Tür-auf-Tür-zu mit Tiefgang und jeder Menge Spaß

Tür-auf-Tür-zu mit Tiefgang und jeder Menge Spaß

Das Lustspiel ‚Minna von Barnhelm‘ stand und steht auch noch heute auf dem Leseplan in Gymnasien. Nicht zu Unrecht, hat Gotthold Ephraim Lessing damit doch ein Paradebeispiel für eine Komödie vorgelegt, die ganz der Aufklärung seiner Zeit verpflichtet war. Und Aufklärung tut auch heute noch Not, gerade in Zeiten von Fake News und den Debatten um das Wohlergehen von Frauen, das so mancher Diktatorzwerg aus den USA und auch anderswo ihnen per Gesetz überstülpen möchte.

Dass das Stück auch heute noch für die Bühne lustvoll zugerüstet werden kann, bewies die Inszenierung im Schauspielhaus in Graz unter der Regie von Ulrike Arnold. In der vergangenen Saison überzeugte sie schon mit Nestroys „Der Zerrissene“. In ‚Minna von Barnhelm oder die Kosten des Glücks‘ greift sie abermals in jene Regietrickkiste, aus der sie immer wieder gelungene Gags und humoristisch überraschende, szenische Versatzstücke herauszuholen imstande ist.

Zu Hilfe kommt ihr das Ensemble mit Anke Stedingk in der Titelrolle, Sarah Sophia Meyer als Franziska, sowie Annette Holzmann als Wirtin. Die drei Frauen sprühen vor Witz und Elan und überzeugen mit ihren Charakterdarstellungen rundum. Dabei darf jede einzelne von ihnen das gesamte Gefühlsspektrum zwischen himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt darstellen, ein Umstand, der gerade im Theater, in dem nur der Augenblick zählt und nicht der x-te Take einer Filmaufnahme, besonders mitreißt.

Stedingk verkörpert Minna, die sich auf die Suche nach ihrem Major von Tellheim gemacht hat, als eine Vollblutliebende, die mit jeder Faser ihres Körpers und ihrer Seele um ihr Glück kämpft. Dass sie intellektuell ihrem Major überlegen ist, wird rasch deutlich. Vor allem auch, weil Sebastian Schindegger Tellheim als einen verbohrten, vom Schicksal gebeutelten, in sich gekehrten Mann zeigt, der noch dazu mundfaul ist. Wie groß seine Schauspielkunst ist, wird erst deutlich, als er auch in der Rolle von Riccaut de la Marlinière auftritt. Jenem windigen Typen, der Minna in Nullkommanichts um den Finger wickelt. Mit seiner exaltierten Art, seinem Macho-Gehabe, seiner Unverfrorenheit und seiner sprühenden Lebensfreude ist er das ganze Gegenteil von Tellheim – und die Idee der Doppelrollenbesetzung somit großartig.

Sarah Sophia Meyer nimmt rasch das Publikum für sich ein. Nicht nur, weil sie sich als beruhigendes und dienendes Element an der Seite von Minna entpuppt, sondern auch als eine junge Frau, die erleben darf, was Liebe auf den ersten Blick bedeutet. Ihr Zusammentreffen mit Paul Werner, Tellheims ehemaligem Wachtmeister, sprüht nur so von Liebesfunken, Unbeherrschtheit und anschließendem Schamgefühl. Simon Kirsch behauptet sich in der Rolle des ebenso Schockverliebten genauso wie in jenen Momenten, in welchen er versucht, seinen ehemaligen Vorgesetzten im Feld davon zu überzeugen, dass das Annehmen von Geld in Notzeiten gestattet ist, auch wenn man meint, es nicht zurückzahlen zu können.

