beginn des Werkes steht. Ihm folgen Klänge, die an die Zündung einer Rakete denken lassen, ein Hörerlebnis, weitab von einem historischen Vorbild. Ab diesem Zeitpunkt beginnt ein sich wiederholendes, zugleich jedoch ständig wandelndes Kompositionsmuster, das durch Tension und Entspannung gekennzeichnet ist. Fast hat es den Anschein, als ob das klangliche Geschehen etwas Organisches wiedergibt, dessen Atmung wesentlich breiter und länger angelegt ist als jene von uns Menschen. Tatsächlich arbeitet Haas mit extrem assoziativem Material. Einen Großteil davon widmet er der Wiedergabe von technischen Klangereignissen. Dazu gehören, wie schon beschrieben, das Zünden einer Rakete oder das Aufheulen von Motoren, bei welchen man sich gut den Himmel voll bedrohlich wirkender Propeller-Flugzeuge vorstellen kann. Sobald ein harmonischer Wohlklang auftaucht, wird er bald darauf dissonant abgestoppt. Immer wieder sind es die Pauken, die ein Klanggeschehen abrupt beenden. Nervöse Passagen, die Unheil verkündend wahrgenommen werden können, werden durch dunkel gefärbte Akkorde, dunkles Blech und ein Zittern in den Klavierstimmen erzeugt. Lange begleitet dabei ein tiefer Ton der Bläser die Erzählung, die sich, wie in guten Theater- oder Filmstücken, erst am Ende des Geschehens zu einem großen Ganzen fügt.
Haas legt seiner Komposition augenscheinlich eine Dramaturgie zugrunde, die als knappe Erzählung der Menschheitsgeschichte aufgefasst werden kann. Dabei beginnt er im Barock und wandert anschließend in wenigen Takten bis herauf in unsere Zeit. Immer wieder hört man zwischendurch die Klaviere, aber auch einzelne andere Instrumente „Musik machen“ – kleine Abfolgen von Tönen zu spielen, Akkorde zu formen oder auch ausformulierte Arpeggien anzuschlagen, ganz so, wie es Musikerinnen und Musiker rund um den Erdball tagtäglich tun. Ihnen entgegengesetzt bekommt die Technik ebenfalls einen hörbaren Raum. Die für Haas so typischen Klangschrauben, die sich permanent aufwärts bewegen, machen dennoch rasch klar, dass die Aufwärtsspirale nicht unendlich fortsetzbar ist. Mit ihnen verbindet man keine erbaulichen Raumflüge mehr, denen man rettend beiwohnen kann. Ihr wahrer Gehalt bleibt diffus und zeigt sich erst ein wenig später, als das Klangmaterial umgedreht wird und die Höhe des musikalischen Geschehens förmlich Stück für Stück in sich zusammenzufallen und zu zerbröseln beginnt.
11.000 Saiten von Georg Friedrich Haas (Foto: Markus Sepperer)
11.000 Saiten von Georg Friedrich Haas (Foto: Markus Sepperer)
11.000 Saiten von Georg Friedrich Haas (Foto: Markus Sepperer)
Wenn lang gezogene Klangflächen gespielt werden, erweitert sich das Hörspektrum durch die im mikrotonalen Abstand gestimmten Klaviere, da die additiven Akkorde weit weniger statisch erscheinen als bei herkömmlichen, gleich gestimmten Saiteninstrumenten. Der Einsatz von Bongos, die an das Prasseln eines plötzlichen Regengusses denken lassen, oder das hohe Gezirpe von Streichern und Bläsern, in welchen Vogelstimmen hörbar werden, vermitteln eine direkte organische Verbindung zu unserer Welt. Diese ist jedoch weder heiter noch fröhlich. Was da zu hören ist, ist vielmehr ein Jammern und Zetern mit einer unterschwelligen Angst vor dem Kommenden. Neben den kleinen Lebewesen, die vor dem inneren Auge hier erscheinen, sind es aber auch überdimensioniert große, die zu brüllen beginnen, als ob ihnen ihre letzte Stunde geschlagen hätte.
