Es gibt Schnell-Leser, die Bücher durch Querlesen in einem Bruchteil der normalen Lesezeit verschlingen. Es gibt Schnell-Seher, die durch Museen laufen und nur bei ausgewählten Werken verweilen. Aber von Schnell-Hörern hat man bislang noch nichts gehört.
Seit dem 11.11. 2016 – Faschingsbeginn! – gibt es auch das. Das Publikum von Wien Modern hatte die Möglichkeit, alle 15 Quartette von Dmitri Schostakowitsch in einer räumlichen und zeitlich abgestimmten Simultanaufführung im großen Saal des Konzerthauses zu hören und sich damit als Schnell-Hörer zu betätigen. Ganz nach dem altbekannten Witz, dass, wenn alle gleichzeitig spielen, das Konzert auch schneller aus ist.
Die Idee zu dieser Präsentation ist als umso absonderlicher zu bezeichnen, als der Komponist für seine Quartette keine einheitliche Form verwendete und ihren Aufbau von zwei bis zu sieben Sätzen gestaltete. Noch nie gab es ein Konzert, bei dem ich mir schon im Vorhinein eine feste Meinung bildete, die mit einem prägnanten Substantiv auf den Punkt zu bringen ist: Schnapsidee.
Zugleich jedoch war es meine immense Neugier auf alles Neue, Ungehörte, die mich in dieses Konzert leitete. Vorauseilende Meinungen sind mit Vorsicht zu genießen. Diese Erkenntnis kam mir dann schon nach wenigen Momenten im Konzertsaal. Denn nicht nur, dass die 15 Ensembles, die dazu benötigt wurden – eines für jedes Streichquartett – höchst klug aufgestellt waren. Die Klangerfahrung, die an diesem Abend vermittelt wurde, hatte tatsächlich ihren ganz besonderen Reiz.
Eine waghalsige Idee fand viele Kooperationspartner
Bald schon war klar: So etwas geht nur mit ein und demselben Komponisten und da wahrscheinlich auch nicht mit jedem. Auch die Bereitschaft der Ensembles auf dieses Experiment ist nicht hoch genug einzuschätzen, begaben diese sich doch auf ein höchst unsicheres Terrain. Denn abgesehen von der letzten Probe im Saal selbst, dürfte es bis dahin nicht wirklich sicher gewesen sein, ob dieses Wagnis auch tatsächlich funktionierte.
Um die Idee nicht völlig ohne Kontext im musikhistorischen Raum stehen zu lassen, wurden im Programmheft die ästhetischen Strategien von Kontrapunkt, Collage, Überlagerung und Simultaneität von Bernd Alois Zimmermann, Luciano Berio, Charles Ives und Joseph Haydn angeführt. Sicherlich auch ein Argument, die Verantwortlichen der mdw und der muk zu überzeugen, ihre Studierenden zur Teilnahme an diesem Event zu motivieren. Wenn nicht ohnehin die großen Namen wie das Arditti und das JACK Quartet oder das Ensemble Resonanz neben anderen dafür Strahlkraft genug hatten.
Eine herkömmliche Konzertkritik funktioniert hier nicht
Dass sich in diesem Artikel nun keine Aussagen zu der Interpretation der einzelnen Quartette finden, ist leicht nachzuvollziehen. Vielmehr beschränkt dieser sich auf visuelle Beobachtungen, auf höchst subjektive Klangwahrnehmungen und nicht zuletzt auch auf Gedanken, die sich mir während dieser Aufführung aufdrängten. Als nicht ungewöhnlich empfand ich den Umstand, dass gewisse rhythmische Muster relativ rasch erkennbar wurden. Auch, dass Grundstimmungen einzelner Quartette sich ähnelten.
Das nach circa 30 Minuten solo spielende Solistenensemble Kaleidoskop, welches das Quartett Nr. 11 auf diese Weise zumindest für eine kurze Zeit vom linken Balkon aus exklusiv erklingen ließ, wurde in einem bestimmten Moment beinahe überfallsartig von den anderen Ensembles übertönt. Dieses auditive Schockerlebnis nach wenigen Augenblicken kontemplativen Zuhörens wich der intensiven Erfahrung, eine dramatisch verdichtete Klangmasse im Raum beinahe körperlich spüren zu können. Diese Musikkulisse, die den Anschein erweckte, dass sich jederzeit der Raum selbst in die Lüfte erheben konnte, ließ sicherlich niemanden im Publikum kalt.
Durch das Zirpen, Dröhnen, Pochen, Säuseln, das Schwirren und Stampfen schlug sich dennoch vereinzelt dieses oder jenes Thema eine kleine Schneise in den Raum, um bald wieder zu verschwinden und anderen Platz zu machen. Die Überraschung war groß, als sich die musikalische Dichte plötzlich vom hinteren in den vorderen Saalabschnitt verlagerte, um schließlich in der Mitte, auf dem Podium selbst zu landen.
