Ein „Wurzelort“ mit Geschichte
27. Juni 2023
Einst waren auf einem bestimmten Flecken Erde in der Mitte Europas nur Berge und ein Wald. Für unendlich lange Zeit. Dann kamen die Menschen und trieben ihr Unwesen. Nachdem endlich alles von ihnen gerodet und ruiniert worden war, gibt es jetzt an diesem bestimmten Flecken Erde nun wieder nur Berge und Wälder.
Michaela Preiner
Theater
Foto: (Marcella Ruiz Cruz)

Diese Rahmenhandlung, die der rumänische Autor Thomas Perle seinem Stück „Karpatenflecken“ verlieh, ist unspektakulär bis auf die Tatsache, dass „der Berg“ und „der Wald“ im Vestibül des Burgtheaters eine menschliche Gestalt bekommen. Elisabeth Augustin und Stefanie Dvorak sinnieren zu Beginn und am Schluss der Aufführung über ihr Natur-Dasein und die menschliche Plage, von der sie heimgesucht wurden, die nun aber offenbar an ihr Ende gekommen zu sein scheint.

Die Hauptgeschichte, die auf diese Art kunstvoll umrahmt wird, hat es jedoch in sich. Wirft sie doch ein Streiflicht auf eine kleine Stadt in den Karpaten im Norden Rumäniens, die unter Maria Theresias Herrschaft von österreichischen Aussiedlern dem Wald abgetrotzt und im Laufe der Jahrhunderte auch von Slawen aus verschiedenen Gegenden bevölkert worden war. Mit Rückblenden in das Jahr 1777, 1937, 1940 bis zur Revolution 1989 und herauf in unser aktuelles Jahr 2023, sowie anhand der Erzählungen der letzten drei Generationen, wird lebendig, was man landläufig unter Geschichte versteht.

karpatenflecken c Marcella Ruiz Cruz 105A2226 1

karpatenflecken / Vestibül (Foto: Marcella Ruiz Cruz)

Unter der Regie von Mira Stadler verkörpert Augustin die erzählende Großmutter und Dvorak deren Tochter, sowie die Schwester der Großmutter. Reich war in der kleinen Stadt, aus der sie stammen, nie jemand geworden, aber bis zum Auftauchen der Ungarn im Jahr 1940 lebten die verschiedenen Ethnien, mit unterschiedlichen Religionen, inklusive der jüdischen, friedlich nebeneinander. „Kosmopolitisch“ waren wir, „dreisprachig“ erzählt die Großmutter stolz, aber nur solange dieses Nebeneinander politisch auch gewollt war. Perle lässt die Großmutter in Zipserisch sprechen. In einer Sprache, die sich aus dem Altösterreichischen, Rumänischen, Ungarischen und Jiddischen herausbildete und der Familie während der Nazizeit fast zum Verhängnis wurde.

Es sind einfache Sätze, welche Perle die Frauen auf der Bühne sagen lässt. Sätze wie „Weg von da“ und „Auf die Goschn kriagts“, in einer Szene, in der die Siedler neu Zugereiste von ihrem „Wurzelort“ fernhalten wollen, scheinen wie mit der Axt gehauen. Aber der Dramatiker zeigt auch, dass er mit einer sehr feinen Feder Gedanken förmlich ziselieren kann. „Die Karpaten sind wie Flecken auf meiner Haut“ vernimmt man von der Enkelin, die aufgrund ihres Dialektes von ihren Mitschülern nach der Wende 1989 in ihrer neuen deutschen Heimat als „Ostblock“ beschimpft wurde. Die politischen Verschiebungen von Randterritorien in Europa, vor allem in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg bis nach dem Zweiten, die in der Replik von Nachgeborenen kaum zu verstehen sind, werden in dem Stück anhand des Familienschicksals der drei Frauen lebendig und damit auch nachvollziehbar.

