Georg Nigl hatte eine einfache und doch geniale Idee: Er bat verschiedene Komponistinnen und Komponisten, Lieder für ihn zu komponieren. Und das taten diese tatsächlich. Olga Neuwirth, Peter Eötvös, Wolfgang Rihm, Pascal Dusapin, Wolfgang Mitterer und Friedrich Cerha kamen Nigls Aufforderung nach und ermöglichten so dem jungen österreichischen Bariton, sich ein eigenes, ganz spezielles Konzertrepertoire aufzubauen. Eines, das ihm sozusagen auf die Stimme geschnitten ist.
Am 22.11. gelangten Cerhas und Mitterers Kompositionen im Rahmen des Festivals Wien Modern zur Aufführung und zeigten allein anhand dieser beiden Positionen, wie groß die Bandbreite der zeitgenössischen Kompositionen in dem beinahe schon vergessen geglaubten Genre des Liederabends ist.
Friedrich Cerha griff textlich auf Gedichte des Forum Stadtpark Mitbegründers Emil Breisach zurück, den viele vielleicht noch als ORF Intendant des Landesstudio Steiermark kennen. In diesen Kurzgedichten begibt sich der Autor auf sehr lyrisches Terrain. Er beschreibt darin die abendliche Stimmung in einem Zimmer genauso wie das flüchtige Liebesgefühl oder die unsichtbaren Ketten der Unfreiheit, die viele von uns umspannen, aber nur von wenigen, als solche wahrgenommen werden. Cerha verpackte diese Texte in eine musikalische Wundertüte namens Malinconia, aus der sie sich sanft einer nach dem anderen, umschmeichelt von der warmen, samtigen Stimme Nigls und dem weichen, zarten Posaunentönen von Walter Voglmayr in die Gehörgänge des Publikums schlichen. Friedrich Cerha gelang der Zaubertrick, die menschliche Stimme den Klängen der Posaune gleichwertig danebenzusetzen und dadurch ein ausgewogenes Gleichgewicht der beiden ansonsten so unterschiedlichen Instrumente zu erreichen. Die große Könnerschaft Voglmayrs trug maßgeblich dazu bei, Nigl auch nicht ein einziges Mal zu übertrumpfen, oder hinter dem Bariton in eine simple Begleitung zurückzufallen. Eine wunderbar ausgewogene Komposition, die das Kunstlied neu und eindrucksvoll definierte.
Im zweiten Programmteil war es Wolfgang Mitterer, der klar machte, dass er einen gänzlichen anderen Zugang zu diesem Thema pflegt. In seiner Komposition „Sturm“, geschrieben für Bariton, präpariertes Klavier und Electronics war Georg Nigl mit der Herausforderung konfrontiert, einem dichten Klangteppich, resultierend aus den eingesetzten Instrumenten, die Mitterer selbst spielte und bediente, seine Stimme oft kraftvoll dagegensetzen zu müssen. Dies geschah mehrfach, indem er sich nicht des Gesanges, sondern vielmehr eines Sprechgesanges bediente, in den er kurze, gesangliche Passagen einschob. Mitterers Klangwelt, die sich vor allem zu großen Teilen aus seinen ganz spezifischen, jedoch leicht wiedererkennbaren Electronikeinspielungen speist, stellte sich dabei nur manches Mal gleichberechtigt neben die Stimme Nigls, immer jedoch gleichberechtigt neben den Text. Dieser wurde aber in den wenigsten Fällen originalgetreu übernommen, sondern vielmehr auf weite Strecken verändert. Schubert goes DADA, so könnte man so manche neue Liedkomposition auf einen kurzen Nenner bringen, was gleichzeitig bedeutet, dass Liebhaber der beiden Schubert´schen Liedzyklen und anderer Lieder des Komponisten dieses Werk wahrscheinlich in zwei Lager spalten wird. Freunde experimenteller Musik, ohne Ressentiments gegenüber der Neubearbeitung von historischem Klangmaterial, kamen jedoch auf alle Fälle auf ihre Kosten. Wie Nigl „Dein ist mein Herz“ sarkastisch von der Bühne brüllte war witzig und beeindruckend zugleich. „Der Vater und das Kind“, das kurz darauf neu interpretiert wurde, zeigte sich so lyrisch und zart sowohl im Gesang als auch von Mitterer dementsprechend begleitet, dass man sich darin sofort verlieben konnte. „Es ist so schön, du süßes Herz“ hingegen forderte Mitterer – fast möchte man sagen – klarerweise dazu auf, Gegenposition einzunehmen und nicht Schönes an diesem Schönen zu lassen, sondern vielmehr klanglich ganz höllisch dazu aufzukochen. Und so, als ob er zeigen wollte, dass er auch das narrative Element beherrscht, begann es beim Bächlein, dass beschworen wurde Ruh`zu geben, fein zu zirpen und zu schmatzen. Heftiger Applaus zeigte im beinahe ausverkauften Baumgartner Casino, dass das Publikum nicht nur verstandesmäßig, sondern auch emotional dem akustisch so bunten Treiben auf der Bühne gefolgt war und seine Freude daran hatte.
Am Sonntag, dem 20.11., trafen im großen Saal des Konzerthauses britische und österreichische Kompositionen aufeinander. So standen den beiden Landesaltmeistern Harrison Birtwistle und Friedrich Cerha auch zwei junge Positionen gegenüber. Emily Howard und Gerald Resch waren ebenso mit Kompositionen vertreten, die das RSO unter James MacMillan zum Klingen brachte.
Erstaunlich war, wie beim Festival Wien Modern 2011 öfter schon festgestellt werden konnte, die Homogenität des gesamten Konzertes. Die Auswahl der Stücke, die zumindest in Teilen untereinander verwandt, oder zumindest befreundet schienen.
Spannend verlief der Abend deswegen, weil sich zeigte, dass Leises, Verhaltenes so atemberaubend wirken kann, sodass schon ein einziger Nieser aus dem Publikum an einer Stelle genügte, um diese konzentrierte Stimmung zumindest für einige Momente zu kippen.
