Ingmar Bergmann ist allen Cineasten ein Begriff. Seine „Herbstsonate“, die 1978 in die Kinos kam, war mit Ingrid Bergmann und Liv Ullmann in den Hauptrollen genial besetzt und ist allen, die den Film gesehen haben, noch Jahrzehnte danach in Erinnerung. Es war nicht allein die Geschichte an sich, die fesselte. Ein Drama, in dem die psychologischen Hintergründe einer Mutter-Tochter-Beziehung offengelegt wurde. Es war auch das Setting, angesiedelt im Norden Europas und die Kameraführung mit vielen Close-ups, die den Film einzigartig machten.
„Als ich den Film gesehen habe, wusste ich, dass ich die Geschichte unbedingt auch auf die Bühne bringen wollte“, O-Ton von Gerhard Werdeker. Dass die Geschichte der Pianistin Charlotte Andergast, die ihre beiden Töchter über lange Strecken allein bei ihrem Vater ließ, um ihrer Karriere nachzugehen, auch nach 45 Jahren noch fesselt, zeigt, dass Bergmann mit den Konflikten eine zeitlose Materie aufgegriffen hat. Ende der 70er-Jahre von vielen noch als Affront gegenüber dem 5. Christlichen Gebot „Du sollst Vater und Mutter ehren“ empfunden, bietet es heute viele Momente, in welchen sich Menschen wiederfinden können, die von ihren Eltern in ihrer Kindheit nicht die Liebe erfuhren, die sie sich gewünscht haben.
Werdeker arbeitet mit einem reduzierten Bühnenbild von Raoul Rettberg, in dem ein Tisch mit Sesseln, eine große, rote Kiste und leicht gebogene Wandfragmente ausreichen, um das Pfarrhaus, aber auch den Friedhof der kleinen Gemeinde, in der Eva mit ihrem Mann Viktor leben, darzustellen. Wie immer, wenn Werdeker Regie führt, gibt es nichts, was unabsichtlich auf der Bühne positioniert ist. Über dem Setting hängt eine weiße, runde Tafel hoch in der Luft, mit der Zeichnung der typischen Cello-Schall-Löcher. Diese Tafel, aber auch ein blauer Ball, so wird sich bald zeigen, fungieren als Platzhalter zweier Menschen, die in der Fassung von Werdeker nicht gezeigt werden, dennoch aber für das Geschehen bestimmend sind.
„Herbstonate“ Theater Spielraum (Foto: Barbara Pálffy)
„Herbstonate“ Theater Spielraum (Foto: Barbara Pálffy)
„Herbstonate“ Theater Spielraum (Foto: Barbara Pálffy)
Der blaue Ball steht als Symbol für den Sohn von Eva, der im hauseigenen Brunnen im Alter von vier Jahren ertrank. Die runde Tafel mit der Cello-Assoziation hingegen für Leonardo, den Partner von Charlotte, Evas Mutter. Der ebenfalls verstorbene Cellist hatte nicht nur großen Einfluss auf die Pianistin, sondern auch auf ihre kranke Tochter Helena, die in Werdekers Fassung nur erwähnt, aber nicht gezeigt wird. Die Reduktion auf drei Personen tut der Handlung keinen Abbruch, ganz im Gegenteil. Sie konzentriert diese auf die wesentlichsten Ereignisse, die sich Mutter und Tochter wechselweise erzählen und vorhalten. Überdies evoziert die Absenz der kranken Helena noch zusätzliche Gänsehaut, denn alles, was an Grauen nicht sichtbar, sondern nur im Kopfkino abgeht, wird meistens noch schlimmer empfunden, als wenn dieses halb realistisch vorexerziert wird.
Brigitte West in der Mutterrolle und Dana Proetsch als ihre Tochter spielen sich innerhalb kurzer Zeit in einen Furor, der seinesgleichen sucht. Nicht nur, dass jede einzelne Mimik, jede einzelne Geste bei beiden sitzt. Sie schaffen es, das Publikum so mitzureißen, dass es die Umgebung des Theaters komplett vergessen kann. In ihrem Spiel stimmt absolut alles. Der Ton der erhitzten Gemüter ebenso wie das zunehmende Sprachtempo. Die theatralischen, ausufernden Bewegungen der Mutter genauso, wie das Erschrecken der Tochter vor ihrer eigenen Courage. West wechselt innerhalb weniger Augenblicke so schnell zwischen Trauer, Selbstdisziplin und Selbstmitleid, dass einem Hören und Sehen vergehen kann. Proetsch hingegen erscheint über lange Strecken hinweg ihrer Mutter charakterlich überlegen. Erst, als sich das Dilemma der Double Bind Erziehung stärker zeigt, verliert auch sie ihre Beherrschung und bricht aus der bis dahin reflektieren Frauenrolle aus. Anna Pollack zeigt in der Kostümwahl auch deutlich den charakterlichen Unterschied zwischen Mutter, die häufige Kleiderwechsel hat, und ihrer Tochter. Bei dieser wird der Wechsel zum nächtlichen Outfit allein in der veränderten Sockenwahl deutlich.