Zeit, die Gedanken schweifen zu lassen
Eine enorme Kakophonie, die nach ungefähr 30 Minuten einsetzte, machte es unmöglich, Strukturen zu hören oder auch nur zu erahnen und zwang meinen Geist zu anderen Denkmechanismen. Und prompt stellten sich mir Fragen wie: Welche Konzert-Klänge werden eigentlich an einem Abend in einer ganz bestimmten Stadt in einem bestimmten Zeitraum produziert? Wie würde sich eine Zusammenfassung aller Konzertereignisse rund um den Erdball zu einem bestimmten Zeitpunkt anhören? Was hätte man hingegen vor 200 Jahren mit derselben Fragestellung hören können?
Ein Teil der Hörerschaft hatte sich um das große Podium in der Saalmitte platziert und nach ungefähr 10 Minuten begonnen, sich sowohl gegen als auch im Uhrzeigersinn um dasselbe zu bewegen. Je unübersichtlicher das auditive Geschehen wurde, umso rastloser zog es seine Runden im Saal, produzierte förmlich einen nicht enden wollenden Strom mit kleineren Verwerfungen, Kringeln, Ballungen und Strudeln.
Wie aus dem Nichts warf abermals unerwartet das Adamas Quartett einige Tonfolgen aus dem 9. Quartett brutal in den Raum und ließ damit die Stimmung völlig kippen. Ließ mein Nachdenken über die subjektive Interpretation von Musik und den Aberglauben an eine Werktreue in gänzlich andere Gefilde abgleiten. So sprunghaft wie sich die Quartette in ihrer willkürlichen Hörfolge nun zeigten, so schlagartig änderten sich auch die Ideen, die sich während des Hörens einstellten, bis sich meine Aufmerksamkeit an einem bestimmten Punkt völlig von der Musik abwendete.
Das Publikum folgt der Klangstimmung
Nun fiel mir auf, dass die Klang-Wandernden eine ganz eigene Marschgeschwindigkeit entwickelt hatten. Wie sie sich, gleich Flaneuren auf großen Promenaden, gegenseitig beobachteten, sich einer indifferenten Rhythmik angleichend, treiben ließen. Und wie ganz nebenbei, fand mein Geist auch wieder zu Schostakowitsch zurück. Entdeckte Muster in seiner musikalischen Ausdrucksweise, Konstanten in seiner Klangsprache. Einher ging dies mit einer allgemeinen Klangentflechtung, Ausdünnung, durch die es wieder möglich wurde, einzelne, kantilene Passagen aufzunehmen. Sie so zu hören, als wäre ihr Zusammentreffen nicht zufällig, sondern beinahe bedingend. Aufregung, Dramatik, Abgeklärtheit und Nervosität konnten nun auch wieder als einzelne, emotionale Gefühlswahrnehmungen benannt und den einzelnen Passagen zugeschrieben werden.
Eine außergewöhnliche Idee, die ohne Zweifel funktionierte
Und dann plötzlich die Erkenntnis, dass die Zusammenstellung der Quartette, der Abfolge des jeweiligen Beginnes und die räumliche Aufstellung ein unglaublich aufgeweckter Geist durchgeführt haben muss. Jemand, der einen scharfen, musiktheoretischen Verstand und zugleich auch einen sehr sensiblen, auditiven Hörapparat sein Eigen nennen darf. Bernhard Günther, dem neuen Intendanten von Wien Modern, dürfen diese Blumen gestreut werden.
Das Ende der Aufführung, die mit 75 Minuten anberaumt war, ließ sich auch ohne jegliche Schostakowitsch-Erfahrung von seinem Klangbild her erahnen. Die allgemeine Beruhigung, die sich unter den vielen Streichern breitmachte, übertrug sich auch auf das Publikum. Seine beinahe schon laufende Gangart verlangsamte sich merklich und kam schließlich, wenige Minuten vor Schluss, ganz zum Erliegen. Die letzten fünf Minuten des letzten Satzes des Quartetts Nr. 15, durften alleine erklingen und jene Dramatik und Trauer verbreiten, die diesem Quartett innewohnen. Das traurige Flirren der Streicher und die anschließende Übernahme der kleinen Melodie in das tiefe Celloregister, das am Schluss die Bratsche übernimmt, erfolgte wie unter einem Bann. Einem Bann, unter dem das Publikum noch lange Zeit nach Verklingen des letzten Tones gefangen schien. Die lange Stille und die danach anhaltenden, lange andauernden Ovationen, waren der objektive Beweis, dass die Umsetzung der Idee der simultanen Aufführung tatsächlich funktionierte. Ein höchst außergewöhnlicher Konzertabend.