Birtwistles „An imaginary landscape“, geschrieben für ein großes Blechbläseraufgebot, Kontrabässe und Percussion beeindruckte vor allem durch die Verhaltenheit in der Dynamik, die man bei dieser Besetzung überhaupt nicht erwartet hätte. Stück für Stück beschreibt der Komponist darin eine Landschaft, die sich verdichtet und wieder lockert. Man könnte die Komposition auch mit der Kartografierung einer weißen Landkarte vergleichen, in der Punkt für Punkt nacheinander eingezeichnet wird und so die Landschaft nach und nach zu einer Beschreibung gelangt. Die sphärische Auflösung am Schluss leitete wunderbar zu Emily Howards „Solar“ über. Eine Beschreibung unserer Sonne, die sie fast wie in einer Großaufnahme, in der man die Protuberanzen sehen kann, zeichnete. Einer farbigen Einleitung folgte der Aufbau einer großen Klangmasse, die sich schwer und fast träge weiterentwickelte, ohne jedoch je zu explodieren.
„Schlieren für Violine und Orchester“ von Gerald Resch, war das darauffolgende Stück betitelt, das nicht nur vom Publikum, sondern vor allem vom Solisten eine große Portion Aufmerksamkeit erforderte. Benjamin Schmid an der Violine zeigte mit unglaublicher Gelassenheit, dass man auch schwierige Passagen so spielen kann, als würden sie wie selbstverständlich über die Violinseiten wachsen. Wie symphonische Miniaturen hintereinander gereiht, setzt Resch diese wie auf eine Perlenschnur und übertitelt sie mit fließend, pochend und verspielt. Ganz wunderbar, wie er zu Beginn aus einem fast flirrenden Schwebezustand des gesamten Klangapparates die Geige sich langsam in den Vordergrund schieben lässt, bis sie solistisch stehen bleibt. Die verhaltene Spannung, die sich daraufhin bildete, ähnelte sehr jenem Zustand, mit dem zuvor Birtwistle schon beeindruckte – unter anderem jedoch mit dem Unterschied, dass Schmid mit einem Solo am Ende des 2. Satzes brillieren durfte, das zusätzlich durch Paukenschläge rhythmisiert worden war. Fast übergangslos ließ Resch die Musik in einen Tanzrhythmus gleiten, um schließlich eine kleine jazzige Geläufigkeitsübung im Soloinstrument anzuschließen. Bald schon stellte sich aber heraus, dass diese Sequenz nur die Aufwärmphase für die schwierige, abschließende Solopassage darstellte. Reschs Werk charakterisiert sich durch den Einsatz hoher musikalischer Intelligenz, die jedoch – wie bei ihm so oft – mit einer kompositorischen Augenzwinkerei versehen wird. Gerade diese Kombination macht die Arbeiten des jungen Komponisten so spannend, so sympathisch und herzerfrischend zugleich. Seine Musik ist eben nicht nur für den Kopf gemacht, aber weit davon entfernt, aus dem Bauch geboren worden zu sein.
Emily Howard, die an diesem Abend gleich mit zwei Arbeiten vertreten war, legte mit „Calculus oft he Nervous System“ ein Werk vor, in welchem sie sich von Ana Lovelace, der Tochter von Lord Byron, beeinflussen ließ, die als herausragende Mathematikerin galt. Auf eine überaus zarte Einführung – in der mehrere Generalpausen das Stück in die Schwebe erheben – kippt ihr Werk dramatisch, um kurz danach mit scharfen Einschnitten aufzuwarten. Diese für die Komposition so charakteristische duale Haltung endet nicht abrupt, wie man erwarten möchte, sondern in einer Art Endlosschleife von allerletzten Tönen und wiederum allerletzten Tönen und wiederum allerletzten Tönen… . Ein Werk, das man wegen seiner unglaublichen Einprägsamkeit beim zweiten Mal Hören sicher sofort wieder erkennen wird.
Der letzte Programmpunkt war Friedrich Cerhas „Wie eine Tragikomödie“ vorbehalten und wie immer bei seinen Kompositionen für großes Orchester, kommt das Publikum dabei klanglich voll auf seine Kosten. Durch dichte, hochdramatische Streicherklänge, die von Trommeln und Pauken unterstützt werden, schält sich eine aufsteigende Melodie heraus, die schließlich im Paukenwirbel kulminiert. Ihnen folgt die melodiöse Bratsche, die in Zwiesprache mit der gezupften Harfe tritt und alsbald von der Oboe abgelöst wird. Glockenschläge, wie von Ferne tauchen auf und begleiten das Stück, das sich schließlich in absteigenden Tonfolgen wieder in eine nervöse, dunkle Grundhaltung zurückmanövriert. Cerhas Kunst, ein Thema durch den gesamten Klangapparat laufen zu lassen, ohne dass auch nur einen Augenblick Langeweile aufkommt, ist aber noch von wesentlich stärkeren kompositorischen Elementen geprägt. So könnte man den Ablauf mit der Idee vergleichen, die Musik wie in eine große Reimform zu setzen. Was hier vielleicht abstrakt klingen mag, kann sinnlich – hörbar erfahren werden, wenngleich man für die tiefe Erkenntnis nicht ohne Partiturstudium auskommt.
Abschließend sei noch bemerkt, dass dieses Konzert, wie eingangs schon erwähnt, wie auch so manch andere während des Festivals Wien Modern, von einer ganz besonderen Sensibilität in der Zusammenstellung geprägt war. Diese kommt nur durch Kennerschaft der Werke zustande oder zumindest durch ein untrügliches Gefühl für Verwandtschaften und Gegensätze. Matthias Losek sei an dieser Stelle vor den Vorhang geholt!