Und tatsächlich tritt das, was die Tierstimmen schon vorausahnten, auch wirklich ein. Mit einer unglaublichen Wucht bricht der auditive Supergau in den Saal. Alle Instrumente, vorrangig das Schlagwerk, kommen zum Einsatz, um eine Explosion hörbar zu machen, die wir zum Glück gar nicht kennen, sondern uns nur vorstellen. Der Sound ist so laut, dass der Boden unter den Füßen zu vibrieren beginnt, so heftig, dass man meint, man könne die Luft zerschneiden. Nicht einmal ereilt das Publikum dieses multidimensionale Erfahrung, sondern mehrfach hintereinander, mit abnehmender Intensität, so oft, bis die Explosionen wie aus der Ferne wahrgenommen werden. Das Hochschrauben der Klänge und ihr späterer Zerfall, die Nervosität der unbekannten, aber doch vorstellbaren Tiere, das Abheben der Rakete und die atomaren Explosionsgeräusche nach einer Kernexplosion, all das fügt sich in der Replik zu einem musikalischen Drama, das keine Worte benötigt.
In diesem lässt Haas unsere eigene Position jedoch offen. Wer hat sich im Raumschiff auf die Reise von der Erde weg gemacht? Wer ist hier geblieben und hat – ungeachtet des drohenden Kollapses fröhlich weiter musiziert? Wo befinden wir uns aber, die wir die Explosionen gehört und gespürt haben? Eine Wahrnehmung ist ja nur dann möglich, wenn wir das Inferno unbeschadet überlebt haben. Aber von wo aus? Haben wir das Ende unseres Planeten miterlebt oder ist es nur eine Vorstellung, die uns auffordert, aktiv zu werden und alles zu unternehmen, damit sich unsere Natur wieder erholen kann? Gerade diese Offenheit des Werkes macht es so spannend und diskussionswürdig.
11.000 Saiten von Georg Friedrich Haas (Foto: Markus Sepperer)
11.000 Saiten von Georg Friedrich Haas (Foto: Markus Sepperer)
11.000 Saiten von Georg Friedrich Haas (Foto: Markus Sepperer)
Georg Friedrich Haas „11.000 Saiten“ ist vielschichtig, nicht nur wegen der mannigfaltigen Interpretationsmöglichkeiten. Es zeigt auch seine Meisterschaft, organische Klänge zu produzieren, die man heute von computergesteuerten Programmen her kennt. Der Umstand, dass das Publikum minutenlangen, frenetischen Beifall spendete, macht deutlich, dass diese Leistung verstanden wurde und breite Zustimmung erreichte.
Zwar liegt das auf der Hand, denn sein Orgien Mysterien Theater ist ohne Unterlass von Live-Musik begleitet. Dass Nitsch selbst jedoch die Kompositionen geschrieben hat, gelangte nicht an eine größere Öffentlichkeit.
Obwohl seine Stücke ursprünglich nur für die Performances gedacht waren und er selbst einmal davon sprach, dass sie nur in dem Kontext aufgeführt werden sollten, revidierte er später diese Ansicht. Seine Symphonie Nr. 9 – „Die Ägyptische“ – wollte er doch wenigstens einmal in einem Konzertsaal hören. Die Tatsache, dass sie nun, posthum, im Wiener Musikverein erklang, gespielt vom Niederösterreichischen Tonkünstlerorchester unter der Leitung des jungen Dirigenten Patrick Hahn, hätte ihm wahrscheinlich gefallen.
Tonkünstler-Orchester vor dem Musikverein (Foto: Martina Siebenhandl)
Webern, Wagner und Skrjabin
Der Titel des Konzertes war Programm, denn im ersten Teil des Abends wurden drei Stücke präsentiert, die für Hermann Nitsch nach eigenen Aussagen wichtig waren. Zu Beginn wurden Anton Weberns „6 Stücke für Orchester op. 6“ aufgeführt: eine radikale Minimalisierung von musikalischen Ideen, bis hin zur Skizzenhaftigkeit. Danach erklangen Richard Wagners Vorspiel von „Tristan und Isolde“ sowie Alexander Skrjabins „«Le Poème de l‘Extase» op. 54.Der Dirigent nahm sich die Freiheit, die Stücke so aneinanderzusetzen, dass keine Pause entstand und somit zu Wagners Werk nicht geklatscht werden konnte. Vielmehr verdeutlichte der fließende Übergang der beiden Kompositionen ihre starke Nähe und erlaubte einen Vergleich, der direkter nicht gestaltet werden kann.