Christian Kohlhofer agiert in der Rolle des Ehemannes von Eva, wie auch im Film, zum Teil als Erzähler. Ganz zu Beginn spricht er direkt von der ersten Publikumsreihe aus und lässt sich nicht, während die beiden Frauen immer hitziger agieren, von deren seelischen Turbulenzen mitreißen.
In einer atemberaubend schönen Szene gelang es Werdeker, Eva ohne Klavier ihrer Mutter die Prélude No. 2 von Frédéric Chopin vorzuspielen. Wie diese danach ihre Interpretation zu Gehör bringt – ebenfalls ohne Instrument – ist mehr als sehenswert. Allein wegen dieses Aktes lohnt es sich, sich die Herbstsonate im Theater Spielraum anzusehen. Alle, die einen Theaterabend erleben möchten, der alles beinhaltet, was gutes Theater ausmacht, sollten sich diesen in der Kaiserstraße nicht entgehen lassen.
Das Wort „Totentanz“ ist im europäischen Kunstverständnis mit bildlichen Darstellungen verknüpft, die seit dem Mittelalter in unablässiger Folge bis in unsere Zeit neu interpretiert werden. Die letzten mir bekannten, die europaweit in öffentlichen Gebäuden entstanden sind, sind jene von Gerald Brettschuh (2002 in der Aufbahrungshalle des evangelischen Stadtfriedhofs in Graz und 2004 in der Aufbahrungshalle in Mureck). Beide zeigen großformatig einen personifizierten Tod, einmal mit einer Querflöte, das andere Mal mit einer Fiedel beim Musizieren. Beide Male weilt er mitten unter den Lebenden, vermittelt aber deutlich, dass er diese schon zum Sterben auserkoren hat. Anhand des zeitgenössischen, österreichischen Künstlers wird klar, dass der Totentanz ein Genre ist, das über die Jahrhunderte hinweg ein Faszinosum auf die Menschen ausübt. Ein so starkes, dass sie sich künstlerisch bis heute damit auseinandersetzen.
Totentanz (Foto: Julia Kampichler)
Es kommt nicht von ungefähr, dass der Totentanz mit der Abbildung eines Gerippes, das sich unter tanzende Lebende mischt, im 14. Jahrhundert vermehrt auftrat. Es war jenes Jahrhundert, in dem die Pest in Europa zu wüten begann und über 20 Millionen Tote forderte. Das Grauen, das in diesen Darstellungen aufkommt, hinterlässt bei den Betrachtenden dementsprechend ambivalente bis beunruhigende Gefühle.
So ist verständlich, dass ein Theaterstück mit dem Titel „Totentanz“ nicht dazu prädestiniert erscheint, ein Publikumsmagnet zu werden. Womit der Grund angesprochen wurde, die gleichnamigen Dramen von August Strindberg „Totentanz 1 und Totentanz 2“ schon wenige Jahre nach Strindbergs Tod für die Bühne umzubenennen. Letztlich beließ man jedoch die Originaltitel, was – das zeigt auch die aktuelle Interpretation in den Kasematten von Wiener Neustadt – durchaus Sinn macht.
In dem 1900 entstandenen Drama tritt der Tod zwar nie in Erscheinung, spielt aber dennoch eine Hauptrolle. Uwe Reichwaldt, ein junger Regisseur, der am Max Reinhardt Seminar seinen Studienabschluss gemacht hat, hat dies nun geändert. In seiner Inszenierung, die im Rahmen des Festivals „Europa in Szene“ unter der künstlerischen Leitung von Anna Maria Krassnigg gezeigt wird, ist dieser Tod omnipräsent. Der einzige Unterschied zu den bildlichen Darstellungen, die sich überliefert haben, ist, dass dieser Tod in weiblicher Gestalt auftritt. Isabella Wolf – in Wiener Neustadt durch ihre großen Rollen wie dem Pandulfo (König Johann) oder der verlassenen Frau (Die Königin ist tot) sowie Robespierre (Dantons Tod) dem Publikum bestens bekannt, begleitet von der ersten bis zur letzten Szene unaufdringlich, aber dennoch ständig präsent, das Geschehen.