Der Saal des Semperdepots ist nur schwach erleuchtet. 12 niedrige Podeste, hinter denen jeweils elektronisch präparierte Pianos stehen, rhythmisieren den Raum. Das Publikum findet an diesem Abend keine Sitzplätze vor, sondern bewegt sich nach Lust und Laune im Raum. „Freie Platzwahl“ ist somit wörtlich zu nehmen. „Maschinenhalle #1“, so der Titel der Veranstaltung, tut ihrem Namen alle Ehre. Wer sitzt schon im Theatersessel in einer Maschinenhalle! Nachdem die 12 Tänzerinnen und Tänzer ihre Plätze auf je einem Podest eingenommen haben, markieren wenige harte Klavierakkorde den Beginn der Vorstellung. So, als wollten sie sich einzeln präsentieren, beginnt das Ensemble nacheinander auf den Kupferplatten, die auf den Podesten liegen und mit den Pianinos verkabelt sind, mit seinen Schrittkombinationen. Und jeder dieser Schritte löst Klavierklänge aus. Oder tanzen sie zu der elektronisch gesteuerten Musik?
Maschinenhalle #1 (c) Franz Zotter
Christine Gaigg (Choreografie), Bernhard Lang (Musik), Winfried Ritsch (Technik) und Philipp Harnoncourt (Licht) zeichnen für diese Produktion verantwortlich. Im Vorjahr als Auftragswerk vom Steirischen Herbst entstanden, produziert das Werk an diesem Abend in Wien neben der Performance selbst eine Flut von Gedanken. Egal, welchem Rhythmus sich die Agierenden gerade hingeben, ob langsam, beschaulich oder stakkatomäßig in einer atemlosen Hetze, das Publikum gruppiert sich ballungsartig um diejenigen, die gerade dabei sind aktiv zu sein. Kegelscheinwerfer erleuchten die ProtagonistInnen abwechselnd und sorgen so zusätzlich für den Publikumsfluss im Raum, der den Lichtreizen folgt. Getanzt wird zu Klängen, die zuvor in die Musikmaschinen eingespeist wurde, ohne Rücksicht auf die anderen TänzerInnen im Raum. Jede und jeder agiert für sich und dennoch ähnelt sich ihre Choreografie. Auf Bildschirmen wird angezeigt, wie oft eine bestimmte Bewegung wiederholt werden muss und es wird einem bei den angezeigten Zahlen schwindelig. Wenn von 300 auf 0 heruntergezählt wird, dann weiß nicht nur die Company, dass jetzt harte Arbeit auf sie zukommt. Maschinengleich wiederholen die Akteurinnen und Akteure ein bestimmtes Bewegungsmuster bis endlich – man empfindet es beinahe als Erlösung – zwei von ihnen menschliche Regungen zeigen. Sie sacken in sich zusammen, fallen dramatisch auf den Boden, um im selben Moment jedoch wieder emporzuschnellen, um sofort wieder und wieder zusammenzufallen und wieder und wieder aufzustehen. Selbst der Erschöpfungszustand gerät zur replizierbaren Aktion ohne Erlösungsgnade.
Die Poesie der Musik in den langsameren Passagen steht im harten Kontrast zu jenen Teilen, in denen die Taktzahl so erhöht wird, dass das Unisono-Stampfen der Tänzerinnen und Tänzer nicht nur Produktionsassoziationen zulässt, sondern schon fast martialisch wirkt. Und doch kann man den Menschen eine gewisse Lust an ihrem Tun nicht absprechen. Es ist offenkundig schön, produktiv zu sein, sich einzubringen in ein größeres Ganzes, sein Bestes zu geben, bis zum Umfallen. Viele aus dem Publikum mag dabei wohl ein mulmiges Gefühl beschlichen haben, zu sehr sind Parallelen zur heutigen Arbeitswelt offenkundig, die von den meisten als Hamsterrad empfunden wird, in dem man zu funktionieren hat.
Der Kunstkniff, das Publikum als Teil des Geschehens einzubinden, quasi als Beobachter, wenn nicht sogar als Überwacher der „Menschmaschinen“, funktioniert. Es erhält die Möglichkeit, sich als Teil des Geschehens zu fühlen und dennoch hat es die Chance, dabei zu reflektieren. Über die eigene Rolle in dieser Vorstellung, aber noch mehr über die eigene Rolle im Arbeitsprozess, in den es eingespannt ist. Die kleine, begrenzte Aktionsfläche, auf der jeweils getanzt wird, lässt keinen großen Spielraum für Individualität zu. Umsomehr wird jede einzelne Bewegung, die von den am Nachbarpodest Tanzenden abweicht, schon als kleine Sensation gewertet. Die Macht der Gruppe wird nur dort spürbar, wo alle zugleich im selben Schrittrhythmus agieren. In diesen Momenten generiert die Masse zur Macht, obwohl es nur 12 Menschen sind, die diese Masse bilden. Masse und Macht sind nicht im Sinne Canettis zu verstehen, sondern, obwohl das Lustprinzip auch hier eine gewisse Rolle spielt, eher in der Macht der Produktion durch und für die Massen.
Ein Abend, der neben den körperlich extrem anstrengenden und dadurch bewunderungswürdigen Repetitionen reichlich Gelegenheit bot, über unsere eigene Rolle in der Produktionsgesellschaft aber auch über die derzeitige Pervertierung von Konsum und dessen Auswirkungen auf das Individuum nachzudenken.
Zwei Konzerte, die bei Wien Modern in einer Woche zu hören waren, können programmatisch für das breite musikalische Spektrum angesehen werden, das bei diesem Festival geboten wird. Es ist möglich, beide Konzerte brennpunktartig zu benennen, um auf den Punkt genau auszudrücken, wie sich die Abende gestalteten: Schwarz und Weiß. Nicht bunt, nicht Grau in seinen Abstufungen, sondern Schwarz und Weiß.
Wolfgang Mitterer (c)-Julia-Stix
Zu hören waren am Montag, dem 14. November, Philip Jeck in einer Gemeinschaftsproduktion mit Bernhard Lang und dem Ensemble Alter Ego in einem Konzert mit dem Titel „Tables are turned“, sowie am Mittwoch, dem 16.11., Wolfgang Mitterer mit seinem Stück „free radio“. Jeck, Lang und Alter Ego stehen für die Farbe Weiß, Mitterer hingegen für Schwarz.