Die Idee passte hervorragend zu dem Abend, in dessen zweiten Teil eine Musik zu hören war, die – obgleich sie sich in die zeitgenössische Musikproduktion perfekt einreiht – dennoch für einige aus dem Publikum eine Herausforderung darstellte.
Albert Hosp, bekannt von seinen profunden Ö1-Moderationen, gestaltete nicht nur eine Einführung zum kompositorischen Schaffen von Nitsch mit musikalischen Vergleichsbeispielen, sondern moderierte auch im großen Saal. Dabei legte er Wert auf den Blick des Neuen in der Musik, dem auch Webern und Schönberg im Musikverein einst ausgesetzt waren.
Symphonie Nr. 9 „Die Ägyptische“
Den Titel „Die Ägyptische“ wählte Nitsch, da er in der Komposition Erinnerungen an seine Ägyptenreise verarbeitet hatte. Im Herbst 2010 äußerte er sich in den Doblinger Verlagsnachrichten „Klang:punkte 31“ folgendermaßen: „Die Wahl des Beinamens ‚Ägyptische‘ für diese Symphonie resultiert aus den Eindrücken meiner Ägypten-Reise zu Beginn dieses Jahres [2009] sowie aus der damit verbundenen
leibhaftigen Begegnung mit der monumental-archaischen Kultur dieses Landes. Inhaltlich wird die ‚Ägyptische‘ von ‚dionysischer‘ Ekstase ebenso geprägt wie von ruhigeren ‚apollinischen‘ Passagen. Sich wellenförmig ausbreitende Farbklangschichtungen und die Majestät unendlicher Weiten des Klangraumes sollen dem Hörer das Eintauchen in imaginäre, urmythische, meist unbewusste tiefe Schichten unseres Seins ermöglichen – wie dies ja auch im jahrtausendealten ‚Ägyptischen Totenbuch‘ auf sprachmagische Art bereits anklingt.“
Tatsächlich sind in der Symphonie Hörmomente verarbeitet, die an archaische Gesellschaftsstrukturen und ebensolche Rituale erinnern. Vor allem immer wiederkehrende Passagen in den tiefen Bläsern und Streichern, unterfüttert vom gesamten restlichen Klangapparat, breit ausgewalzt, majestätisch und zugleich Furcht einflößend, lassen leicht Bilder der ägyptischen Totenstätten und auch der dazugehörigen Rituale aufkommen. Dennoch erfährt man in diesem Werk auch eine Unmittelbarkeit an österreichischer Musiktradition, die einen direkt zu Nitschs Orgien Mysterien Spielen beamen. Neben dem Symphonieorchester agierte die Musikkapelle Zellerndorf in großer Besetzung von unterschiedlichen Saalpositionen aus. Zu Beginn hatte sie Aufstellung im Bereich der Stehplätze genommen, dann wieder agierte sie vom Balkon aus. An anderer Stelle marschierte die Kapelle durch den Saal, inklusive Stabführer und Marketenderinnen. Auftritte der Blasmusik sind auch in Prinzendorf ein wesentlicher Bestandteil der Aktionen, im Musikverein verstärkte sich jedoch die Idee der gegensätzlichen musikalischen Positionen. Das zeugt einerseits von einer großen Portion Nitsch-Humor, andererseits liegt aber auch der Vergleich mit der historischen Aufführungspraxis der mehrchörigen Renaissancemusik Italiens auf der Hand, für die in den Kirchen einzelne Ensembleeinheiten an unterschiedlichen Raumpositionen verteilt wurden. So reizvoll der Geschichtsvergleich auch ist, sosehr kann aber auch der Vergleich mit der zeitgenössischen Musikpraxis in den Konzertsälen herangezogen werden, in welcher „Raummusik“ das Hörerlebnis auf eine andere Dimension schieben soll.