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Minna von Barnheim (Foto: Lex Karelly)

Vom ersten Aufzug an darf Thomas Kramer als Just, Diener Tellheims, das Publikum zum Lachen bringen. Ein Albtraum, in welchem er von der Wirtin des Hotels gepiesackt wird, darf in immer absurden Steigerungen nacheinander miterlebt werden. Dies geschieht slapstickhaft, grotesk und überzeichnet, aber schlichtweg grandios humorvoll. Beteiligt daran ist auch Annette Holzmann, die als Gastgeberin zwischen Unterwürfigkeit und Berechnung in Sekunden wechseln kann. Wie die herrische, bedrohliche Wirtin letztlich in einem Happy-End-Polster-Kostüm durch mehrere Wandritzen auf die Bühne schlüpft und Just auch noch bezirzt, ist nur eine von vielen gelungenen Ideen. Die Regisseurin verwendet dabei bekannte Stilmittel von TV-Serien und verknüpft sie mit leichter Hand mit dem Theatergeschehen, als sei dies selbstverständlich.

Die Frage, inwieweit die Ehre eines Mannes seinem Glück im Wege stehen kann, wird in unseren Zeiten anders bewertet als zu jenen Lessings. Was jedoch aktueller als aktuell ist, ist jene nach der Gleichberechtigung von Partnern, die sich nicht nur finanziell, sondern auch intellektuell die Waage halten sollte. Der Spagat zwischen Tellheims und Barnhelms intellektuellen Dialogen in Lessings originalem Diktum und dem Esprit und der Spritzigkeit der Inszenierung, macht den Reiz der Inszenierung aus.

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Minna von Barnheim (Foto: Lex Karelly)

Eine Bügelszene, in welcher Just und Franziska das Hemd Tellheims und das Brautkleid Minnas in Dampfschwaden einhüllen, oder jene, in welcher Minna sich von Franziska Soletti fütternd in ein Tuchent eingräbt, als wäre sie eine beleidigte Auster, machen einfach Spaß. Großen Anteil am Gelingen hat auch Franziska Bornkamm. Ihr Bühnenbild mit hintereinander wechselnden Zimmerchen, inklusive eines veritablen Aufzugs, der schon einige Jährchen auf dem Buckel hat, reiht sich von der Idee her in die beliebte Gattung der Tür-auf-Tür-zu-Verwechslungs-Komödien.

Florian Rynkowski steuert einen Sound bei, der zwischen Wohlfühlklang und Fahrstuhlmusik changiert. Der Nachklang eines Cembalos verweist an einer Stelle an jene Zeit, in welcher die Komödie entstand, genauso wie der Auftritt Minnas in einer Szene im Barockkostüm mit Reifrock. Dieser hindert sie daran, sich geschmeidig von einem Zimmer in das nächste zu begeben und bietet zugleich eine tolle Gelegenheit, ihr komödiantisches Talent auch ohne Worte auszuleben.

Die Inszenierung ist ein anschauliches Beispiel, wie Klassiker unterhaltsam ins Heute transferiert werden können, ohne dass inhaltlich oder sprachlich an großen Schrauben gedreht werden muss. Und sie macht große Lust, öfter ins Theater zu gehen.

Durch dunkle Gänge in die seelische Enge

Durch dunkle Gänge in die seelische Enge

Nach Graz hat die hiesige Schauspielhaus-Direktorin Andrea Vilter eine Inszenierung mitgebracht, die 2015 in Wiesbaden uraufgeführt wurde. Am Schauspielhaus zeichnet sie gemeinsam mit Jan Philip Gloger für die Regie verantwortlich.

Kafka|Heimkehr (Foto: Lex Karelly)

Kafka|Heimkehr (Foto: Lex Karelly)

Die Texte stammen alle von Franz Kafka und sind puzzleartig und auszughaft aneinandergereiht. Alle haben sie eins gemeinsam: Sie beschäftigen sich mit dem schwierigen Verhältnis, das Kafka zu seinem Vater hatte und sie bieten genügend Raum, in Kafkas Seelenleben ein wenig hineinzuhorchen.