Deutlich wird auch, wie wechselnde Herrschaftssysteme ungefragt auf die Bevölkerung gestülpt werden, aber auch, wie diese eine unglaubliche Anpassungsfähigkeit entwickelt, die sich aus dem Willen zum Überleben bildet. Trotz aller Sympathie, die für die nach der Wende schweren Herzens nach Deutschland ausgewanderten Frauen aufkommt, wird auch die Tatsache beleuchtet, dass sich in der Fremde, in der Erinnerung, selbst das diktatorische Regime von Ceaușescu rosarot einfärbt. Und – aktueller geht es kaum – warum die ungarische Minderheit in Rumänien, welche auch die ungarische Staatsbürgerschaft besitzt, heute Viktor Orbán wählt. Ob rumänisch oder ungarisch oder deutschsprechend – ob als Junger ins Exil gewandert oder als alter Mensch, eines bleibt jedoch sichtlich für alle gleich: Die Verbindung mit jenem Ort, an dem die Familie über Jahrhunderte gelebt hat, sie reißt nie ganz ab. Vielmehr wird der „Wurzelort“ zu einer Projektionsfläche der Sehnsucht. Zu einem Wunsch nach einer Heimat, in die man immer wieder zurückkehren möchte.

karpatenflecken c Marcella Ruiz Cruz 105A2447 1

karpatenflecken / Vestibül (Foto: Marcella Ruiz Cruz)

Thomas Perle beschreibt keine fiktive Geschichte, sondern erinnert sich mit „Karpatenflecken“ an die Erzählungen seiner Großmutter und auch an sein alljährliches Zurückkehren in jenen Ort, von dem ein Großteil der Menschen nach der Öffnung der Grenze auswanderte. Mehr als es trockene Historienwälzer je können, schafft er es, trotz einer unspektakulären Sprache, die häufig nicht einmal Prädikate aufweist, ein Bewusstsein für eine Zeit und politische Geschehnisse in Rumänien zu wecken, die bis heute nachwirken.

Zarte, musikalische Begleitungen von Bernhard Eder, eine dunkle Bühne mit Dia-projizierten schwarz-weiß-Fotos (Moritz Müller) und typgerechte Kostüme (Elena Kreuzberger) gestalten eine Atmosphäre, in der Zeit und Raum wandelbar ohne Umbauten wahrgenommen werden können. Dass man dann ausgerechnet herzhaft lachen kann, wenn die alte Tante erklärt, warum sie „den“ – gemeint ist damit Orbán – wählt, ist nicht zuletzt der Regisseurin zu verdanken, welche die psychologisch gut erfassten Charaktere, genauso wiedergeben lässt. Hier geht es nicht um eine gezierte Zur-Schau-Stellung verschiedener Lebensentwürfe, sondern um eine möglichst authentische Wiedergabe von Träumen, Wünschen, Hoffnungen, aber auch Ängsten, Enttäuschungen und nicht zuletzt Widerständigkeit.

Aktuell bringt Rumänien Autoren und Autorinnen hervor, die sich mit der Geschichte vor und nach dem Sturz von Ceausescu auseinandersetzen. Jene, die ihre Stücke in Deutsch verfassen, wie zum Beispiel Elise Wilk, von der vor Kurzem „Union place“ im Salzburger Schauspielhaus uraufgeführt wurde, oder auch Carmen Lidia Vidu, tragen wie auch Thomas Perle, und das sollte man explizit hervorheben, für ein über die Grenzen Rumäniens hinaus wirkendes Verständnis der Geschichte ihres Landes bei. Dabei schreiben sie nicht nur auf hohem, literarischem Niveau, sondern bewirken etwas im Publikum. Man kommt nicht umhin, seine eigene Geschichtsvergessenheit zu hinterfragen und dem Wunsch nachzugehen, mehr über jene Menschen zu erfahren, die hinter dem Eisernen Vorhang unter unglaublich widrigen politischen Bedingungen über Jahrzehnte hinweg leben mussten. Wer immer sich die Frage stellt, welche Relevanz Theater heute noch hat, dem seien aktuell die „Karpatenflecken“ empfohlen.

Pin It on Pinterest