Die beiden Eheleute Alice und Edgar, er ein Hauptmann, sie eine ehemalige Schauspielerin, stehen kurz vor ihrem 25. Hochzeitstag. Schnell wird klar, dass die anfängliche, gegenseitige Bewunderung irgendwann im Laufe der Ehejahre in blanken Hass umgeschlagen hat und sich die beiden, wo es nur geht, das Leben schwer machen. Ihre Kinder, ein Sohn und die Tochter Judith, leben nicht mehr mit den Eltern in einem festungsähnlichen Turm auf einer Insel vor Schweden, sondern wachsen in Internaten in einer Stadt auf. Durch den Besuch von Kurt, eines Cousins von Alice, der auf der Insel der „Quarantäne-Beauftragte“ werden soll, gerät die ausbalancierte Schieflage der Ehehölle völlig ins Rutschen. Edgar erweist sich als unvorstellbarer Intrigant, der weder Lügen noch Demütigungen scheut, um sein eigenes Ego hochhalten zu können. Dazu kommt, dass man zwischen den Zeilen heraushört, dass Kurt und Alice in ihrer Jugend mehr verband als ihre familiäre Abstammung.
Totentanz (Foto: Julia Kampichler)
Totentanz (Foto: Julia Kampichler)
Totentanz (Foto: Julia Kampichler)
Totentanz (Foto: Julia Kampichler)
Strindberg erzählt das sich nun ausweitende Drama klar und schnörkellos, manches Mal auch mit harten Schnitten und einem Erzählfluss, bei welchem man – genauso wie Alice und Kurt selbst – erst nach und nach begreifen kann, welch unmenschliche Aktionen Edgar gesetzt hat, um allen seine Macht zu zeigen. In der allerersten Szene ist die Tochter von Alice und der Sohn von Kurt in einem sich anbahnenden jugendlichen Zu- und Abneigungs-Geplänkel zu erleben. Dabei erweisen sie sich als wahres Spiegelbild ihrer Eltern. Sich lieben und hassen, sich anziehen und abstoßen, dieses Spiel gelingt ihnen schon in Perfektion. Reichwaldt hat beide Dramen von Strindberg – jenes der Elterngeneration und jenes der Kinder – äußerst klug und gerafft in ein einziges zusammengeführt und es bedarf tatsächlich nur weniger „Jugend-Auftritte“, um aufzeigen zu können, wie sehr das, was durch ihre Erziehung in ihnen wachsen konnte, zumindest zu Beginn unreflektiert ausgelebt wird.
Wie in einer Art Rückblende beginnt danach das Ensemble hinter einem durchscheinenden Vorhang in der Bühnenapsis zu spielen. (Bühne Thomas Garvie, Max Seper) Begleitet wird es von einer Kamera, die an einer Stelle das Gesicht von Edgar beunruhigend groß und bedrohlich projiziert. Er ist es, der vom Tod gezeichnet noch verzweifelt versucht, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um sich seine Umwelt ohne Rücksicht auf Gefühle untertan zu machen. Doch immer wieder wird er von diesem gebeutelt oder eingefroren, scheint seine Wahrnehmung zu verlieren und seine Umgebung nicht mehr zu kennen.
Das Spiel mit den räumlichen Gegebenheiten in den Kasematten funktioniert perfekt und trennt die einzelnen Szenen ohne größeren Umbau voneinander. Dabei gelingt ein Schwebezustand zwischen Realität und Traum, bei dem man das eine von dem anderen manches Mal schwer voneinander unterscheiden kann. Musikalisch begleitet wurde die Premiere von David Gratzer, der sowohl mit einem Stage-Piano als auch einer E-Gitarre die jeweilige Atmosphäre klanglich gelungen unterstützte.
Lukas Haas, bei diesem Festival heftig gefordert, da er in der zweiten großen Produktion in den Kasematten die Titelrolle in Coriolanus spielt, personifiziert Edgar, den Familientyrannen perfekt ohne jegliche Sympathienoten. Nils Hausotte wirkt in der Doppelrolle als Cousin Kurt und dessen Sohn Allan wie das genaue Gegenteil: still und ruhig, alles über sich ergehen lassend, ohne jegliche Aufregung. Diese lässt er selbst dann vermissen, als ihm der finanzielle Boden unter den Füßen von Edgar weggezogen wird und dieser ihm noch obendrein seinen Sohn entzieht. Auch Annina Hunziker schlüpft in eine Doppelrolle. Sowohl Alice als auch ihre Tochter Judith wird von ihr gespielt. Besonderes Augenmerk darf man jener Szene schenken, in der die Mutter ihre Tochter in einer Art Initiationsritus in das schickliche Kleiden einer jungen Frau einweist. Wie Uwe Reichwaldt dies umsetzt, hat große Klasse und jede Menge Tiefgang. (Kostüme Antoaneta Stereva)
Totentanz (Foto: Julia Kampichler)
Totentanz (Foto: Julia Kampichler)
Totentanz (Foto: Julia Kampichler)
Totentanz (Foto: Julia Kampichler)
Totentanz (Foto: Julia Kampichler)
Totentanz (Foto: Julia Kampichler)
Es ist der Mix und die Verschränkung des Geschehens mit zeitgenössischen, technischen Bühnenmitteln, die in dieser Inszenierung von Beginn bis zum Schluss besonders faszinieren. Es ist aber auch die Erkenntnis, dass Machtspiele – und seien es auch nur solche innerhalb der eigenen vier Wände – bis heute, ja wahrscheinlich nie, ihre Aktualität verlieren. Die Wiener Neustädter Kasematten erweisen sich aufgrund ihrer Baulichkeiten und ihrem ehemaligen Verwendungszweck als Verteidigungs- und Wehrbau fast schon als ideale Naturkulisse. Die dicken Mauern des Turmes der Eheleute müssen nicht erst künstlich nachgestellt werden, sie sind vorhanden und in jedem Augenblick spürbar. Sosehr der Kampf zwischen den Geschlechtern von einem einzigen Tyrannen bestimmt wird, sosehr beeindruckt letztlich die Reaktion seiner geliebten Tochter Judith. Sie schafft es, in einem Mut erfordernden Befreiungsschlag, ihr Leben selbstbestimmt in die Hand zu nehmen und – das darf das Publikum letztlich auch hoffen – eine andere Partnerschaft als ihre Eltern zu gestalten.