Hermann Nitsch (Foto: Ferry Nielsen)
Nitsch selbst erklärte sein Werk als viersätzig:
satz: gewaltige exposition
satz: meditatives adagio
satz: ein oft bis ins dämonische ausladendes scherzo
satz: grossangelegtes, positives oder tragisches finale.
Neben den unterschiedlichen emotionalen Ausdruckswerten, welche diese Sätze kennzeichnen, ist es vielmehr ein besonders Stilmittel, das ihnen eigen ist und sich nicht an die Viersatz-Teilung hält. Immer wieder kommt es zu abrupten, zum Teil überhaupt nicht vorhersehbaren, im Fortissimo gespielten Abbrüchen, welche in das musikalische Geschehen brutal einschneiden. Einige dieser Tuschs sind vorhersehbar, andere kommen mit voller Wucht unerwartet und schrecken das Publikum hörbar auf. Neben dieser musikalischen Urgewalt gibt es noch ein zweites, markantes Hörerlebnis dieses Werkes. Es ist der Einsatz der Orgel, die gleich zu Beginn allein ein Intervall intoniert, bis andere Instrumente brachial und mit voller Wucht einsteigen und die Orgel übertönen. Immer wieder kommt jedoch im Laufe der Symphonie dieser Eingangs-Orgelton zwischen den Klangmassen zum Vorschein, sodass der Eindruck entsteht, die Musik würde sich entlang dieses musikalischen Fadens hanteln und sich daran festhalten.
Von Beginn an lösen sich zarte, melodische Ereignisse mit wuchtigen Klangballungen ab. Eine einfache Melodie, von der Piccolo-Flöte vorgetragen, mäandert anschließend durch das ganze Orchester, um dann, unerwartet, von der Blasmusikkapelle aufgenommen zu werden, die, am Saal-Ende positioniert, auf ihren Einsatz gewartet hat. Dieses kleine Motiv entpuppt sich als Wanderer, der immer wieder unerwartet anzutreffen ist. Manches Mal zerfällt es, manches Mal verschieben sich seine Klänge ins Dissonante, manches Mal beruhigt es die tobenden Klangwogen.
Ebenfalls markant gibt sich das Scherzo, in welchem das musikalische Material der Streicher und Bläser ausgelassen zu hüpfen und springen beginnt. Die beinahe kindliche Freude hält aber nicht lange an und wird von den Holzbläsern mit einer schrägen Melodie-Verfremdung in einen neuen emotionalen Zustand übergeführt. Ein stark rhythmisch gegliederter Teil, an dem das Percussion-Ensemble seine helle Freude hat, steht vor einer dunklen Klangballung.
Der letzte Satz, wie die vorhergegangen nicht durch eine Pause unterbrochen, wartet mit lang gezogenen Akkordflächen auf, die eine Art Schwebezustand hervorrufen. Ein Flirren und Wogen in den Bläsern und Streichern, ohne herausragende rhythmische Akzente, macht dies möglich. Mehrfach noch bäumt sich das Orchester auf, mehrfach noch fallen die Klangmassen in sich zusammen oder werden abrupt unterbrochen und mehrfach noch sind die archaischen Blecheinsätze mit tiefen Bässen gekoppelt, angsteinflößend. So ist es logisch, dass das Finale nicht anders als mit dramatisch eingesetzten Pauken ausfällt.
Die Kompositionsweise von Hermann Nitsch, der sich auf sein eigenes Notationssystem verließ, hält zu einem großen Teil neben visuellen Markierungen auch sprachliche Anweisungen bereit. Diese unkonventionelle Notation erforderte jedoch eine weitere Bearbeitung für die Musizierenden, die von Peter Jan Marthé vorgenommen worden war, der neben Hahn einen großen Anteil am Gelingen des Konzertes hatte. Der große Reiz für das Orchester bestand sicher auch darin, dass gewisse Stellen improvisatorisch ausgelegt werden konnten, was bedeutete, dass die Musizierenden so dem Konzert ihren unverwechselbaren, eigenen Stempel mit aufdrücken durften.
Das Leben in seiner ganzen Vielfalt, von seiner kindlichen Ausgelassenheit bis zu seinem beängstigenden Ende und darüber hinaus – all das ist in der Neunten von Nitsch zu hören. Dass ihm zugleich auch ein logisch nachvollziehbarer Spagat zwischen Volksmusik und symphonischem Werk gelang, verleiht dem Werk einen eigenen Platz in der zeitgenössischen Musikproduktion.
