Der Jaguar und die Schlange

Der Jaguar und die Schlange

Der Jaguar und die Schlange

Der Jaguar und die Schlange

„The Jaguar and the Snake“ (Foto: Marc Domage )
Amanda Piña agiert in der neuen nadaproduction-Show „The jaguar and the snake“ als Wissensvermittlerin. Das ist zumindest ihr Anliegen. Denn sie möchte kontinentübergreifend der westlichen Vorstellung von unterschiedlichen Entwicklungsstufen – frei nach Darwin – jene der indigenen Völker Amerikas gegenüberstellen. Piña nennt diese selbst „amerindian people“.

Das Volk der Wixárika, in Mexiko ansässig, ist nicht der Meinung, dass der Mensch vom Tier abstammt, sondern vielmehr, dass auch Tiere ehemalige Menschen sind. Oder, präziser ausgedrückt, humanoide Lebewesen, die sich nur in einer anderen „Haut“ befinden.

In einem Interview erklärte die Tänzerin und Choreografin, die in Wien lebt und chilenisch-mexikanische Eltern hat, dass die Menschheit dringend das alte Wissen der Ureinwohner jeglicher verwestlichter Länder benötigt. Deren anderer Zugang zu Tieren und Pflanzen ist für sie ein Schlüssel zu einem anderen Umgang mit unserer Umwelt.

Um dies zu illustrieren, schlüpfte sie selbst, sowie Lina Maria Venegas und Yoan Sorin im Tanzquartier in verschiedene Tiergestalten, Hybrid- und Fabelwesen – wie wir in Österreich sie benennen würden. In Südamerika selbst wären es Lebewesen mit Zügen von Menschen. Meist solchen von Ahnen, zu welchen der jeweilige Schamane die Verbindung herstellen kann. So kommt es, dass sich Piñas am Boden windende Schlangen lachen können und ihre Panther, während sie ruhig von einem Fuß auf den anderen das Gewicht verlagern, sehr ernst ausssehen.

In ihrer kontemplativen Choreografie – bis auf wenige, ganz kurze Augenblicke am Schluss – verbindet sie verschiedene Kunstgattungen übergreifend miteinander. Die Fertigung von Plastikperlenschmuck wird von Tulama Ramirez Muñoz in bunter Tracht am Rande der Aufführung – für das Publikum sichtbar – hergestellt. Kleine Skulpturen, die wie Mischwesen aus Konsumabfall und organischen Stoffen wie Federn und Knochen aussehen und von Yoan Sorin stammen, stehen einer großen, runden und silbrig glänzenden Wolke gegenüber, die sich während der Vorstellung langsam senkt. Im letzten Bild hüllt sie Piña und Venegas völlig ein und lässt von ihnen eine zeitlang nur die Beine noch sichtbar. (Bühne Daniel Zimmermann)

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„The Jaguar and the Snake“ (Foto: Marc Domage )
Dramaturgisch agiert Venegas zu Beginn als eine Art Zeremonienmeisterin. Mit Schaumstoffhörnern ausstaffiert, wandert sie langsam über die Bühne, die Arme oft seitlich ausgestreckt, die Hände geöffnet, so als würde sie Energien aus einer anderen Welt auffangen und weiterleiten können. Die um den Bühnenkreis ausgelegten Sitzkissen strahlen in den gleichen bunten Farben wie es die traditionellen Gewänder der mexikanischen Bevölkerung tuen und verbinden damit symbolisch die Zusehenden mit jenen Ländern, die tausende Kilometer weit entfernt sind.

In ihrer Produktion führt die Choreografin eine neue Art von „Kostümierung“ ein, nämlich jene der Zungen der Tanzenden. Auf diese werden Federn, Plastikschlangen, Stoffe und Blätter aufgesteckt, die den Menschen mit diesen „Zungenkostümen“ ad hoc ein extremes tierisches Aussehen und Gehabe verleihen.

Ein elektronischer Sound, der einen beinahe unmerklichen, rhythmischen Puls aufweist, verändert sich während der Vorstellung nur marginal. Er steht in direktem Kontrast zum Auftritt von José Luis „Katira” Ramirez, der mit einer volkstümlichen, kleinen, 2-saitigen Geige aufspielt und ein kurzes Lied aus seiner Heimat intoniert.