In einem Interview, das Anna Maria Krassnigg mit der amerikanischen Literaturwissenschaftlerin Liliane Weissberg anlässlich einer Matinée führte, wies diese auf erstaunliche Parallelen zwischen der Strindberg-Familienkonstellation und jener des Ex-Präsidenten der Vereinigten Staaten, Donald Trump, hin. Wie Edgar liegt Trump offenbar seine eigene Tochter mehr am Herzen als alle anderen Familienmitglieder um ihn herum und wie im Strindberg-Drama ist es die Tochter, die als einzige den Mut hat, gegen ihren Vater aufzutreten. Ein wunderbarer Hinweis, der zugleich deutlich macht, wie aktuell dieses Stück nach wie vor ist.
Zur Entscheidung, das Festival „Europa in Szene“ in dieser Auflage vom diplomierten Regienachwuchs des Max Reinhardt Seminares zu bespielen, darf man Anna Maria Krassnigg gratulieren. Das ist nicht nur als programmatischer Schachzug zu bewerten, sondern zeugt auch von einer Generosität, die im Theaterbusiness eine große Ausnahme darstellt. Sowohl Totentanz als auch Coriolanus stehen noch bis Mitte Oktober auf dem Spielplan. Ergänzt werden sie durch das neue Format „Reden“, sowie den sonntäglichen Matinéen des „Salon Europa“.
Wenn der Name Shakespeare fällt, kommen wohl den meisten von uns die Königsdramen wie Lear, Macbeth oder Hamlet in den Sinn. Um jemanden zu finden, der Coriolanus gesehen hat, muss man aber lange suchen. Dem schafft gerade die Theatercompagnie „wortwiege“ bei ihrem Festival „Europa in Szene“ Abhilfe. Die Theatermacherin und Regie-Professorin am Max Reinhardt Seminar, Anna Maria Krassnigg, lud zur aktuellen Festival-Ausgabe zwei ehemalige Studierende ihrer Regieklasse ein, um dort ihre Abschlussarbeiten zu zeigen. Azelia Opak griff dafür tief in die Recherchekiste und zeigt mit einem Ensemble aus jungen, aber dennoch schon arrivierten Schauspielern und zwei Mitgliedern der „wortwiege“ den Aufstieg und Fall des römischen Patriziers Coriolanus. Es ist das letzte Shakespeare-Werk und wird allgemein als reif bezeichnet. Seine unterschiedliche Deutungshoheit mag vielleicht daran schuld sein, dass es nicht oft gespielt wird.
Coriolanus (Foto: Julia Kampichler)
Der von Kindheit an auf den Kampf gedrillte Coriolanus bewirbt sich, von seiner Mutter gepusht, für das Amt eines römischen Konsuls. Die Meriten dafür hat er sich hinlänglich erkämpft, mehr als 20 Narben könnte er dem Volk, wie es vor Amtsantritt üblich war, zeigen, um sich damit als Romtreuer auszuweisen. Könnte er – wäre da nicht sein unbeugsamer Stolz. Dieser ist es schließlich auch, der ihn zu Fall bringt. Einige Jahrhunderte nach Shakespeare wird es eine zweite Figur namens Michael Kohlhaas geben, die sich genauso unbeugsam zeigen wird, wie einst Coriolanus, wenngleich auch das Motiv ein anderes ist.