Gleich zu Beginn überrascht das Regieduo das Publikum, geht das Spiel doch schon im Foyer des Haupthauses los. Tim Breyvogel, Željko Marović und Anna Rausch spielen eine Szene aus Kafkas „Urteil“, einer Geschichte, die sich wie eine Rahmenhandlung rund um den Abend spannt. Denn auch die Schluss-Szene kehrt zu dieser Erzählung zurück.

Nach dem unerwarteten Auftakt wird das Publikum gebeten, sich hinter dem Ensemble in jenen engen Gang des Schauspielhauses zu begeben, der unterirdisch das Haupt- mit dem Nebenhaus verbindet. Einige Requisiten wie ausgestopfte Vögel und Schreibzeug säumen dabei den Weg; Texteinspielungen erfolgen aus dem Lautsprecher. Bis man im Saal des letzten Stockes des Nebenhauses Platz genommen hat, hat man schon einen Vorgeschmack von dem erhalten, was noch kommen wird.

Im sehr stimmigen Bühnenbild von Franziska Bornkamm befindet sich Kafka mit zwei Alter-Egos in beengten Wohnverhältnissen. Eine Stuhl-Kaskade führt von der Decke herab in eine Wohnung, die mit einem Schreibtisch, Büchern, einem Bett und einer kleinen Küche ausgestattet ist. In ihr klagt Kafka seinen Vater an. Passagen aus dem „Brief an den Vater“, aus „Der Bau“, „Das Unglück des Junggesellen“, „Die Verwandlung“ und anderen ergeben die Charakterbeschreibung eines Mannes, der zeitlebens unter seiner Erziehung litt. Gegen großen Widerstand blieb er jedoch seiner Mission schreiben zu müssen treu, wahrscheinlich auch deshalb, weil gerade dieses Schreiben ihm eine Freiheit bot, die er abseits davon nicht erhielt.

Die dunkel ausgeleuchtete Bühne, die Kostüme, welche sich an die Lebenszeit des Schriftstellers anschmiegen und die klug ausgewählten Texte ergänzen sich äußerst stimmig. Für Kafka-Kenner ist der Abend sicher eine Überraschung, für Kafka-Neulinge aber ein Einstieg in eine Welt voller Widersprüche, Mysterien und Bewältigungsversuchen. Zugleich macht er große Lust, Kafka wieder oder auch zum ersten Mal zu lesen.

Die lebhafte Interpretation des Ensembles, zu dem sich im zweiten Teil der Inszenierung mit Franz Solar ein ausdrucksstarker „Vater“ gesellt, lässt nichts vom Gehörten und Gesehenen altbacken erscheinen. Beeindruckend ist die Tatsache, wie analytisch der Autor die familiären Einflüsse seiner Kinder- und Jugendzeit zu bewerten wusste. Dass er Freuds psychoanalytische Schriften zum Teil kannte, vor allem aber Kontakt zu seinen Schülern Wilhelm Stekel und Theodor Reik hatte, bzw. ihre Aufsätze in verschiedenen Zeitschriften verfolgte, ist bekannt. Dennoch verblüfft er im „Urteil“ mit glasklaren Aussagen über das Verhältnis des alten Geschäftsmannes Bendemann zu seinem Sohn Georg. Die Rückschlüsse auf Kafkas Beziehung zum eigenen Vater liegen auf der Hand.

„Kafka Heimkehr – Theaterprojekt mit Texten von Franz Kafka“ ist ein Kammerspiel, sowohl sprachlich als auch interpretatorisch fein ausnuanciert, das eine Menge an Atmosphäre transportiert. Das Eintauchen in diese Atmosphäre kann einen neuen Zugang zu Franz Kafka bereithalten, wenn man sich in der dunklen Höhle des höchstgelegenen Spielortes des Schauspielhauses dieser besonderen Stimmung hingibt.