Kunsthandwerk dieses Volkes kann das Publikum nach der Vorstellung zu selbst gewählten Preisen kaufen. Das daraus erzielte Geld geht direkt an die Wixárikas, dessen Vertreterpaar auch in den Lectures und Workshops ihr Wissen an die Teilnehmerinnen und Teilnehmer weitergaben. Dieses Angebot rundete die Tanzproduktion ab und ermöglichte vielen Interessierten, in deren Gedankenwelt und Piñas choreografische Umsetzung einzutauchen.

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„The Jaguar and the Snake“ (Foto: Marc Domage )
„The Jaguar and the Snake“ reiht sich in jene Art von Kunstproduktion, die zeitgenössische Ästhetik – in diesem Fall jene des Tanzes – mit Aufklärung koppelt. Sie bedient sich einer historisch gewachsenen, westlichen Kulturvermittlung, um mit ihrer Hilfe auf Phänomene aufmerksam zu machen, die damit vom Rand der wissenschaftlichen Betrachtung ins Zentrum eines Publikumsinteresses gerückt werden können und dabei weit weg vom Phänomen l´art pour l´art angesiedelt sind.
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Ein Stück Hoffnung in der Apokalypse

Ein Stück Hoffnung in der Apokalypse

Ein Stück Hoffnung in der Apokalypse

Ein Stück Hoffnung in der Apokalypse

„Da-nach“ (Foto: Anna Stöcher)
Gleich vorweg: „Da-nach“ ist eine kleine, aber umwerfende Produktion, die derzeit noch bis 6. März im Semperdepot in Wien zu sehen ist und: Man sollte sie sich nicht entgehen lassen, denn: So eine österreichische Tanzproduktion, die derart stimmig, gescheit, in sich schlüssig, mit einer tollen Choreografie und einem genialen Sound versehen ist, muss erst einmal gesucht werden.

Das Lob braucht Erklärung: Die Choreografin Saskia Hölbling hat mit ihrer Gruppe Dans.Kias in Zusammenarbeit mit dem Komponisten Wolfgang Mitterer ein Stück auf die Bühne gebracht, welches das Publikum in den ersten Sekunden gewaltig erschreckt.

Sirenen, Gedonner wie von Explosionen und einstürzenden Bauten, herumlaufende Menschen, die sich auf einen Haufen Industriemüll retten. Es muss erst einmal durchgeschnauft werden, bis man den Schock verdaut hat. Das Szenario ist klar. Jan Jakubal und Ardan Hussain haben sich mit Leonie Wahl auf eine Art kleines Floß gerettet, das von einem bedrohlichen Meer umspült wird.

Was nicht zu sehen ist, und im eigenen Kopf zu einem Ganzen zusammengesetzt werden muss, steuert Mitterer mit einem spannenden Sound- und Klanggeschehen bei. Neben kurzen Einspielungen von realistisch wirkenden Geräuschen wie dem eingangs beschriebenen Einsturz- und Sirenengetöse oder einem Knistern und Knirschen, sind es Klangkompressionen mit hallenden Tönen und kurzen Akkordabfolgen, die sich mit leichteren, beinahe schwebenden Klangflächen kontinuierlich abwechseln. Im Laufe des Geschehens nimmt die Lautstärke zu und übertönt auch die Meeresbrandung, die immer wieder hörbar ist. Mitterers Komposition hat viel von einer minimalisierten, aber keinesfalls abstrakten Filmmusik und unterstützt damit das Szenario sinnlich und in großem Maße emotional.

In diesem kämpfen die beiden Männer, kurz nachdem sie verstanden haben, dass sie abseits jeglicher Zivilisation auf der schwimmenden Insel gefangen sind, zu Beginn um Leonie Wahl, der einzigen Frau. Gefragt wird sie nicht, vielmehr scheint das Recht des Stärkeren zu gelten. Diese weiß sich jedoch gegen die Annäherungsversuche immer wieder geschickt zu wehren und würde auch nicht davor zurückscheuen, in großer Bedrängung die Männer über Bord zu werfen. Erst als Anna Hein aus den todbringenden Fluten ebenfalls auf die Insel gerettet wird, entsteht eine andere Dynamik.