„IX KLA VIER E“ nannte sich die rund halbstündige Performance von Nick Acorne, für die im Vorraum 3×3 Klaviere übereinander aufgebaut worden waren. Vor ihnen erstreckte sich ein Gerüst, das von Acorne behende erklommen werden konnte. Ausgestattet mit einem Helm und einem Hüftgurt, an dem allerlei Küchengerät hing, durch ein Seil gegengesichert, schwang er sich nicht von Ast zu Ast, sondern von Klavier zu Klavier, um auf jedem kurze Passagen zu spielen. Sie alle ergaben eine wahrlich atemraubende Komposition – zuallererst jedoch für den Pianisten selbst. Musste er doch jedes Mal einige Höhenmeter überwinden, sowohl nach oben als auch nach unten oder auf den Metallverstrebungen sich quer entlanghangelnd, um zum nächsten Instrument zu gelangen. Die Klaviere selbst waren präpariert und wiesen unterschiedliche Klangcharakteristiken auf.
„IX Kla vier e“ (Foto: ORF musikprotokoll/Martin Gross)
Das Um und Auf jeder Klavierlektion – die richtige Sitz- und Handhaltung führte sich bei dieser Performance ad absurdum. Musste Acorne in den höheren Regionen doch hängend im Seil Halt finden oder sich zum Teil im untersten Bereich vor die Klaviere knien. Erstaunlich war, dass sich trotz der sportlichen Unbillen dennoch eine improvisierte Komposition ergab, die sich auch ohne Klettereinlagen hören lassen konnte. Dass sich jede Vorstellung – insgesamt waren es drei – anders gestaltete, liegt bei dem Konzept auf der Hand. Der Künstler, der zuvor einen Kletterkurs für Anfänger absolvierte, stellte in einem Interview mit Daniela Fietzek fest, dass er die körperliche Anstrengung nicht unterschätzen würde, „aber ich weiß von mir selbst, sobald es um die Kunst geht, finde ich immer Ressourcen in meinem Körper.“
„IX Kla vier e“ (Foto: ORF musikprotokoll/Martin Gross)
Die farblich unterschiedlichen Socken bei der 2. Aufführung – einer war gelb, der andere blau – sowie die kurze Zugabe – auf dem Kopf im Seil hängend, sprachen eine deutliche Sprache.
Man darf zwar die körperliche und künstlerische Leistung von Nick Acorne würdigen, zugleich aber nicht vergessen, dass sein Tun auch mit einer großen Menge Humor gespickt ist. Lachen und Staunen waren gleichermaßen erlaubt.
Am Beginn stand Sappho / Bioluminescence von Liza Lim auf dem Programm. In ihrer Komposition wollte sie „einen Raum für Spekulationen eröffnen“, was aufgrund des Titels ein Leichtes ist. Lim spricht sowohl von der antiken Schriftstellerin, über die wir mehr ahnen, als das von ihr überliefert wäre, aber auch von einem Oktopus, der sich in einen Sternenhimmel verwandeln kann, um so seine Feinde zu täuschen. Ein Zittern in den Flöten, das in das Orchester übergeht, steht am Beginn. Bald schon ist eine harmonische Abfolge in den Bläserstimmen zu hören, die stark an die Praxis von Filmmusik erinnert. Hauptakteure sind immer wieder die Hörner, die gut hörbar aus dem Orchester herausstechen.