Graz ohne Wasser

Graz ohne Wasser

Der junge Luis ist ein Aussteiger. Er hat sich in die Wälder rund um Graz zurückgezogen, denn was die Gesellschaft ihm bietet, erscheint ihm nicht mehr lebenswert. Nach dem Hörensagen haben sich Superreiche den Schlossberg gekauft, dort ein Privat-Resort mit eigenem, bewachten Grundwasserzugang gebaut. Die Mur ist ausgetrocknet, Wasser das kostbarste Gut. Internet gibt es aufgrund des Energiemangels nur mehr rationiert. Eine erträumte Reise nach Venedig könnte nur mehr zum Teil zu Fuß zurückgelegt werden und Gondelfahrten würden nicht mehr unter den Brücken stattfinden, sondern darüber.

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„Ampere“ im TIB (Foto: Johannes Gellner)


Aber das Leben im Wald gestaltet sich nicht so, wie Luis es sich ausgemalt hatte. Lebendes Frischfleisch gibt es nicht mehr, Larven sind das einzige wirklich proteinhaltige Lebensmittel. All das erfährt man von ihm, der sich rührend um sein Stromaggregat – Line – kümmert. Ganz so, als wäre sie seine Geliebte. Benzinbetrieben bietet sie ihm zumindest den Luxus von Licht.

Der aus Bagdad stammende Zaid Alsalame spielt den jungen Mann mit großem Charme, Witz und viel Einfühlungsvermögen. Streckenweise vermittelt er den Eindruck, die eine oder andere Aussage bezüglich Hunger und Durst selbst erlebt zu haben. Eingespielter Sound von einem Starkregen oder Geraschel im Unterholz beleben das Setting. Ein Baumstumpf mit einigen wenigen Ästen, ummantelt mit Aluminiumfolie, Regenschirme, die von Luis zum Wasserauffangen verwendet werden, ein Wasserkanister – mehr braucht es nicht, um das karge Leben des Aussteigers zu veranschaulichen. (Ausstattung Anna Sommer).

Trotz aller Widrigkeiten hat der junge Mann seinen Humor nicht verloren. Obwohl mit jedem Tag sein Überleben noch stärker auf der Kippe steht, versucht er das Beste daraus zu machen. Eine selbst gebastelte Wünschelrute schlägt nicht beim erhofften, nassen Gut an, vielmehr wird sein hektisches Graben mit dem Fund einer Ukulele belohnt. „Schaut aus wie Kunst!“, ist sein Kommentar dazu. Und obwohl oft als Überlebensmittel tituliert, hilft sie ihm nur kurzfristig, den harten Alltag in ein romantisches Setting umzuwandeln. Letztlich kann er aber nicht davon abbeißen. „Das Holz eignet sich gut als Brennmaterial und die Saiten für Hasenfallen“.
Mit diesem Satz entzaubert die Autorin die Vorstellung, dass Kultur immer über dem Alltäglichen stünde.


Das dystopische Zukunftsszenario beeindruckt nicht nur durch die Performance des Schauspielers. Es ist auch der knappe Text von Rucker, der mehr verbirgt, als preisgibt, dadurch aber gerade das Kopfkino in Gang setzt. Gerne hätte man davon noch mehr gehört, sitzt doch jeder einzelne Satz perfekt. Der Starkregen in den Tagen zuvor und die Hitze am Besuchstag des Stückes rücken die düstere Prognose nahe in die Gegenwart.

Man wünschte der Low-Budget-Produktion ein wenig mehr Finanzierung, dann könnten heute auch bereits im Off-Bereich etablierte Stilformen wie Visuals das Geschehen noch stärker optisch untermauern.

Logischerweise endet das Stück nicht mit einem Happy End, lässt aber durch einen Regiekniff offen, ob Luis und seine Line nicht doch noch eine Überlebenschance haben. Zumindest eine kurzfristige.