TablesAre Turned ging als österreichische Erstaufführung über die Bühne und versetzte das Publikum schon nach kurzer Zeit in eine Art Trancezustand. Bernhard Lang, der für die ausnotierte Komposition verantwortlich zeichnete, die das italienische Ensemble mit einer fast übermenschlichen Präzision „abspulte“, schuf – ganz im Sinne von Philip Jeck – ein Werk, das Loops, also ständige Wiederholungen, als wesentliches Element der Gestaltung einsetzte. Und doch ist es falsch von Loops zu sprechen, denn diese wiederholen sich für gewöhnlich in bestimmten Abfolgen immer wieder präzise. Bei Lang jedoch herrschte Vielfalt in der Einheit. Seine kurzen, miniaturhaften Sequenzen veränderten sich ständig – nicht einmal unmerklich –, sondern deutlich wahrnehmbar. Dennoch gelang es ihm, den pace der Musik trotz der Vielfalt im Detail so herabzudrosseln, dass das vegetative Nervensystem der Zuhörerinnen und Zuhörer nicht anders konnte, als auf Entspannung zu schalten. Philip Jecks Kunst an seinen zwei Turntables der Marke Densette, ergänzten auf unglaublich harmonische Weise das Lang´sche Klanggerüst. Oder präziser ausgedrückt: Durch seine „Kunst“ erweiterte er die vorgegebenen Farbskalen immens. Was zu Beginn der „Session“ noch deutlich wahrnehmbar war, der Unterschied zwischen der Livemusik des Ensembles und jener, die aus der „Plattenkonserve“ kam, verwischte sich im Laufe des Geschehens zusehends, bis man schließlich an einem bestimmten Punkt nicht mehr unterscheiden konnte, was nun eingespielt und was im Augenblick auf der Bühne an Klängen produziert wurde. Entspannung, hervorgerufen durch Spannendes, Zeitgeistiges, produziert mit bereits historischen Hilfsmitteln – stammen die Turntables doch aus den 60er Jahren –, diese Gegensätze machten die gelungene Mischung dieser Aufführung aus. Ein kleiner Hinweis noch in „fremder“ Sache: Im Begleitkatalog zum Festival ist die Komposition außerordentlich gut beschrieben – und aus mehreren verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet – Prädikat: Lesenswert!
Wolfgang Mitterer lieferte zwei Tage später das absolute Kontrastprogramm. Seine Komposition „free radio“ war alles andere als entspannend. Er saß selbst am Königsinstrument der Instrumente – der Orgel – mit dem Rücken zum Publikum und bediente dabei nicht nur dieses Instrument, sondern auch zusätzlich ein seitlich aufgestelltes Keyboard. Und als ob all dies noch zuwenig Klang produzieren würde, steuerte ein Laptop, noch zusätzliche auditive Sensationen bei. Die Klangvielfalt und vor allem die Klangwucht, die Besessenheit, die Mitterer erfasst, sobald er in die Tasten greift, die konvulsivischen Bewegungen der Komposition, das Auf- und Ab-, das Anschwellen und wieder Abflauen der Klangwellen erinnern an einen elementaren Vorgang im Leben jedes Menschen – an die Geburt. Frauen, die geboren haben, wissen wahrscheinlich besser, welche Gefühle diese Musik weckt, wie sich diese Musik „anfühlt“.
Als gewaltiges Naturereignis, das über einen hereinbricht, ohne dass man es lenken oder auch stoppen könnte, wird jener Vorgang empfunden, der neues Leben auf diese Welt bringt. Die kurzen Verschnaufpausen, in denen eine Gebärende wieder Kraft sammeln muss, um die bald darauf wieder eintretenden Schmerzen der Geburtswehen zu überstehen, sind von Angst geprägt. Von einer Vorahnung auf das, was unweigerlich und mit noch größerer Vehemenz kommen wird, als das soeben Erlebte. Mitterers Klangwehen kommen auch nicht unvorbereitet. Sie bauen sich bedeutungsschwanger auf, entwickeln sich, nehmen an Stärke zu, um schließlich so durch den Konzertsaal zu brausen, dass der Schall körperlich spürbar wird. An den Eingangstüren zum Konzertsaal ist ein Hinweis nach einer EU-Vorschrift angebracht. Dieser besagt, dass aufgrund der zu erwartenden Lautstärke dem geneigten Publikum Ohrstöpsel zur Verfügung stehen. Eine Verordnung, die in diesem Falle, würde man sich tatsächlich „zustöpseln“, einer Betäubungsspritze gleichkäme, die zwar den Geburtsakt weiter ablaufen, das Elementarereignis aber gänzlich anders erfahren ließe. Mitterer selbst erscheint – schon aufgrund der assoziativen klanglichen Nähe seines Instrumentes, das dieses automatisch in Kirchenräume versetzt, – wie eine Art Antichrist. Er tobt und rast auf und mit seinem Instrument, er produziert Bilder, die keinerlei Lichtblick zulassen. Gebilde, die Organisches beschreiben, das nur in den schlimmsten Klon-Labors entstehen kann. Visionen, geboren aus Depressionen. Schimären, von denen es kein Davonlaufen gibt. Er behandelt seine Orgel so, als sei sie ein Wesen aus Fleisch und Blut und wohl deshalb beginnt sie auch, so zu klingen. Sie atmet, sie ringt nach Luft, sie presst diese wie in letzten Atemzügen aus sich heraus, um gleich darauf, nach Atem ringend, Luft wieder einzusaugen. Diesem Klangleben gegenübergestellt dominieren auditive Eindrücke aus der industriellen Großproduktion immer wieder das Geschehen, gestalten Räume stärker als Gefühle. Maschinen, in einer Fabrikhalle aufgestellt, stampfen und zermalmen, produzieren und zerstören in Permanenz das, was den Menschen zum Menschen macht. Die Individualität, die Unregelmäßigkeit, das Unfertige, Verletzbare und ständig Fehlbare wird überwalzt durch eine beängstigende Präzision, welche die Klänge der Technik auf ein Podest erheben. Der Mensch jedoch ist anpassungsfähig. Sosehr, dass er sich auch an das Schlimmste gewöhnen kann und dagegen sogar abstumpft. Immer und immer wieder spielt Mitterer das Spiel mit der Angst vor der Klangwucht.Vielleicht ein- oder zweimal in den 70 Minuten der Komposition zu oft. Einen „Tick“ zu oft, einen „Tick“ zu lange, würden unsere deutschen Nachbarn es ausdrücken, wenn sie damit sagen wollen, dass ein Hauch weniger vielleicht mehr gewesen wäre. Denn entgegen einer Geburt geschah das anfangs Unterwartete: Die Klangtsunamis begannen, durch die Gewöhnung an sie, an empfundener Stärke abzunehmen. Sowie auch die Entspannungsphasen zwischen ihnen zu einer Art Déjà-vu verkamen. Die kleine, fast unschuldige Abschlussmelodie wiederum, die dem Spuk ein Ende bereitete, hätte noch eine Viertelstunde zuvor bewirkt, dass man aus dem Geschehen herauskatapultiert worden wäre. So verkam sie zur banalen Weckmelodie, auf die man kurz vor dem Erwachen bereits mit Abscheu wartet, um sie dann ungehalten abzuschalten. Wach ist man ja sowieso schon.