Marin Alsop und das RSO (Foto: ORF musikprotokoll/Martin Gross)
Auffallend und charakteristisch ist auch, dass das gesamte Instrumentarium beinahe im Dauereinsatz agiert. Glockenschläge, flirrende Geigen und eine rüde Interruption der Harfen – die noch mehrfach zu hören sein wird, folgen. Wieder ist es aber ein Bläserwohlklang, der sich vom übrigen Geschehen abhebt. Nach einem majestätischen Orchesterklang und sphärischen Streichern, erklingt das Zittern, das zu Beginn zu vernehmen war, abermals. Sowohl die Blech- als auch die Holzbläser bekommen ihren eigenen Part, wobei immer wieder ein Wohlklang durch das Instrumentarium fließt. Aber auch ein kleines Geigensolo darf sich präsentieren, unterstützt von kleinen Harfeneinsprengseln. Immer wieder wird das Schöne, in das man sich gerne fallen lässt, von unerwartet harten Klängen wie von einem Xylophon, einem Vibraphon oder Harfen unterbrochen. Dass am Ende einer Art Schwebezustand beschrieben wird, fügt sich gut und logisch an das zuvor Gehörte. Ein schönes Werk, das Lust macht, mehr von der Komponistin zu hören.
Karl Heinz Schütz als Solist an der Flöte (Foto: ORF musikprotokoll/Martin Gross)
Der zweite Programmpunkt „making of – intimacy“ stammt von Clemens Gadenstätter und ist für Soloflöte und Orchester verfasst. Karl-Heinz Schütz übernahm den anspruchsvollen Solistenpart und reizte dabei eine breite Klangpalette seines Instrumentes aus. Den Beginn macht das gesamte Orchester gleichzeitig in einem aufgeregten, raschen Duktus. Die Flöte, die kurz darauf hörbar wird, wird vom großen Klangapparat rasch genutzt, um auf sie zu reagieren. Dieses Spiel zwischen Vorgabe und Reaktion wird sich bald umgekehrt, nach einem wilden Zwischenspiel ohne Flöte, wiederholen. So intensiv der Beginn war, so melancholisch setzt sich bald danach ein Flötensolo in den Raum, dessen Klageton abermals vom gesamten Instrumentarium aufgenommen wird. Das, was eben noch an Trauer hörbar war, verändert sich atmosphärisch in ein Aufbegehren. Schlagen und lautes Blech, ein Aufbrüllen und laute Trommeln prägen diesen Teil. Wie schon zuvor ändert sich das Geschehen komplett und zu Flüsterstimmen bleibt die leise Flöte lange auf einem Ton. Die lange, ruhige Passage ist auch durch ein zartes Solo gekennzeichnet, das vom Flötisten auch stimmlich während des Spiels begleitet wird. Währenddessen agiert das Orchester wie ein schlafendes Tier, das auf die Dynamik eines Flatterzungeneinsatzes von Schütz und dessen Läufe reagiert. Eine darauffolgende Klangverdichtung mit vollem Orchestereinsatz begibt sich aufwühlend in einen brüllenden Zustand, wie der eines waidwunden Tiers. Nun ist es an der Flöte, die an- und absteigenden Läufe des Orchesters zu übernehmen und ihm danach wieder die Bühne zu überlassen. Glocken, Becken, ein aufbrüllendes Blech, harte Schläge und Klopfen kennzeichnen die heftige Passage, die abermals von einer langen, leisen Passage mit Stimmhauchen abgelöst wird. Wie zuvor flammt das Geschehen abermals auf, um sich rasch wieder zu beruhigen. Zu hören sind nun Stimmen, dunkles Blech und eine flatternde Flöte – bis alles in eine lange ruhige Passage übergeht, die langsam verweht. Es ist ein Auf und Ab, ein emotionales Klagen und Brüllen genauso wie ein in sich gekehrtes, melancholisches Verweilen, das in Gadenstätters musikalische Sprache verwandelt wurde. An oberster Stelle stehen in diesem Werk hörbar gewordene Emotionen. Emotionen, welche vom Publikum ähnlich, aber nicht ident ausgelegt werden können und damit für jede und jeden genug eigenen interpretatorischen Spielraum bereithalten. Auch „strange bird – no longer navigating by a star” von Clara Iannotta, beschreibt emotionale Zustände, in welchen die Metapher eines seltsamen, flatternden Vogels, aufgenommen ist, „dessen zielloses Kreisen die Quelle der Schreie ist, die auf einem leeren Platz widerhallen“ – so die Komponistin. Ihr Klangmaterial ist nicht immer genau definierbar, eine E-Gitarre wird häufig als Rhythmusinstrument eingesetzt, Geigenbögen streichen an Becken entlang, tiefes Blechbrummen markiert einen düsteren Gesamteindruck. Immer wieder kommt es zu aufgeregten Zwitschergeräuschen und Zuständen, in welchen es den Anschein hat, als bliebe die Zeit stehen. Mit Vogellauten endet der Emil-Breisach-Kompositionsauftrag 2023 und hinterlässt den Eindruck, mithilfe der Musik kurz in einen psychischen Abgrund geblickt zu haben.
