Die konzentrischen Bruegel-Kreise
Von Michaela Preiner
Die Einladung von Wien Modern macht deutlich, dass eine mittlerweile globale Strömung auch bei uns angekommen ist, die dazu übergeht, auch den wissenschaftlichen Bereich mit einem neuen Impetus zu versehen.
Schon seit Längerem ist ein gewisses Unbehagen am strengen, wissenschaftlichen Regelwerk und seinen damit verbundenen Restriktionen zu erkennen. Immer stärker kommt der Wunsch auf, sich einem bestimmten Gebiet intuitiv zu nähern und was würde sich dafür besser eigenen als das große Feld der Kunstproduktion? Einen lesenswerten Beitrag lieferten im vergangenen Jahr Silke Bake, Peter Stamer und Christl Weiler (als Herausgeber) in ihrem kleinen Büchlein „How to collaborate“ ab. Darin gehen sie der Frage nach, wie man durch neue, höchst kreative Ansätze spartenübergreifend zusammenarbeiten kann. Schon alleine das Lesen ist höchst vergnüglich, findet man darin doch rein gar nichts wissenschaftlich Verklausuliertes, sondern vielmehr anschaulich formuliert, wie grenzübergreifendes Denken und Zusammenarbeiten heute stattfinden kann.
Die Ausführungen von Dufourt waren erstaunlich, lenkten sie doch den Blick auf einen Bruegel, der mir bis dahin gänzlich verborgen geblieben war. Für mich stand das bunte Treiben der Menschen in allen Bildern im Vordergrund. Ich war erstaunt über die Vielfalt, die vom Künstler im Rahmen eines bestimmten Themas aufgezeigt wurde, die Landschaft selbst aber war für mich nur so etwas wie eine Staffage.
Dufourt jedoch hat einen gänzlich anderen Zugang, ja man könnte beinahe sagen, dass sich für ihn das Verhältnis genau verkehrt darstellt. Die Natur ist das, was für ihn bei Bruegel ein unabdingbares Kontinuum darstellt. Ein Kontinuum, das sich auch im Wandel der Jahreszeiten zeigt, denn Frühling, Sommer, Herbst und Winter kommen kontinuierlich immer wieder. Jedes Jahr aufs Neue. Die Natur – so sieht es der Komponist – der sich nicht nur mit Bruegel intensiv auseinandergesetzt hat – sie ist das, was die Menschen auf den Bildern des niederländischen Malers so klein und letztlich auch bedeutungslos erscheinen lässt. Sie spiegelt das Großartige dieser Welt wieder, das Treiben der Menschen ist hingegen fixiert auf kleine Vergnügungen oder auch die Mühsal, die ein bäuerliches Leben in der Zeit Bruegels mit sich brachte.
Es ist also nicht der Mensch, der in seiner Interpretation im Zentrum der Darstellung steht, sondern die Natur mit all ihren großartigen Schöpfungen wie Bergen und Tälern, Eis und Schnee, Flüssen, Seen und ihrem alles überspannenden, wolkenüberzogenen Himmel. Dufourt bringt mit dieser Interpretation eine Art Shiftwechsel zustande. Das, worauf sich alle Welt beinahe wie besessen konzentriert, wird bei ihm nachrangig. Nicht, dass es nicht wichtig wäre, aber die Größe der Natur, ihre Unbeugsamkeit, ihre Unabhängigkeit vom Menschen ist es, die er in Bruegels Bildern vorrangig zu erkennen glaubt. Damit ermöglicht er eine philosophische Diskussion, die bis ins Heute hereinragt. Was bedeutet Menschsein in unserer Zeit? Was blieb von dieser unbeugsamen Natur übrig? Wo sind unsere Mühen und Plagen und wie haben wir die einst so majestätische Naturkonstante dermaßen manipuliert, dass es den Anschein hat, dass auch diese bald schon aus dem Lot geraten werden? Aus welchen Blickwinkeln schauen wir heute auf unsere Erde? Der Blick aus dem All ist seit der Bruegel-Zeit hinzugekommen, genauso wie jener, der unter den Mikroskopen allerkleinste Lebensbausteinchen erkennbar macht.