Der Griessner Stadl on tour in Graz

Der Griessner Stadl on tour in Graz

Wer zeitgenössische Opern abseits der vom Bund geförderten Häuser produziert, lernt rasch, mit Mangel umzugehen. Dass es aber noch eine Steigerungsstufe gibt, nämlich einen extrem limitierten Ort, in welchem eine Oper aufgeführt werden soll, kommt weniger häufig vor. Und dennoch schafften es die Betreiber des Griessner Stadel bei Murau, eine Oper in Auftrag zu geben und diese im nicht-operngerechten Spielort auf die Bühne zu bringen. In einer Koproduktion mit dem Steirischen Herbst 2023 wanderte diese nun nach Graz in den „Dom im Berg“. Die Location hätte hier nicht besser gewählt werden können. Der Veranstaltungsraum im ausgehöhlten Fels, mit einer hohen Luftfeuchtigkeit und einem Boden, der keinerlei Wärme ausstrahlt, passte ausgezeichnet zur dramatischen Geschichte.

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„Das Erdbeben in Chili“ (Foto: Verena Koch)

„Das Erdbeben in Chili“ nach einer Novelle von Heinrich Kleist, erzählt von einer tragischen Liebe. Die Tochter eines Granden verliebt sich in den Hauslehrer und wird daraufhin von ihrem Vater ins Kloster geschickt. Dort treffen sich die Liebenden jedoch und zeugen im Klostergarten einen Sohn. Dieser wird 9 Monate später bei der Fronleichnamsprozession auf den Stufen der Kathedrale geboren. Um die Schande zu tilgen, wird Donna Josephe zum Tode und ihr Geliebter, Jeronimo, zu schwerem Kerker verurteilt. Wenige Augenblicke, bevor die junge Frau geköpft wird, ereignet sich in der Stadt Santiago in Chile ein schweres Erdbeben. Josephe, ihr Kind und Jeronimo überleben dieses jedoch, finden sich in Freiheit wieder und fallen dennoch wenig später der Lynchjustiz anheim. Ein zweiter Säugling, der Sohn von Don Fernando, gelangt schließlich ebenso in die Turbulenzen der aufgebrachten Menge und wird von dieser bestialisch ermordet. Philippe, der Sohn von Josephe und Jeronimo, überlebt jedoch das Gemetzel und wird schließlich von Don Fernando und dessen Frau als Kind angenommen.

Es bedarf einer großen Portion Mut, sowie Zuversicht und der Glauben, an das eigene Projekt, um diesen Stoff in der Murauer Gegend als zeitgenössische Oper zur Uraufführung zu bringen. Das Team rund um den Obmann Ferdinand Nagele hatte diesen Mut. Und auch wenn es abgedroschen klingt, das Sprichwort „wer wagt, gewinnt“ stimmt in diesem Fall zu hundert Prozent. Anlässlich der Stückeinführung erzählte Nagele, dass sich das Leitungsteam überlegt hatte, einmal etwas zu machen, was sie noch nie gemacht hatten oder noch spitzer ausgedrückt: „Etwas, was wir nicht können.“ Theateraufführungen, Lesungen, Konzerte – all das gab es schon in der Location, was fehlte, war eine Opernproduktion. Dass diese zustande kam, verdankte man nicht nur dem Netzwerk, das über die Jahre aufgebaut worden war. Eine intelligente Herangehensweise, gepaart mit einer Menge Idealismus und Kreativität, verhalf dem Projekt letztlich zum Erfolg.

Martin Kreidt, der schon häufig im Griessner Stadl Regie führte, übernahm nicht nur diese, sondern auch die Verfassung des Librettos, welches eng am Originaltext blieb. Elisabeth Harnik erhielt den Auftrag für die Komposition einer neuen „Volksoper“ und hatte auch die musikalische Leitung inne. Die Musikerinnen und Musiker des Schallfeld-Ensembles übernahmen neben den vier Hauptcharakteren aktive Rollen auf einem langen Catwalk, der als Bühne fungierte. An dessen Längsseiten waren die Publikumsreihen angeordnet, an den Stirnseiten befanden sich zum einen die Plätze für die Musizierenden, zum anderen der Aufbau eines großen Schlagwerkes, das häufig zum Einsatz kam.