von links nach rechts: Johannes Maria Schaud, Anne Juren und Roland Rauschmeier (c)Gregor Titze
Tableaux vivants nennt sich jene Produktion, die anlässlich von Wien Modern im Tanzquartier seine Uraufführung erlebte. Tableaux vivants – lebende Bilder also – in diesem kurzen Titel stecken mehrere Bedeutungsebenen. Anne Juren, die Choreografin des Stückes, verweist damit einerseits auf die Aussagekräftigkeit und den Eindruck, den die einzelnen Tanzsequenzen hinterlassen. Andererseits ist der Titel auch wörtlich zu verstehen. Denn es waren tatsächlich Gemälde von Roland Rauschmeier, die zum Teil eine nicht unerhebliche Rolle spielten.
Zu Beginn fröstelt es auf der Bühne sichtlich. Ein Mann, eingehüllt in einen dicken Mantel, setzt sich verlassen auf den Boden und bereitet sich ein kleines Feuerchen, an dem er seine Hände wärmen kann. Wie gut, dass es Laptops gibt! So prasselt dieses gemütlich am Bildschirm neben ihm und die Feuerpolizei hat keine wirkliche Aufgabe wahrzunehmen. Trotz der getragenen Musik und der Lumpenmenschen, die bald die Bühne aufsuchen, und unsere Welt nach einem absoluten Supergau präsentieren, blitzt doch mit dieser kleinen Feuersequenz so etwas wie Humor auf. Schon nach wenigen Minuten hat man sich gedanklich eingenistet in ein zeitkritisches Thema, in welchem es um den Verlust und die Zerstörung unserer Umwelt geht und damit einhergehend dem Verlust der menschlichen Beziehungen überhaupt, da wechselt die Szenerie.
Hauptakteur nun ist ein in vielen Grauabstufungen gemaltes Bild, das sich thematisch zwischen konkreter Kunst und Futurismus bewegt. Und so, als benötige es noch eine farbliche Ergänzung, einen Kontrapunkt, ragen an seinen Seiten immer wieder Arme und Beine hervor, mal mit gelben Socken, dann wieder mit roten Ärmeln. Die Musik, anfänglich noch ganz dem aktuellen Zeitgeist geschuldet, wechselt. Ausgerechnet in diesen Momenten, da der Tanz auf der Bühne reduziert erscheint, trumpft sie intellektuell nicht auf, sondern generiert zu einer easy-listening Untermalung. Und spätestens ab jetzt ist es klar: Endzeitstimmung war einmal, das, was hier gezeigt wird, basiert nicht auf einer Idee, die sich aus sozialkritisch-moralinsaurem Besserwissertum speist. Hier drängt sich etwas auf die Bühne, was dort bislang wenig verloren hatte. Bilder auf Leinwand, für gewöhnlich an Museums-, Galerien- oder Atelierwänden hängend. Sie spielen hier die Hauptrolle.
Bald wird die Bühne von einer großen Bilderzahl bevölkert, die nicht sich selbst, sondern vielmehr die Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts feiert. Was gibt es da nicht alles wiederzuentdecken: Fernand Léger und Wassily Kandinsky, George Braque und Henri Matisse, Egon Schiele und Kasimir Malewitsch; sie alle und noch mehr treten in Roland Rauschmeiers Kunstgeschichte-Recycling auf. Ganz entrissen ihrem ursprünglichem Kontext, bereichern sie nun, durch die Tänzerinnen und Tänzer meist versteckt getragen, das Bühnengeschehen. Eine ganze Serie von bunten Gemälden mit weißen Schlieren – Marc Tobey hätte seine Freude daran – formiert sich zu einem wahren Bilderballett. Steht in Reih und Glied, wie bei einer ersten Stellprobe in einer Galerie, dreht sich im Reigen, präsentiert sich wie in einer Modeschau. Während im Hintergrund die Musik wieder an Dichte und Spannung zu nimmt, bis sich die Choreografin auf das besinnt, was die beiden Sparten Bildende Kunst und Ballett schon einmal vor nun schon 89 Jahren verband: das triadische Ballett von Oskar Schlemmer. Kreiert 1922, beschäftigte sich Schlemmer darin vornehmlich mit dem Raum und der darin agierenden Figur. Die ausgefallenen Kostüme gingen, stärker als der Tanz selbst, als Ikonen in die Kunstgeschichte ein.