Bis es jedoch so weit ist, zeigt Opak Shakespeares Figuren in all ihrer psychologischen Differenziertheit: Coriolanus (Lukas Haas), der Unbeugsame, der ein einziges Mal nicht seinen Prinzipien treu bleibt, sonst aber als Sturkopf par excellance gelten kann. Toll, wie sich Haas in einen Furor reden kann, der fast schon erschreckend wirkt. Seine Mutter Volumnia (Judith Richter), die, ähnlich heutigen Sportmüttern, alles von ihrem Sohn abverlangt, um sich schließlich in seinem Ruhm sonnen zu können. Menenius Agrippa (Jens Ole Schmieder), Angehöriger der Elite-Kaste und Coriolanus mit wohlmeinendem Rat zur Seite stehend, um seine eigene Position nicht zu gefährden. Tullus Aufidius (Philipp Dornauer), Coriolanus mehrfach im Kampf unterlegen, wartet nur darauf, im richtigen Moment Rache nehmen zu können. Trotz seiner Jugend mimt Dornauer zwar einen heißblütigen Kämpfer, setzt aber vor jede seiner Handlungen eine große Portion Nachdenkkllichkeit. Junius Brutus (Paul Hüttinger), der als einer der ersten Volkstribune schnell gelernt hat, wie politische Intrigen funktionieren. Zwar deuten seine äußeren Attribute wie eine dicke Silberkette um den Hals auf Bürgernähe, Hüttinger verleiht seinem Tribun dennoch eine viel Verschlagenheit und Durchtriebenheit. Letztlich Sicinius Velutus (Uwe Reichwaldt), zweiter Volkstribun, der sich in Opaks Regie wie ein österreichischer Beamten-Schlawiner durch alle gefährlichen Situationen durchmogelt und dabei die Sympathie des Publikums auf seiner Seite hat.
Mit einem extrem klugen Bühnenbild (Felix Huber) wird der lange Bühnenraum getrennt. Eine runde Drehtüre – die Vorderseite in strahlendem Gold, die Rückseite pechschwarz gestrichen, gibt jeweils an, ob sich das Geschehen in Rom oder bei Roms Feind, den Volskern, abspielt. Nach der letzten gewonnen Schlacht verschmiert Coriolanus mit seinen eigenen Händen Blut auf dem großen Spiegel in der Bühnenapsis und macht damit klar, dass seine Kämpfe nicht nur ein Menschenleben gekostet haben.
Die Idee, die Produktion mit Live-Musik zu begleiten, ist nicht nur großartig, sondern macht auch dramaturgisch Sinn. Boglarka Bako und Marie Schmidt intonieren an ihren Streichinstrumenten immer wieder Beethovens Coriolanus-Motiv mit kleinen Abwandlungen. Damit werden auch jene Augenblicke unterstrichen, in welchen sich der Patrizier ganz in seinem Element als Volksführer und adeliger Herrscher versteht, der sich das Recht herausnimmt, seine Entscheidungen ohne das Volk zu machen, das er eigentlich für lästig und entbehrlich hält. Die beiden Musikerinnen sitzen links und rechts so im hinteren Bühnenabschnitt, dass man sie zwar wahrnehmen kann, sie aber das Spiel auf der begrenzten Bühne nicht stören.
Coriolanus (Foto: Julia Kampichler)
Coriolanus (Foto: Julia Kampichler)
Coriolanus (Foto: Julia Kampichler)
Coriolanus (Foto: Julia Kampichler)
Die Inszenierung lebt nicht nur davon, dass sie unterschiedliche Auffassungen eines gelungenen Staatswesens und ihren jeweiligen Vertretern aufzeigt. Die Inszenierung lebt auch von starken, emotionalen Momenten, wie jenem, in welchem Coriolans Mutter sich vor ihm auf die Knie wirft, und ihn um Gnade für Rom bittet. Wie sie sich kurz darauf an ihn klammert, zeigt überdeutlich die schicksalhafte Verbindung zwischen ihr und ihrem Sohn auf. Judith Richter bleibt mit dieser Szene unauslöschbar in Erinnerung. Aber auch Jens Ole Schmieder gelingt es, bei einem beinahe wortlosen Auftritt zu zeigen, was hohe Schauspielkunst ist. Wie er mit kurzen, abschätzigen Schnalzlauten die Volkstribunen an die Bühnenseite drängt und sie nicht mittig Platz nehmen lässt, geht unter die Haut und macht ihn in diesem Moment zutiefst verabscheuungswürdig.
Wer hier gut und wer hier böse ist, ist letztlich nicht wirklich auszumachen. Wie im richtigen Leben gibt es in diesem Stück kein wirkliches Schwarz und kein wirkliches Weiß. Was bleibt, ist die Erkenntnis, dass Politik früher genauso wie heute von Menschen gemacht wird. Von Menschen, die einerseits kraft ihres eigenen Willens dort stehen, wo sie stehen und andererseits dank familiärer oder politischer Seilschaften sich einen Platz erobert haben, für den sie bereit sind, persönliche Opfer zu bringen, aber auch über Leichen zu gehen.