„Scorching Scherzo“ by Bernhard Gander, am Klavier Jonas Ahonen (Photo: ORF musikprotokoll/Martin Gross)
„Scorching Scherzo“ by Bernhard Gander, am Klavier Jonas Ahonen (Photo: ORF musikprotokoll/Martin Gross)
Am Ende der Konzertreihe stand „Scorching Scherzo“, ein Klavierkonzert von Bernhard Gander. Das Werk ist ein typischer „Gander“: Intensiv, pulsierend, aufpeitschend, furios. Und es belässt das Klavier in seinem ursprünglichen Aggregatzustand, ohne Präparierung oder rhythmische Erweiterungsmöglichkeiten. Diese sind auch nicht nötig, so furios ist der Part größtenteils, der ihm zugedacht ist. Joonas Ahonen benötigt Kraft und Ausdauer, um die raschen Akkordabfolgen dem Orchester so entgegenzusetzen, dass sie an der Klangspitze stehen bleiben und nicht von den Instrumenten übertönt werden. Ein einpeitschender, jazziger Rhythmus, begleitet von Pauken und Bässen zu Beginn, sowie ansteigende, repetitive Läufe, die in Bassakkorden abschließen, gehen sofort ins Ohr. Die Wildheit, die zu Beginn schon ihr Gesicht gezeigt hat, kehrt immer wieder und zerfällt an einer Stelle erst im Solopart des Klavieres. Dieses nimmt dabei die ansteigenden Läufe der Bläser, die zu Beginn zu hören waren, auf, bis sich das Orchester wieder wild zurückmeldet. Ein abermaliges Solo mit kurzen Stoßläufen lässt eine harmonische Struktur aus dem 19. Jahrhundert erkennen, die wieder von kurzen Läufen unterbrochen wird, aber abermals eine Melodie eingeschoben bekommt. Schief setzten sich die Streicher mit einer dennoch lieblichen Klangfarbe dazu und erfahren mit den Celli und wilden Pauken einen abermaligen Beginn zu einem furiosen Part. Ein wilder Rhythmus, hetzend und atemlos erfasst das Orchester und stülpt sich über das Klavier, das nun kaum mehr hörbar ist. Das Geschehen bewegt sich in einem Part, der von den Bässen, tiefem Blech und Holz geprägt ist und für sich allein, ausgekoppelt, schon ein eigenes, beeindruckendes Werk darstellen würde. Wilde Akkordabfolgen mit ebensolchen Läufen, unterstützt abermals vom ganzen Orchester, bilden gegen Ende der Komposition einen weiteren Höhepunkt, der abrupt endet und in einen abwechslungsreichen, zarten Teil mündet, der vom Klavier und den Geigen getragen wird. Nun sind es keine ansteigenden, sondern abwärts laufende Spiralen in hellem Dur, die eine neue Farbe ins Geschehen bringen. Der Einfall, im Finale jene Läufe wieder erklingen zu lassen, die zu Beginn im Bass des Klavieres hörbar waren, dieses Mal jedoch im Diskant, bildet eine wunderbare Klammer, mit welcher das Konzert endet. Es ist die Kombination aus der mitreißenden Wildheit des technisch anspruchsvollen Klavierparts und den Zitaten aus der romantischen Klavierliteratur, die das Publikum extrem begeisterte. Viermal holte es Gander, Alsop und Ahonen zur Akklamation auf die Bühne zurück. Ein Umstand, der bei Aufführungen von zeitgenössischer Musik eine absolute Ausnahme bildet. Mit diesem Abend bot das musikprotokoll eine Klang-Opulenz, die zugleich auch aufzeigte, dass Kompositionen für großes Orchester nichts von ihrer Faszination eingebüßt haben. Sehr zur Freude der Zuhörerschaft.