Anne Juren denkt Figur und Raum Schlemmers auf witzige Art weiter und setzt ihr neues, triadisches Ballett in einen jener Konsumtempel, der heute für die Erschaffung von Raum im wörtlichen Sinne zuständig ist: einen Baumarkt. In dem nun auf große, weiße Leinwände projizierten Film hüpfen und laufen, drehen und bücken sich die Akteurinnen und Akteure in Kostümen, die direkt aus den Regalen um sie herum entnommen zu sein scheinen. Lampenschirme, Spannteppiche, Bürostuhlrollen und Eimer – es gibt offenbar nichts, was nicht als Maskerade dienlich sein kann. Johannes Maria Staud lieferte zu dieser Sequenz eine witzige, ja slapstickhafte Musikuntermalung. So köstlich erheiternd gerade dieser Teil ist, so ist er dennoch mit einem doppelten, ja sogar dreifachen Boden ausgestattet. Was so locker flockig unterhaltend wirkt, beherbergt nicht nur die schon eben angesprochenen Schlemmer-Zitate, sondern auch noch eine gehörige Portion Konsumkritik. Wer sie sehen will, kann sie sehen, wer nicht, eben nicht. Darin stimmt die Idee des Stückes ganz mit anderen zeitgenössischen Kunstproduktionen überein, die sich desselben Kunstgriffes bedienen. Erwin Wurm, um nur einen repräsentativen Künstler hierfür zu nennen, arbeitet mit dem gleichen Prinzip. Vom Kindergartenkind bis zum Philosophieprofessor befriedigt er mit seinen Plastiken jeden Geschmack und fegt damit mit einem scheinbar mühelosen Handstreich jede Schwelle zu einem elitären Kunstzugang fort.
Am Ende der Tableaux vivants darf Pinocchio – der zuvor noch auf einer Leinwand in Acryl verewigt über die Bühne getragen wurde – nun leibhaftig noch ein Bravourstück vollführen. Während der letzten Staud´schen Musiksequenz läuft und läuft und läuft er beständig im Kreise. Wie einst das „Duracell-Häschen“ aus der Fernsehwerbung, das so die Langlebigkeit der gleichnamigen Batterie veranschaulichen sollte. Doch auch Pinocchios Marathonlauf erscheint auf den zweiten Blick wie ein postmoderner Fingerzeig auf ein längst vergangenes „must“ im Tanz: Freute man sich vor Dezennien im klassischen Tanz doch noch über jeden weiten Sprung, jede gelungene Hebefigur oder perfekt getanzte Entrechats, ohne die einem Ballettabend kein Erfolg beschert war. Ganz nach dem Motto: Kunst muss schweißtreibend sein, sonst ist es ja keine Kunst! Da hat es unser Pinocchio heute auch nicht viel einfacher. Er ist dazu verdammt, in einem schier endlos währenden Lauf, dem Camus´schen Sisyphos gleich, nicht nur hörbar ihm selbst, sondern auch dem Publikum den Atem zu rauben.
JurenRauschmeierStaud = Gesamtkunstwerk. Oder doch etwas ganz anderes?
von links nach rechts: Johannes Maria Schaud, Anne Juren und Roland Rauschmeier (c)Gregor Titze
Tableaux vivants nennt sich jene Produktion, die anlässlich von Wien Modern im Tanzquartier seine Uraufführung erlebte. Tableaux vivants – lebende Bilder also – in diesem kurzen Titel stecken mehrere Bedeutungsebenen. Anne Juren, die Choreografin des Stückes, verweist damit einerseits auf die Aussagekräftigkeit und den Eindruck, den die einzelnen Tanzsequenzen hinterlassen. Andererseits ist der Titel auch wörtlich zu verstehen. Denn es waren tatsächlich Gemälde von Roland Rauschmeier, die zum Teil eine nicht unerhebliche Rolle spielten.
Zu Beginn fröstelt es auf der Bühne sichtlich. Ein Mann, eingehüllt in einen dicken Mantel, setzt sich verlassen auf den Boden und bereitet sich ein kleines Feuerchen, an dem er seine Hände wärmen kann. Wie gut, dass es Laptops gibt! So prasselt dieses gemütlich am Bildschirm neben ihm und die Feuerpolizei hat keine wirkliche Aufgabe wahrzunehmen. Trotz der getragenen Musik und der Lumpenmenschen, die bald die Bühne aufsuchen, und unsere Welt nach einem absoluten Supergau präsentieren, blitzt doch mit dieser kleinen Feuersequenz so etwas wie Humor auf. Schon nach wenigen Minuten hat man sich gedanklich eingenistet in ein zeitkritisches Thema, in welchem es um den Verlust und die Zerstörung unserer Umwelt geht und damit einhergehend dem Verlust der menschlichen Beziehungen überhaupt, da wechselt die Szenerie.
Hauptakteur nun ist ein in vielen Grauabstufungen gemaltes Bild, das sich thematisch zwischen konkreter Kunst und Futurismus bewegt. Und so, als benötige es noch eine farbliche Ergänzung, einen Kontrapunkt, ragen an seinen Seiten immer wieder Arme und Beine hervor, mal mit gelben Socken, dann wieder mit roten Ärmeln. Die Musik, anfänglich noch ganz dem aktuellen Zeitgeist geschuldet, wechselt. Ausgerechnet in diesen Momenten, da der Tanz auf der Bühne reduziert erscheint, trumpft sie intellektuell nicht auf, sondern generiert zu einer easy-listening Untermalung. Und spätestens ab jetzt ist es klar: Endzeitstimmung war einmal, das, was hier gezeigt wird, basiert nicht auf einer Idee, die sich aus sozialkritisch-moralinsaurem Besserwissertum speist. Hier drängt sich etwas auf die Bühne, was dort bislang wenig verloren hatte. Bilder auf Leinwand, für gewöhnlich an Museums-, Galerien- oder Atelierwänden hängend. Sie spielen hier die Hauptrolle.