Dass das Stück wie für die Kasematten in Wiener Neustadt gemacht scheint, ist ein weiterer Pluspunkt der Inszenierung. Umrahmt werden die weiteren Aufführungen von Salon-Gesprächen, aber auch einem neuen Format. Mit „Reden“ werden Reden von berühmten Menschen reenacted, die man meist nur vom Hörensagen kennt. Eine weitere tolle, künstlerische Idee, welche das große Feld der „Macht“, um das es letztlich bei „Europa in Szene“ in den Kasematten von Wiener Neustadt geht, von einer anderen Seite beleuchtet.
Ein großes Glasfenster gibt den Blick frei auf eine grüne Landschaft, während das Publikum seine Plätze aufsucht. Als das Ensemble die Bühne betritt, muss es Taschenlampen benutzen, denn die Nacht ist angebrochen.
Birgit Stöger, Tamara Semzov und Thomas Kolle suchen sich einen Platz auf einer Laufsteg-ähnlichen Architektur und legen durch Wegziehen von Plastikfolien ein Schwimmbad frei, das ohne Wasser den Bühnenraum beherrscht. (Bühne und Kostüm Andrea Simeon gemeinsam mit der Regisseurin Blanka Rádóczy) Metaphorisch haben sie sich von einer irritierenden, angsteinflößenden Außenwelt in einen geschützten Raum begeben. Einen Raum, in dem sie ins Innere ihres Seelenlebens schlüpfen werden, um es von verschiedenen Blickwinkeln aus zu erforschen.
Die deutsche Autorin und Peter-Härtling-Preisträgerin Regina Dürig schuf mit der Novelle „Federn lassen“ die Grundlage für das Stück im Kosmostheater und erhielt dafür 2021 den Literaturpreis des Kantons Bern. Darin vermisst sie weibliche Befindlichkeiten von der Kindheit an bis ins mittlere Lebensalter. Sie beschreibt Erlebnisse, die so oder in leicht abgewandelter Form viele Frauen teilen. Ereignisse, die das Verständnis von Frau-Sein über die Jahre hinweg prägen und formen. Momente, über die aber oft nicht gesprochen wird. Es sind mit Scham behaftete Erlebnisse, wie verbale oder körperliche Übergriffe, die von Kolle, Semzov und Stöger in rosaroten bis knallroten Outfits vorgetragen werden. Dürigs Sprache bleibt dabei erstaunlich emotionslos und distanziert. Das psychologische Phänomen, welches eine Abspaltung des Ichs von traumatischen Erinnerungen bewirkt, wird dadurch spürbar.
„Federn lassen“ im Kosmostheater (Foto: (c) Bettina Frenzel)
„Federn lassen“ im Kosmostheater (Foto: (c) Bettina Frenzel)
„Federn lassen“ im Kosmostheater (Foto: (c) Bettina Frenzel)
„Federn lassen“ im Kosmostheater (Foto: (c) Bettina Frenzel)
„Federn lassen“ im Kosmostheater (Foto: (c) Bettina Frenzel)
„Federn lassen“ im Kosmostheater (Foto: (c) Bettina Frenzel)
„Federn lassen“ im Kosmostheater (Foto: (c) Bettina Frenzel)
Durch einen Regie-Kunstgriff gelingt es an einer Stelle dennoch, einen hohen Emotionslevel ins Publikum zu schieben. Und dies ganz ohne Action und Sprache. Semzov erzählt einleitend von einer Situation, in der die „Du-Erzählerin“ Opfer einer Vergewaltigung durch vier junge Männer wurde. Das, was in ihrem Kopf dabei vor sich ging – Erinnerungsfetzen in Stichworten zusammengefasst – werden dabei in großen, weißen Lettern auf die schwarze Bühnenrückwand projiziert. Unterstützt von einer beklemmenden Stille, die sich im Saal ausbreitet, entsteht ein unheimlicher Sog, ein Mitfühlen und Atem-Anhalten und ein Gefühl der absoluten Hilflosigkeit.
Immer wieder werden jene Momente thematisiert, in welchen Frau sich von Mann zu Handlungen überreden lässt, die sie eigentlich nicht machen möchte. Immer wird dieses Übergehen des eigenen, richtigen Bauchgefühls prompt mit einem negativen Ausgang bestraft. Ob es ein Essen wider Willen oder ein Saunabesuch ist, von dem Frau weiß, dass sie ihn nicht verträgt, ob es das arglose Mitnehmen des Freundes eines Freundes in die eigene Wohnung oder das Kaufen eines spitzenbesetzten BHs anstelle eines bequemen, bauchfreien Oberteils ist – jedes Mal führt das Übergehen der eigenen Bedürfnisse zu einem Zurechtstutzen der Idee, die vor allem noch junge Frauen von einem gelungen, selbstbestimmten Leben haben. Mit jeder neuen Enttäuschung, Kränkung oder Belästigung lässt dabei die eigene Seele Federn, solange, bis sie sich selbst nur mehr vage spürt und sogar am eigenen Leib strafrechtlich erlittene Handlungen leugnet.