Der Kreativität von Gudrun Lenk-Wane ist es zu verdanken, dass die Arte-povera-Requisiten nicht auf eine billige Produktion verweisen, sondern passend und immer wieder Staunen auslösend zum Einsatz kommen. Plastiksäcke und -seile, eine schwarze Plastikwanne, in der ein Mensch alleine sitzend, mit ausgestreckten Beinen, Platz findet, um dann doch von allen gleichzeitig gekapert zu werden, eine Leiter, ein Gartenstuhl und mit Metallrohren und Holzgittern verbundene, blaue Plastikfässer – viel mehr braucht es nicht, um dem Ensemble einen höchst unwirtlichen Zufluchtsort anzubieten. Auf diesem wird geklettert, gesprungen, werden unzählige Hebefiguren absolviert. Zwischen diesem schlängeln sich die Tanzenden durch, verstecken sich, versuchen sich vergeblich liegend auszustrecken, um etwas auszurasten. Von diesem rutschen sie auch immer wieder ab und treiben – wie in einer packenden Szene von Hein gezeigt – beinahe ins offene Gewässer.

Die Unsäglichkeit der Situation ändert sich erst, als die vier Überlebenden einen weiteren zu sich auf ihre schwimmende Insel holen. Oskar Mitterer, 9-jähriger Volksschüler, wird mittels gemeinsamer Anstrengungen aus der zweiten Publikumsreihe mit „ins Boot geholt“. Schlagartig verändert sich der Umgang der Erwachsenen untereinander. Die Rivalität ist wie weggeblasen, der Beschützer- und Überlebensmodus scheint aktiviert. Nach wenigen Augenblicken erscheint mit kurzen, tiefen Streicherklängen ein Miniaturmotiv. Der Komponist greift dafür tief in die Hollywood-Musik-Kiste und baut dieses Motiv noch weitere Male beständig, zugleich aber auch subtil aus, sodass das Gefühl hochkommt, dass das Happyend nahe sein muss.

Und tatsächlich wendet sich das Blatt zum Guten und lässt alle Fünf, nun stehend in der kleinen, schwarzen Plastikwanne, auf ein Land zusteuern, von dem nur sicher ist, dass es erst einmal Rettung bedeutet. Dieses Bild, ein Stück Hoffnung, das die Apokalypse hinter sich lässt, ist nicht nur stark. Seine Statik und Einfachheit ist, in Kombination mit dem Sound, einfach emotional überwältigend.

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„Da-nach“ (Fotos: Anna Stöcher)
Das Großartige an dieser Produktion ist, dass sie ein Gesamtkunstwerk darstellt. Und zwar keines, das sich diesen Terminus protzend an die Marketingfahnen hängt. Bühne, Choreografie und Musik, aber auch die Dramaturgie der Geschichte an sich überzeugen ohne jegliche Abstriche. Sie ist hochaktuell, zugleich aber auch von archaischer Wucht. In „Da-nach“ wird nüchtern dem triebhaften Menschsein eine zweite, ganz andere Seite gegenübergestellt, die in den derzeitigen Dystopiediskursen meist gar nicht vorkommt: Nämlich jene der Empathie, des gemeinsamen Tuns und Helfenwollens – was schließlich auch zum Überleben der Spezies Mensch in diesem speziellen Kontext beiträgt.

Es mag wohl auch diese so erlösende Aussicht auf eine allerorten düster prognostizierte Zukunft sein, die dieses Stück zeitgenössischen Tanz so überaus beeindruckend erscheinen lässt. Chapeau, chapeau und: Danke dafür!

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Ein schmaler Grat

Ein schmaler Grat

Ein schmaler Grat

Ein schmaler Grat

„Requim pour L.“ (Foto: Chris van der Burght)
Zentral über der Bühne platziert, ist in einem Video eine Frau zu sehen. Die Einstellung ist in der Totale frontal auf sie gerichtet, die, auf geblümte Kissen gebettet, ihre letzten Lebensmomente erlebt.

Ihr Alter ist nicht leicht zu schätzen, aber es ist klar, dass sie noch lange keine alte Frau ist, deren Ableben keine Überraschung bedeuten würde. Die Augen hat sie während rund eineinhalb Stunden nur für wenige Momente geöffnet.