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„Das Erdbeben in Chili“ (Foto: Verena Koch)

Harnik wählte eine reduzierte, musikalische Ausdrucksweise, die darauf bedacht war, das Wort in den Vordergrund zu rücken. Zugleich wies ihre Komposition jedoch einen großen Ideenreichtum auf. Gleich zu Beginn sprach das Schallfeldensemble, während es sich dazu mit den Instrumenten begleitete, den Text zur Vorgeschichte des Hauptplots. Akkordeon, E-Gitarre, Kontrabass, Flöten, eine Miniaturorgel und Percussion-Instrumente steuerten den charakteristischen Klang bei.

In vielen Passagen wurde psalmodiert, was Sinn erzeugte, spielt sich doch das Drama im Umfeld der katholischen Kirche ab. Wilde, laute Passagen mit großem Percussioneinsatz wechselten mit ganz ruhigen ab, in welchen Sprache und Musik gänzlich zum Erliegen kamen. Mit Geflüstertem und Gehauchtem sowie akzentuierten Atemgeräuschen erweiterte die Komponistin die stimmliche Ausdrucksweise ihrer Sängerinnen und Sänger. Die Wiedersehensfreude nach dem Erdbeben konnte man trefflich durch den Sprechgesang „das Herz hüpfte“, der sich wie in einer Bach’schen Kantate durch alle Stimmlagen wandte, nachempfinden. Eine lange Unisonopassage öffnete sich allmählich zu einer vielstimmigen Kantilene, in dem Augenblick, in welchem sich die Überlebenden dazu entschließen, Gott in der Kathedrale bei einer Messe zu danken. Dass sich das grauenvolle Finale vor allem auch durch stimmlichen Einsatz ankündigt – da wird flüstergebrüllt, was das Zeug hält, liegt bei dieser Kompositionsweise auf der Hand.

Die Kostüme von Andrea Fischer markierten schwarze und weiße Charaktere. Die Regie ließ jedoch Personenwechsel zu und schrieb sowohl Josephe als auch Jeronimo unterschiedlichen Solistinnen und Solisten zu. Kreidt vermischte in einem cleveren Schachzug sowohl das Instrumentalensemble als auch die Sängerinnen und Sänger, um sie danach wieder zu trennen und ihnen nun aber einen anderen Platz zuzuweisen. Auf diese Art wurden nicht nur die Hauptfiguren, sondern auch die kleine Ansammlung von Überlebenden oder auch die große Menschenansammlung in und vor der Kirche, in welcher letztlich wieder gegen die Liebenden gehetzt wurde, plausibel visualisiert.

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„Das Erdbeben in Chili“ (Foto: Verena Koch)

„Das Erdbeben von Chili“ beeindruckte vor allem auch durch alle Mitwirkenden, die ein homogenes Ensemble ergaben, das sich gegenseitig unterstützte und in welchem sich niemand in den Vordergrund drängte. Auch das ist eine Erfahrung, die im Musiktheater nicht häufig vorkommt. Es wäre wünschenswert, wenn der Griessner Stadl mit weiteren Produktionen nach Graz kommt und weiter frischen Wind in das alte Gemäuer des Doms im Berg bläst. Vielleicht animierte die Produktion aber auch Grazer Publikum, sich das ein- oder andere Mal in Richtung Murau zu begeben und dieses kulturelle Zentrum mit seinem interessanten Programm zu besuchen.