Als auditive Ergänzung dienen Soundeinspielungen (Moritz Wallmüller), welche die Putzhandlungen und Aufräumarbeiten unterstützen, die zwischen den einzelnen Textpassagen ausgeführt werden. Je länger die Vorstellung dauert, umso stärker drängt sich die Frage auf: Wie oft muss sich eine Frau selbst beschneiden, wie oft lässt sie es noch zu, dass ihr Körper und ihre Gefühle massakriert werden, ohne eine Konsequenz zu ziehen? Und diese Frage bezieht sich nicht nur auf die Figuren auf der Bühne.
„Federn lassen“ ist ein Stück für Frauen und Männer jeden Alters. In ihm werden Erfahrungen geteilt, die Jüngeren als Mahnung gelten können, sich in gewissen Situationen standhafter zu erweisen und auf sein eigenes Gefühl zu hören und diese nicht zu übergehen. Es ruft aber auch Erinnerungen hervor, welche die vermeintlich eigene Schuld an Missbräuchen jeglicher Art relativieren und entlasten. Und es bietet viel Redestoff zwischen den Geschlechtern, ohne dabei jemals das Gegenüber anzuklagen oder verurteilen zu müssen.
„Herr Grillparzer fasst sich ein Herz und fährt mit dem Donaudampfer ans Schwarze Meer“ ist der opulente Titel eines Stückes von Erwin Riess. Darin beschreibt er das Aufeinandertreffen einer jungen Ungarin mit dem alternden Franz Grillparzer, der sich auf eine Reise von Wien nach Athen begeben hat. Sowohl er als auch die junge Frau flüchten vor den Umständen ihres Heimatortes. Riess gelingt es, Franz Grillparzer als einen Menschen zwischen Zaudern und Beharren, zwischen aktivem Kreativitätsschub und grantlerischer Lethargie greifbar zu machen. Csilla, seine ihm zugeteilte Stewardess, entpuppt sich rasch als wissbegierige junge Frau. Sie erkennt in dem Schriftsteller eine unverhoffte Bildungschance, vielleicht sogar einen Ausstieg aus ihrem Taglöhnerdasein.
„Herr Grillparzer“ – wortwiege, Wiener Neustadt (Foto: Ludwig Drahosch)
„Herr Grillparzer“ – wortwiege, Wiener Neustadt (Foto: Ludwig Drahosch)
„Herr Grillparzer“ – wortwiege, Wiener Neustadt (Foto: Ludwig Drahosch)
„Herr Grillparzer“ – wortwiege, Wiener Neustadt (Foto: Ludwig Drahosch)
„Herr Grillparzer“ – wortwiege, Wiener Neustadt (Foto: Ludwig Drahosch)
„Herr Grillparzer“ – wortwiege, Wiener Neustadt (Foto: Ludwig Drahosch)
Mit der Form einer „Szenischen Skizze“, wie Anna Maria Krassnigg dieses spezielle Format nennt, wechselt das Geschehen auf der atmosphärisch eingerichteten Bühne von Lydia Hofmann permanent zwischen freiem Spiel und Lesung. Dadurch schafft die literaturbesessene Theatermacherin einen eigenen Raum, der sich zwischen dem geschriebenen Wort und seiner darstellenden Umsetzung auf der Bühne bildet. Dabei gelingen Ein- und Ausblicke sowohl zurück zum Buch als literarischen Ursprungsort als auch zu einer Bühne, auf welcher das Geschriebene eine dreidimensionale Lebendigkeit erfährt. Die herausragende Besetzung – Horst Schily als Grillparzer und Saskia Klar als Csilla, sowie Raphaela Schober in der Apsis des Bühnenraums am Bösendorfer-Konzertflügel, ausgestattet mit einem üppigen, gold glänzenden Schleppenrock, der an schimmernde Wasserreflexionen und Wellen der Donau erinnert, machen die Aufführung zu mehr als einem theatralischen Kleinod. Und vor allem Lust, sich Grillparzer wieder oder auch ganz neu lesend zu nähern.