Ab und zu spricht sie ein Wort. Da das Video aber ohne Ton gezeigt wird, bleiben diese unverständlich. Ihre Zunge befeuchtet immer wieder ihre Lippen. Obwohl sich Angehörige und medizinisches Personal um sie kümmern, scheint es niemandem aufzufallen, dass sie durstig ist.

Das Video ist für das Publikum im Saal eine emotionale Herausforderung. Eine Herausforderung, der sich Alain Platel bewusst ist. Jener Choreograf, der immer wieder menschliche Grenzerfahrungen zum Thema seiner Arbeiten macht.

Mit „Requiem pour L.“ präsentierte das Festspielhaus St. Pölten seine neue Gemeinschaftsarbeit mit dem Komponisten Fabrizio Cassol. Schon wie in der Produktion „Coup fatal“ greifen die beiden dabei auf die Zusammenarbeit mit afrikanischen Tanzenden und Musizierenden zurück. Dieses Mal mit der Absicht, den unterschiedlichen Umgang mit dem Tod in verschiedenen Gesellschaften aufzuzeigen.

Als Basis diente dazu Mozarts unvollendetes Requiem, das Cassol noch weiter fragmentierte und mit afrikanischen, jazzigen und popartigen Ergänzungen erweiterte. Zwei afrikanische Sänger und eine Sängerin übernehmen zum Teil die choristischen Teile des Requiems, drei weitere ergänzen den Vokalpart mit musikalischen Interpretationen ihrer Heimatländer und auch deren afrikanischen Sprachen. Weitere drei Musiker – ein Akkordeonist, ein Euphonium-Bläser und ein Schlagzeuger – übernehmen die „orchestrale“ Begleitung.

Die Sterbende, eine Bekannte von Platel und Cassol, hatte, wie ihre Familie auch, ihr Einverständnis gegeben, ihren Tod zu filmen und diesen dann in einer Performance dem Publikum zu zeigen. Soweit ist die rechtliche Situation geklärt. Inwieweit moralisch und ethisch diese Aktion gutzuheißen ist, ist eine von mehreren Fragen, die sich unweigerlich aufdrängen.Das Bühnensetting besteht aus schwarzen, unterschiedlich hohen Quadern, die zum Teil, wie auf jüdischen Begräbnisstätten üblich, mit vereinzelten Steinen belegt sind. Unschwer ist darin das Berliner Holocaust-Mahnmal zu erkennen. „Ich wollte dem persönlichen Sterben das kollektive gegenüberstellen“, erklärte Platel beim Publikumsgespräch dazu. Und obwohl sich das musikalische Geschehen mit Tanzeinlagen auf und zwischen diesen Quaderblöcken abspielt, wird es doch permanent optisch von der großen Videoprojektion des Sterbemomentes nahezu verdrängt.

Weiße Tücher, welche für die letzte Reise der Frau geschwungen werden, sparsame Bewegungen, die an das Flügelschlagen von Vögeln erinnern, anklagende und verzweifelte Gebärden, die klar machen, wie sehr die Lebenden mit dem Tod hadern, bleiben aus dem Bewegungskanon des Ensembles dennoch in Erinnerung. Das musikalische Geschehen wird interessanterweise nicht in jenen Passagen intensiv, in welchen Mozart erkennbar wird. Vielmehr sind es jene Momente, in welchen das Akkordeon mit schweren Atemgeräuschen aufhorchen lässt oder die Obertonimprovisationen des Bläsers den Geist der Sterbenden in eine andere Welt zu begleiten scheinen. Dass afrikanische Rhythmen ihre Wirkung nicht verfehlen, muss nicht extra betont werden. Sosehr die musikalische Leistung der Sängerin und der beiden Sänger zu bewundern ist – einer von ihnen hat sich seine Fertigkeit aus Youtube-Videos angeeignet – sind es dennoch nicht ihre Einsätze, die wirklich berühren.