In Graz waren zu sehen:
Clara Sabin, Helēna Sorokina, Jessica Kaiser, Margarethe Maierhofer-Lischka, Audrey G. Perreault, Manuel Alcaraz-Clemente, Stefan Jovanovic, Walter Ofner, Herbert Schwaiger, Ivan Trenev

Eine gute Geschichte ist wie ein scharfes Messer

Eine gute Geschichte ist wie ein scharfes Messer

„A good story is like a fit knife“ übersetzt: Eine gute Geschichte ist wie ein scharfes Messer. Diesen Satz rezitiert Anna Luca Poloni zu Beginn und am Schluss ihrer Produktion „Orlando Trip„, die sie gemeinsam mit Christian Mair beim Festival „Europa in Szene“ mit dem Schwerpunkt „Sea Change – die Kunst der Verwandlung“ in den Kasematten in Wiener Neustadt zur österreichischen Uraufführung brachte.

Die cineastisch-musikalische Show, unter dem Label „Fox on ice“ produziert, lehnt sich mit 12 Songs an die Tradition der „Konzeptalben“ an. Frank Sinatra gilt mit seinem Album „Frank Sinatra sings for only the lonely“ diesbezüglich als der Urvater dieses Genres, in welchem die einzelnen Titel aufeinander Bezug nehmen und somit ein bestimmtes „Konzept“ verfolgen.

„Orlando Trip“ rekurriert auf Virginia Woolfs berühmtes Buch „Orlando“ in welchem sie von der Verwandlung eines mittelalterlichen Ritters in eine Frau berichtet. Dass sich diese Verwandlung über den Zeitraum von 400 Jahren erstreckt, unterstreicht zusätzlich die fantastische Gedankenkonstruktion der Geschichte. Die Vorlage regte und regt viele künstlerisch Schaffende an, den Stoff wieder aufzunehmen und mit eigenen Interpretationen auszustatten. Was selbst unter Literaturfreaks kaum bekannt ist, ist die Tatsache, dass Woolf eine Vorlage für ihren Text hatte. Ludovico Ariostos „Orlando furioso“ aus dem 16. Jahrhundert. Interessanterweise poppt er gerade in unserer Zeit in unterschiedlicher Weise vermehrt auf. Mehrere Verfilmungen, eine Oper von Olga Neuwirth, Hörspielbearbeitungen, Tanzperformances, aber auch solche im öffentlichen Raum, wie das Orlando project in Wien machen klar, dass der Stoff nach wie vor ausreichend Impulse bietet, sich damit originär auseinanderzusetzen.

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Orlando-Trip (Foto: Ludwig Drahosch)

Christian Mair und Anna Luca Poloni alias Anna Maria Krassnigg tun dies in ihrer ihnen eigenen Art und Weise, die einen hohen Wiedererkennungswert aufweist. Filmmaterial, aufgenommen von Christian Mair, wird mit Texten von Anna Luca Poloni verzahnt, die von ihr gesungen, zum Teil aber auch im Sprachduktus vorgetragen werden. Man staunt, wie polyglott das Künstlerpaar in dieser Produktion unterwegs ist. Die Texte sind zum großen Teil in englischer Lyrik verfasst, ein Unterfangen, das meist nur jene Literaturschaffenden beherrschen, deren Muttersprache Englisch ist. Dazu gibt es italienische, aber auch französische Einsprengsel, welche den internationalen Touch, den die Inszenierung hat, unterstreichen.

Ein vorheriges Einlesen in den Stoff ist nicht notwendig, dennoch schafft es „Orlando Trip“, dass man danach gerne zu Woolfs Buch greift, um es erstmalig, aber auch noch einmal zu lesen. Ein Umstand, der bei Produktionen der ‚wortwiege‘ häufig anzutreffen ist. Daran kann man auch erkennen, dass eine der obersten Aufgaben dieses Theaters die Vermittlung von Literatur ist. Einerlei, ob es sich um Dramen handelt oder um dramatisierte Stoffe. Sinnlich, freudvoll, theatral umsetzbar – das sind die Kriterien, die ausschlaggebend für eine Aufnahme und eine Umsetzung der wortwiege sind. Nicht zu vergessen: diskussionswürdig.