Chikago
Dasselbe Format, wenngleich auch stofflich gänzlich verschieden, wird dem Publikum in einer zweiten „Bühnenröhre“ der Kasematten mit dem Stück „Chikago“ präsentiert. Es ist dies eine dramatische Bearbeitung des gleichnamigen Romans von Theodora Bauer. Karl Baratta und Marie-Therese Handle-Pfeiffer schufen die Bühnenfassung. Dabei blieb der Sprachdiktus von Bauer erhalten, der sich von poetisch-erzählerischen Passagen hin zu rohen, fast kantigen Dialogen spannt.
Mit Anna (Nina Gabriel) und Katica (Anna Maria Krassnigg) werden zwei Schwestern aus dem Burgenland der 20er-Jahre des vorigen Jahrhunderts vorgestellt, die sich mit einem jungen Mann, Niko Lukic, aus ihrem Ort nach einem dramatischen Ereignis „ins Amerika“ aufmachen. Der Roman erzählt eine Familiengeschichte über drei Generationen hinweg. Er berichtet vom Auswandern genauso wie vom Zurückkommen und erklärt auf sehr anschauliche Weise, wie junge Menschen politisch radikalisiert werden können. Auch diese Inszenierung lebt von einer musikalischen Besonderheit. Christian Mair agiert sowohl am Hackbrett als auch an einem Sampler und untermalt das Geschehen mit zarten Klangspuren bis hin zu jazzigen Rhythmen und deutschem Liedgut.
„Chikago“ – wortwiege, Wiener Neustadt (Foto: Ludwig Drahosch)
„Chikago“ – wortwiege, Wiener Neustadt (Foto: Ludwig Drahosch)
„Chikago“ – wortwiege, Wiener Neustadt (Foto: Ludwig Drahosch)
„Chikago“ – wortwiege, Wiener Neustadt (Foto: Ludwig Drahosch)
„Chikago“ – wortwiege, Wiener Neustadt (Foto: Ludwig Drahosch)
„Chikago“ – wortwiege, Wiener Neustadt (Foto: Ludwig Drahosch)
„Chikago“ – wortwiege, Wiener Neustadt (Foto: Ludwig Drahosch)
„Chikago“ – wortwiege, Wiener Neustadt (Foto: Ludwig Drahosch)
Das Ensemble spielt hinter einer langgezogenen Tafel. Gekennzeichnet nur durch minimale Veränderungen an den Kostümen, schlüpfen Lukic und Krassnigg in mehrere Rollen. Ein Erlebnis, wie sich Krassnigg dabei von blutjungen Mädeln sich zum nationalistischen Anführer einer Jugendgruppe verwandelt. Die Wiederholung eines tragischen Lebens in der familiären Kette Vater-Sohn zeigt Lukic ohne aufgesetzen Pathos lebensnah. Einzig Nina C. Gabriel verkörpert durchgehend eine einzige Person: Anna, die trotz widrigster Umstände ihr Leben meistert und ausgestattet mit einer großen Portion Lebensweisheit auch das politische Geschehen rund um sie herum mit treffenden Aussagen messerscharf analysiert.
Die feinfühlige Staffage von Lydia Hofmann inklusive eines dreidimensionalen Tableaus, das eine amerikanische Skyline inklusive ihr vorgesetzter Freiheitsstatue zeigt, lässt mühelos den Ortswechsel zwischen dem burgenländischen Dorf und der amerikanischen Großstadt zu.
Die „Szenischen Skizzen“, die Anna Maria Krassnigg hier publik macht, würden sich – in gekürzter Fassung – auch extrem gut als Fernsehformat machen. Man stelle sich vor, Bücher würden so vorgestellt werden! Mit einem dramaturgisch gut gesetzten Ende könnte man wahrscheinlich gar nicht anders, als sofort die Buchhandlung seines Vertrauens aufzusuchen und sich diese Lektüre kaufen.
Die Großmutter
„Die Großmutter“ – wortwiege, Wiener Neustadt (Foto: wortwiege)
„Die Großmutter“ – wortwiege, Wiener Neustadt (Foto: wortwiege)
„Die Großmutter“ – wortwiege, Wiener Neustadt (Foto: wortwiege)
Ergänzt wird das Festival in Wiener Neustadt durch sonntägliche Matineen, in welchen auch der Kurzfilm „Die Großmutter“ mit Erni Mangold in der Hauptrolle gezeigt wird. Eine filmische Fassung der wortwiege nach einer Erzählung von Marie von Ebner-Eschenbach. Darin trifft eine alte Frau in ihrer Trauer um ihren Enkelsohn auf einen jungen Anatomie-Arzt. Die Rückwärtsspulung ihres Ganges vom Donauufer hin zur Prosektur erzeugt eine eigene Zeitqualität, die sich vom realen Messen und Erleben einiger Stunden abhebt. Und die den letzten Weg ihres ertrunkenen Enkels, weg vom Wasser, hin in die Leichenhalle, auf subtile Weise nachzeichnet.