Vielmehr kreisen die Gedanken permanent um die Frage, ob denn in dem einen oder anderen Moment der Tod bei der Frau schon eingetreten ist. Um nach wenigen Augenblicken quälender Ungewissheit damit konfrontiert zu werden, dass das Leiden noch kein Ende gefunden hat. Es sind gerade diese Augenblicke, die diese Produktion trotz ihrer Intensität auch fragwürdig machen und sie auf einem schmalen Grat zwischen Rechtfertigung und Verdammung ansiedeln. Gleichzeitig stellen sich eine Reihe von Fragen wie jener nach der Sinnhaftigkeit und dem Mehrwert der Performance an sich.

Inwieweit muss der persönlichste Moment eines Menschen letztlich zur voyeuristischen Befriedigung eines anonymen Publikums aufgezeichnet werden? Der Begründung Platels, dass der Tod in unserer Gesellschaft nicht mehr existent sei, ist nur bedingt zuzustimmen. Denn der Tod war und ist durch die Medien heute präsenter als je zuvor. Die physische Nähe zu ihm ist und war immer schon nur einem kleinen Kreis von Menschen vorbehalten. Jenen, die bei einem Unglücksfall zufällig dabei sind oder den Angehörigen, die sich während der letzten Stunden neben den Sterbenden aufhalten. Ganz abgesehen von Pflegerinnen, Pflegern, Ärztinnen und Ärzten, die sich in Krankenhäusern und Palliativstationen heute um die Sterbenden kümmern. Ganz anders jedoch sieht es mit der gelebten Trauer aus, die zumindest in der weltlichen Gesellschaft heute verschwunden zu sein scheint.

Gerade aber diese gesellschaftlich so unterschiedlichen Praktiken wären es durchaus wert, aufgezeigt zu werden. Der unterschiedliche Umgang mit der kollektiven Trauerbewältigung hält eine ganze Reihe von Erkenntnissen bereit, über die es sich lohnt, nachzudenken. Wie verabschiedet man sich von den Verstorbenen nach deren Tod, welche kollektiven Rituale gehören dazu, welche Erinnerungsmomente bleiben in welcher Art und Weise erhalten? Welche Hilfe bietet ein gesellschaftliches Kollektiv, welche Strategien der Schmerzüberwindung?

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„Requim pour L.“ (Fotos: Chris van der Burght)
Das Verdrängen des Todes, das Platel als Ausgangspunkt seiner Produktion ansieht, gehört zum Menschsein ebenso wie die Erschütterung angesichts des tatsächlichen Erlebens und Miterlebens. Es sind ganz persönliche Entscheidungen, sich dieser Tatsache zu stellen oder auch nicht. Zumindest kann man Platel zugutehalten, dass das Publikum, das sich „Requiem pour L.“ ansieht, durch die Vorinformationen weiß, worauf es sich einlässt: Auf das beim Sterben-Zusehen einer ihm Unbekannten, vor der Kulisse einer musizierenden und tanzenden Gemeinschaft, die aus diesem Moment ein besonderes, artifizielles Ereignis macht, das nicht alltäglich ist.

Standing Ovations im Festspielhaus St. Pölten zeigten, dass Platel und Cassol mit ihrem schonungslosen Aufzeigen eines Sterbevorganges offenbar ein ganz bestimmtes Publikumsbedürfnis befriedigen konnten. Vielleicht ist das Rechtfertigung genug.

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Skulptur, Tier oder Mensch

Skulptur, Tier oder Mensch

Skulptur, Tier oder Mensch

 
„Kreatur“ von Sasha Waltz und Guests. (Foto: Sebastian Bolesch)
11.
Dezember 2018
In ihrer neuen Show „Kreatur“ lässt Sasha Waltz & Guests ihre Truppe höchst unbestimmt zwischen verschiedenen Wesenszuständen wechseln. Die klare Aussage, die sich am Ende des Stückes ergibt, ist so überdeutlich angelegt, dass sie keinen Interpretationsspielraum zulässt. Das ist ziemlich ungewöhnlich für zeitgenössisches Tanztheater.

Sasha Waltz hat einen Hang zu den bildenden Künsten. Im Besonderen zur Bildhauerei. Am deutlichsten wurde dies ganz offenkundig in ihrer Kooperation mit dem ZKM.

Für ihre neueste Arbeit kooperierte sie mit Iris van Herpen, die Bühnenoutfits kreierte, die einerseits die Tänzerinnen und Tänzer skulptural aussehen und auch bewegen lassen. Andererseits ist es möglich, diese Gebilde, wenn sie am Boden liegen, tatsächlich auch als reine Skulpturen anzusehen.