Dufourt und die „Musique spéctrale“
Dufourt gehört zu den Begründern der „Musique spéctrale“. Zu jener Musikrichtung, die er und einige Mitstreiter am IRCAM in Paris in den 70er Jahren auszuformulieren begannen. Ausgangspunkt dabei war die neue Technik elektronischer Sichtbarmachtung von auch nur allerkleinsten Klangphänomenen. Zum ersten Mal konnten Komponierende und Musizierende wie durch ein Mikroskop auf den Klang schauen, ihn in kleinste Einheiten zerlegen und sich Fragen stellen, die eine andere Basis als die bisherige, musiktheoretische hatten.
Die Naturwissenschaft und die Entwicklung von Computern erlaubten nun eine Sicht auf die Musik, die sich mit all dem, was zuvor in den Köpfen verankert war, nicht vergleichen lässt. Hier fand also auch ein radikaler Shiftwechsel statt. Dufourt nutzte von Beginn an die neuen, technischen Mittel, die ihm in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts zur Verfügung standen. Aber ihm war auch bald klar, dass die Intuition ein wichtiger Bestandteil seiner Komponiertätigkeit bleiben musste.
„Mit den damaligen Computern dauerte die Produktion von drei Minuten Musik über einen Monat“, erzählte er rückblickend über seine Beschäftigung mit den neuen Medien. Da lag es auf der Hand, dass die Intuition und das herkömmliche Schreiben von Musik nicht ihren Stellenwert verloren hatten, sondern wieder in seinen Fokus treten mussten. „Es war klar, dass wir auf rein elektronischem Wege in respektabler Zeit keine Konzerte mehr auf die Bühne gebracht hätten.“ Dennoch hatte sich sein Verständnis für die Musik verändert.
Burning Bright
An seinem 2014 entstandenen Werk „Burning Bright“, das in der Halle G des MuseumsQuartiers aufgeführt wurde, kann sehr gut nachvollzogen werden, dass die Recherchen am IRCAM auch einige Jahrzehnte später noch immer Auswirkungen auf sein Komponieren haben. Aber auch, dass Dufourt ein stets Suchender ist, was neue Klangmöglichkeiten betrifft. Was ad hoc bei dem Konzert auffiel, war die Unzahl an Percussions-Instrumenten, die von sechs Musizierenden der „Percussions de Strasbourg“ gespielt wurden. Mit Bedacht wurden diese so eingesetzt, dass ihnen ausreichend Zeit für die jeweilige Klangentwicklung gelassen wurde. Das ist ein Umstand, den Dufourt beim Komponieren berücksichtigen musste, um keine Klangüberlagerungen zu riskieren. Die dicht gesetzte, blockweise Aufstellung der Instrumente rahmte eine quadratische, schwarz spiegelnde Wasserfläche ein, die optisch dem Kunstwerk von Noriyuki Haraguchi glich, dass dieser für die Ausstellung „Das Schwarze Quadrat“ in der Hamburger Kunsthalle 2007 installiert hatte.
Für das Wasserbecken des Dufourt-Konzertes, genauer für dessen Beleuchtung, konnte niemand Geringerer gewonnen werden als Enrico Bagnoli. Der Lichtmagier fühlt sich auf allen großen Bühnen dieser Welt zuhause und arbeitet normalerweise mit einem Equipment, das sich in Österreich keiner der Veranstalter leisten könnte. Mangels eines solchen musste er sich für die Lichtinszenierung aber etwas Besonderes einfallen lassen. „Wenn die technische Ausstattung aufgrund der begrenzten finanziellen Mittel, wie in diesem Fall, nicht groß ist, dann dauert es ein bisschen länger, bis die Lichtführung steht“, erklärte er bei einem Gespräch vor der Aufführung in Wien.