Christian Mairs Kompositionen bewegen sich in „Orlando Trip“ zwischen sanften, oft dunkel eingefärbten, lyrischen Songs und rockigen, rhythmusbetonten, bis zu poppigen Ohrwürmern. Dabei spüren die Performenden dem Werdegang von Orlando nach, unterfüttern ihn mit aktuellen Visuals aus vielen unterschiedlichen Ländern und öffnen Fenster in Traumwelten. Hauptthema dabei ist die körperliche, nicht aber seelische Verwandlung, die Orlando ohne sein aktives Zutun im Schlaf vollzieht. Man wird Zeuge und Zeugin, wie er als junger Mann seine Gefühle und seine Verliebtheit in Sasha entdeckt, die ihn im alles entscheidenden Moment im Stich lässt. Man verfolgt seine Hinwendung zur Literatur, die er auch später als Frau als ein Lebenselixier weiter aufrecht hält. Und man staunt über die Widerständigkeit der weiblichen Orlando, die es versteht, ihre Eigenständigkeit trotz Ehe und Sohn zu bewahren.

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Orlando-Trip (Foto: Ludwig Drahosch)

Anna Luca Polonis androgyne Ausstrahlung in dieser Inszenierung unterstützt die Fluidität zwischen den Geschlechtergrenzen. Dabei fühlt man, trotz ihrer zarten Erscheinung, sowohl in der Darstellung des männlichen als auch weiblichen Parts eine permanente Kraft, die geschlechtsunabhängig zu sein scheint. Der junge Orlando wendet sich wie selbstverständlich nach seinem Liebesdesaster in seiner inneren Emigration der Literatur zu. Finanziell unabhängig, stellt er sich nicht einmal die Frage, ob er das kann und darf. Aber auch die weibliche Verwunderung über die Spiele zwischen Mann und Frau kann man authentisch nachempfinden. Wenn Anna Luca Poloni „dimmi, Capitano“ singt, wird damit auch die weibliche Faszination an der Uniform thematisiert. Zugleich aber vermittelt sie in jedem Augenblick einen unumstößlichen Freiheitswillen, den sie auch nach ihrer Verwandlung in eine Frau beibehält.

Christian Mair bildet neben ihr mit seiner E-Gitarre eine Art Fels in der Brandung der Inszenierung. Den „Takt angebend“, gelingt es ihm dennoch, seiner Partnerin so viel spielerischen Freiraum zu geben, dass sie beide gleichberechtigt in der Publikumswahrnehmung erscheinen. Ein Umstand, der im Konzertbusiness so kaum einmal anzutreffen ist, hier aber auf symbiotische Art und Weise bestens funktioniert.

„Why glue together? Is this nature`s will?“ singt Orlando an einer Stelle und wirft damit jene Frage auf, die das Zusammenleben und die Ehe als gesellschaftlich gefestigtes Phänomen zum Inhalt hat. Anders als bei aktuellen Gender-Debatten, ist Orlandos Verwandlung völlig friktionsfrei, ja fast natürlich, allenfalls zum Staunen. Es ist das größte Verdienst dieser Produktion, dass sie diese – wenngleich auch hypothetische, pazifistische Möglichkeit aufzeigt.

Im Rahmen der „Sea Change“ -Initiative wurde und wird „Orlando Trip“ in vielen europäischen Ländern gezeigt. Gerne wäre man bei jeder einzelnen Auslandsaufführung dabei, um die unterschiedlichen Publikumsreaktionen mitverfolgen zu können. Bei der Premiere in den Kasematten von Wiener Neustadt wurde „Fox on ice“ frenetisch applaudiert.

Eine weitere Vorstellung gibt es noch am 23.9.