Bald wird die Bühne von einer großen Bilderzahl bevölkert, die nicht sich selbst, sondern vielmehr die Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts feiert. Was gibt es da nicht alles wiederzuentdecken: Fernand Léger und Wassily Kandinsky, George Braque und Henri Matisse, Egon Schiele und Kasimir Malewitsch; sie alle und noch mehr treten in Roland Rauschmeiers Kunstgeschichte-Recycling auf. Ganz entrissen ihrem ursprünglichem Kontext, bereichern sie nun, durch die Tänzerinnen und Tänzer meist versteckt getragen, das Bühnengeschehen. Eine ganze Serie von bunten Gemälden mit weißen Schlieren – Marc Tobey hätte seine Freude daran – formiert sich zu einem wahren Bilderballett. Steht in Reih und Glied, wie bei einer ersten Stellprobe in einer Galerie, dreht sich im Reigen, präsentiert sich wie in einer Modeschau. Während im Hintergrund die Musik wieder an Dichte und Spannung zu nimmt, bis sich die Choreografin auf das besinnt, was die beiden Sparten Bildende Kunst und Ballett schon einmal vor nun schon 89 Jahren verband: Das triadische Ballett von Oskar Schlemmer. Kreiert 1922, beschäftigte sich Schlemmer darin vornehmlich mit dem Raum und der darin agierenden Figur. Die ausgefallenen Kostüme gingen, stärker als der Tanz selbst, als Ikonen in die Kunstgeschichte ein.
Anne Juren denkt Figur und Raum Schlemmers auf witzige Art weiter und setzt ihr neues, triadisches Ballett in einen jener Konsumtempel, der heute für die Erschaffung von Raum im wörtlichen Sinne zuständig ist: einen Baumarkt. In dem nun auf große, weiße Leinwände projizierten Film hüpfen und laufen, drehen und bücken sich die Akteurinnen und Akteure in Kostümen, die direkt aus den Regalen um sie herum entnommen zu sein scheinen. Lampenschirme, Spannteppiche, Bürostuhlrollen und Eimer – es gibt offenbar nichts, was nicht als Maskerade dienlich sein kann. Johannes Maria Staud lieferte zu dieser Sequenz eine witzige, ja slapstickhafte Musikuntermalung. So köstlich erheiternd gerade dieser Teil ist, so ist er dennoch mit einem doppelten, ja sogar dreifachen Boden ausgestattet. Was so locker flockig unterhaltend wirkt, beherbergt nicht nur die schon eben angesprochenen Schlemmer-Zitate, sondern auch noch eine gehörige Portion Konsumkritik. Wer sie sehen will, kann sie sehen, wer nicht, eben nicht. Darin stimmt die Idee des Stückes ganz mit anderen zeitgenössischen Kunstproduktionen überein, die sich desselben Kunstgriffes bedienen. Erwin Wurm, um nur einen repräsentativen Künstler hierfür zu nennen, arbeitet mit dem gleichen Prinzip. Vom Kindergartenkind bis zum Philosophieprofessor befriedigt er mit seinen Plastiken jeden Geschmack und fegt damit mit einem scheinbar mühelosen Handstreich jede Schwelle zu einem elitären Kunstzugang fort.
Am Ende der Tableaux vivants darf Pinocchio – der zuvor noch auf einer Leinwand in Acryl verewigt über die Bühne getragen wurde – nun leibhaftig noch ein Bravourstück vollführen. Während der letzten Staud´schen Musiksequenz läuft und läuft und läuft er beständig im Kreise. Wie einst das „Duracell-Häschen“ aus der Fernsehwerbung, das so die Langlebigkeit der gleichnamigen Batterie veranschaulichen sollte. Doch auch Pinocchios Marathonlauf erscheint auf den zweiten Blick wie ein postmoderner Fingerzeig auf ein längst vergangenes „must“ im Tanz: Freute man sich vor Dezennien im klassischen Tanz doch noch über jeden weiten Sprung, jede gelungene Hebefigur oder perfekt getanzte Entrechats, ohne die einem Ballettabend kein Erfolg beschert war. Ganz nach dem Motto: Kunst muss schweißtreibend sein, sonst ist es ja keine Kunst! Da hat es unser Pinocchio heute auch nicht viel einfacher. Er ist dazu verdammt, in einem schier endlos währenden Lauf, dem Camus´schen Sisyphos gleich, nicht nur hörbar ihm selbst, sondern auch dem Publikum den Atem zu rauben.
JurenRauschmeierStaud = Gesamtkunstwerk. Oder doch etwas ganz anderes?
In einer Großstadt gibt es Orte, die eine gewisse Magie ausstrahlen. Gebäude, die wegen ihrer ungewöhnlichen Architektur markant den Ort bestimmen. Plätze, die raumgreifend agieren und die Menschen anziehen, Straßen, die pulsieren, weil sie so viele Geschäfte beherbergen. Oder aber Orte, die deswegen ein eigenes Flair entwickeln, weil man in ihnen Dinge erleben kann, die außergewöhnlich sind. Opern- und Konzerthäuser gehören hier dazu. In Wien gibt es gleich mehrere davon, aber nur eines, von dem aus man im Winter auf den nebenliegenden Eislaufplatz blickt und in den Konzertpausen zusehen kann, wie sich die Menschen dort schlittschuhlaufend vergnügen – was alleine schon ein Vergnügen ist.
Die Rede ist vom Wiener Konzerthaus, das seit seinem Bestehen sowohl der musikalischen Tradition als auch der musikalischen Innovation verpflichtet ist. Tradiert wird, was eben schon Bestand hat. Dies ist im Übrigen auch die leichter zu erfüllende Aufgabe. Neues zu präsentieren ist schon alleine deswegen schwieriger, weil das Publikum dafür nicht so zahlreich gesät ist – die, die sich dafür aber interessieren, sind treue Dauergäste. Dann nämlich, wenn das Festival Wien Modern im Konzerthaus logiert und dieses – so geschehen am 5. und 6. November vom Keller bis zum Dach in Beschlag nimmt.