Dieser stille, schwarze, regungslose, kleine See drängte die Musikerinnen und Musiker an seine Ränder. Anfänglich erschien das Dunkel der Wasserfläche völlig unbewegt, bis in dessen Mitte eine kleine Blase auftauchte. Ihre sich ruhig ausbreitenden, konzentrischen Wasserringe wurden lichttechnisch gekonnt in Szene gesetzt und auf die weiße Stirnwand dahinter projiziert. Ein Bläschen, nach einer Ruhepause noch eines, dann abermals eines stieg ruhig und gelassen an die Wasseroberfläche. Ganz unabhängig davon, was die Musik erzählte. Nach einer anfänglichen Vibraphonkaskade, einem Kratzen an den hängenden Gongs und einem Streichen an den Becken, das mittels Geigenbögen erfolgte, war rasch klar, dass Dufourt die aufgebauten Instrumente in all ihren Möglichkeiten der Klangproduktion zum Einsatz bringen würde.
Bald hatte sich eine dunkle Klangwolke mit Passagen aufgebaut, in denen der Sound so an- und wieder abschwoll, dass dieses Muster etwas Organisches erhielt. War es das Atmen einer dunklen Macht, das nur durch schreiende Dissonanzen der Blechinstrumente gestoppt werden konnte? Waren es zu Klang formierte Ängste, die sich im Raum ausbreiteten? Immer wieder unterbrach hartes Unisonospiel auf verschiedenen Instrumenten und kurze Trommelwirbel die breite, flächig angelegte Atmosphäre, die sich mit einem Schlag änderte, als man das Gefühl hatte, sich plötzlich weit entfernt vom Klanggeschehen zu befinden. Und wieder bestimmte bald darauf ein Krächzen und Ächzen, ein lautes Schnauben und Atmen das Hörerlebnis, das sich zu einer Klangmasse verdichtete, das an der Schmerzgrenze lag.
Neben all den akustischen Erlebnissen war auch die Beobachtung des Geschehens auf der Bühne selbst spannend. Einer der Percussionisten tauchte einen Gong in ein durchsichtiges, halbkugeliges Wasserbecken, während das Instrument in Schwingung versetzt war. Später stieg der Musiker sogar in den bis dahin unberührten See, um auf einen kleinen, schwimmenden Klangkörper zu trommeln. Die Wellenbewegungen, die dabei entstanden, nahmen an Dramatik zu und bildeten, gemeinsam mit der verdichteten und verstärkten Klangintensität, den Höhepunkt der einstündigen Komposition. Damit war das musikalische Drama an einem Punkt angelangt, an dem alles aus dem Lot geraten schien. Doch schon wie zuvor immer wieder angekündigt, ebbte die Klangexplosion wieder ab und zogen die konzentrischen Kreise wieder ihre bekannten, ruhigen Bahnen. Die allerletzten Hörerlebnisse setzte Dufourt mit Bedacht und ließ das Geschehen im Pianissimo verhallen.
Dufourts „Burning bright“ ist mit einer so großen Interpretations-Spannbreite ausgestattet, dass es wahrscheinlich so viele Kopf-Filme gibt, wie Zuhörerinnen und Zuhörer im Publikum saßen. Davon abgesehen, drängte sich mir während der Darbietung immer wieder der Vergleich mit seinen Ausführungen über die Natur bei Bruegel auf. Die Konstante – im Konzert durch die konzentrischen Kreise visualisiert – wird gegen Ende der Vorführung zwar erheblich gestört, letztlich jedoch bildet sie dennoch einen festen Anker, der sich zwar nicht als unverwundbar, aber doch als optischer Rettungshalm erwies. Auch wenn dies vom Komponisten nicht so intendiert war, machen Gedankenspiele wie diese doch eine große Freude und zeigen vor allem eines auf, dass ein Kunstwerk, eingebunden in einen intrinsischen, philosophischen Diskurs, wie es bei Dufourt der Fall ist, sich offenbar selbst seine Bezugspunkte abzuholen weiß, ob bewusst oder unbewusst spielt dabei keine Rolle.