An diesen beiden Tagen präsentierte sich das Wiener Konzerthaus als ein Ort, der seinem Publikum vieles bot. Das Einzige, was es mitzubringen hatte, war Zeit – und auch ein wenig Neugier. Denn abgesehen von einem ganzen Reigen an Konzerten, die teilweise sogar parallel in zwei der Säle stattfanden, durfte man sich ganz nach Lust und Laune darin bewegen. Man versammelte sich im Foyer – wie üblich – aber nicht wie üblich stieß man dort schon auf Klänge. Geräusche eines einfahrenden Zuges waren zu vernehmen, das Foyer war urplötzlich kein Garderobenraum mehr, sondern eine Bahnhalle, in welcher man aus einem Lautsprecher eine Stimme vernahm, die erzählte, dass ein gewisser Oskar Serti in dieser imaginären Bahnhalle auf seine Angebetete wartete und schließlich enttäuscht und fluchtartig diese wieder verließ. Oskar Serti, laut einführender Erklärung einer der wichtigsten ungarischen Schriftsteller ist jedoch, sosehr man ihm an diesem Abend auch huldigte, nichts anderes als eine Kunstfigur. Erfunden von Patrick Corillon, der mit ihm quasi als Schattenmann nun schon seit einiger Zeit durch verschiedene Konzerthäuser dieser Welt tourt. Um doch immer wieder Neues hinzuzufügen, zu dieser imaginären Biografie, in der es von der Begegnung mit Bekannten aus der Musikgeschichte nur so wimmelt.
Die Hommage an Oskar Serti war an diesen Abenden eine allumfassende. In den Konzertpausen schlüpften die Musikerinnen und Musiker des Klangforum Wien in die Rolle von Erzählerinnen und Erzählern und erweckten so diese Kunstfigur zum Leben. An den unterschiedlichsten Plätzen des Hauses, wie den Buffets, den Gängen vor den Sälen oder auch in den Zwischengeschoßen der Treppen lauschte man seinen Erlebnissen. Ob man hörte, wie er sich über eine schlecht paraphierte Eintrittskarte ärgerte, wie er seiner Angebeteten ein Liebesgeständnis machen wollte und doch nichts anderes erreichte als eine Bartok-Büste ins Wanken zu bringen, oder ob man erfuhr, wie ihm eine Eintrittskarte aus der Brusttasche gerutscht war, die dann noch Schuld am fehlerhaften Spiel einer Pianistin war – immer schwankte das Erzählte zwischen Fiktion und Realität. Bis hin zu jener Ausstellung, die im großen Foyer die angebliche Instrumentensammlung des Schriftstellers zeigte. Stücke, die allesamt Geschichte in der Musik geschrieben hätten, wie z. B. eine Trompete, welche vom Trompeter während der Missfallensbekundungen anlässlich der Uraufführung des „Sacre de printemps“ aus Wut ins Publikum geschleudert wurde.
Und fast einschnitthaft schoben sich zwischen all diese literarischen Sensationen Konzerte. Längere und kürzere, bekannte und unbekannte. Ins Ohr schmeichelnde und solche, bei denen einige aus dem Publikum den Saal frühzeitig verließen. Sie alle hier zu benennen sprengt den Rahmen dieses Artikels. Eines jedoch soll besonders hervorgehoben werden.
Die „collection Serti“ oder „Erkundungen einer Musiksammlung“, wie die Komposition im Untertitel heißt, ist ein Auftragswerk der Erste-Bank, welches punktgenau für diese Veranstaltung von Gerald Resch komponiert worden war. Es bezog sich thematisch auf die in luftigen Vitrinen ausgestellten Instrumente und war für das Konzerthaus selbst eine ganz besondere Premiere. Denn Resch bezog sich mit diesem Werk auf das große Foyer, in dem es auch aufgeführt wurde. Er komponierte es für jenen Raum, der normalerweise als Durchgangsort wahrgenommen wird, an dem man nur kurz hält, um sich zu begrüßen und seine Garderobe dort abzugeben. Genau dort hatte man das Publikum versammelt, das stehend, dicht an dicht, dieser Uraufführung lauschte. Nacheinander stellte sich ein Instrument um das andere mit kleinen Sequenzen solistisch vor. Was bewirkte, dass man die wunderbaren Musikerinnen und Musiker des Klangforum Wien einmal aus der Nähe hören und sehen konnte, aber auch Gelegenheit bekam deren Können in dieser Vorstellungsphase ausgiebig zu bewundern. Bald wurden diese kurzen Sequenzen vom restlichen Ensemble aufgenommen und verdichtet, bis erneute eine Solostimme zu vernehmen war. Jedes Instrument kam dabei zu seinem – ich möchte sagen – „natürlichen“ Recht. Durfte sein ureigenes Klangspektrum voll zum Besten geben und dabei doch Neue klänge produzieren. Reschs Musik gestaltete sich, je länger man lauschte, harmonisch im Sinne von tatsächlich vertrauten Harmonien. Und genau diese Verschränkung zwischen Vertrautem und Neuem spiegelte den eingangs erwähnten Auftrag des Hauses auch sehr schön wieder. Resch erwies mit der Komposition dem Haus seine Reverenz und schrieb ihm örtlich neue Bedeutungen zu. Dass sich unter dem Publikum gleichberechtigt nun auch all jene befanden, die normalerweise außerhalb des Konzertsaales auf das Ende der Vorstellungen warten, also die Platzanweiser und die Damen und Herren bei den Garderoben, war fast äquivalent mit der Aufführungspraxis dieses Stückes zu sehen – das ohne Dirigat auskommt und in welchem sich die Musikerinnen und Musiker ganz auf sich selbst und die Gemeinschaft verlassen müssen bzw. dürfen. Ein Konzert, in dem sich die Unterschiede der Besucher und Dienstleister aufhoben und beide ein wenig in die Rolle der jeweils anderen schlüpfen konnten. Ein Stück, das Grenzen sprengte, ohne gewisse Grenzen jedoch nicht außer Acht zu lassen. Was noch zu sagen wäre: Gerald Resch wäre wohl nicht er selbst, hätte das Stück nicht auch noch mit einer großen Überraschung geendet. Oder haben Sie schon einmal eine Komposition gehört, an dessen Ende die Instrumente gestimmt werden?
Oskar Serti geht ins Konzert. Warum? – Diese „Nachdenklichkeit“ von Patrick Corillon brachte tatsächlich zum Nachdenken. Aber nicht warum Oskar Serti das vermeintlich so gerne tat, sondern vielmehr warum wir es tun. Experiment rundum gelungen!