Die erste Hälfte der Show beschäftigt sich zum größten Teil auch mit dem Phänomen Skulptur. Dies ist jener Part, der spannend ist, vieles zeigt, was als ungewöhnliches Augenfutter wahrgenommen werden kann und den Tanz aus seiner determinierten Rolle, jener der ununterbrochenen Bewegung, befreit. Doch bleibt es leider nicht bei dieser Betrachtungsweise, die für einen guten Abend schon genügt hätte. Und so wartet die Inszenierung mit zwei Wermutstropfen auf:

Einer ist, dass sich peu à peu alle Tanzenden in Menschen verwandeln, die rein triebgesteuert sind und den geschlechtlichen Akt als einen unterdrückenden, machtdeterminierten benutzen. Ein anderer, dass Waltz ganz offensichtlich ihre Choreografie mit zu viel Inhalt versehen wollte, was die Anfangsszenen zum Teil sogar konterkariert.

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„Kreatur“ von Sasha Waltz und Guests. (Foto: Sebastian Bolesch)
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Sasha Waltz (Foto: André Rival)
Menschenansammlungen, die im stop-and-go-Modus zwischen Vorwärtsdrang und Innehalten agieren, erzählen eine Zeitlang noch von einem funktionierenden, sozialen System. Je länger jedoch getanzt wird, umso negativer fällt der Blick auf die Menschheit aus. Zwar entwickelt sich das Individuum, aber auch die Masse bei Waltz zwar in kleinen Schritten weiter – zu einer Gesellschaft, die imstande ist, sich gegen eine „böse, schwarze Macht“ aufzulehnen. Letztlich verfällt sie jedoch in Rohheit und Gewalt, aus der es keinen Ausweg zu geben scheint.

 Davor – und das sind die interessanten Teile der Choreografie – probiert Waltz aus, welche Möglichkeiten ein Körper hat, als Skulptur aufgefasst zu werden und wann diese Möglichkeiten ihre Grenzen erreichen. Die Arbeit mit verspiegelten Folien, die bei Beleuchtung das Verdeckte durchscheinen lassen, ist mehr als nur optischer Bühnenzauber. Dabei werden Sehgewohnheiten auf den Kopf gestellt und die Körper derart fragmentiert gezeigt, dass sie zugleich auch entpersonalisiert erscheinen. Zu diesen Szenen gehört auch eine, in welcher sich das Ensemble auf einer kleinen Treppe drängeln muss und zum Teil Gefahr läuft, von einem hohen Podest abzustürzen.

 Wie schon in anderen Arbeiten, setzt die Choreografin jene Ensemblemitglieder, die durch körperliche Merkmale besonders auffallen, gekonnt in Szene. Corey Scott Gilbert, der hünenhaft selbst die Größten seiner Kolleginnen und Kollegen um einen Kopf überragt, muss dabei extrem dosiert eingesetzt werden, was Waltz auch gut gelingt. Denn sobald er in der ersten Reihe bei einer Gruppenchoreografie auftritt, stellt er alle anderen aufgrund seiner Größe in den Schatten.

Clémentine Deluy wiederum, die größte und muskulöseste aller Frauen, erhält die Rolle des Bösewichtes. Nicht nur, dass sie eine Kontrahentin demütigt und diese als gesellschaftliche Außenseiterin stigmatisiert. Sie ist es auch, die in ein schwarzes Ganzkörperkostüm gesteckt wird, das vom Kopf bis zur Taille mit riesigen Stacheln besetzt ist. Damit drangsaliert und bedroht sie alle derart, dass es schließlich zur Rebellion gegen sie kommt. Es sind Momente wie diese, die den Eindruck von krampfhaften Bildmetaphern hinterlassen, die jedoch gerade wegen ihrer Offensichtlichkeit eher platt wirken. Das tun auch jene Kopulationsszenen, die gleichzeitig durch ein langes Vierkantbrett bereichert und mit dem französischen Gassenhauer „Je t´aime“ von Serge Gainsbourg und Jane Birkin unterlegt werden.

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„Kreatur“ von Sasha Waltz und Guests. (Foto: Sebastian Bolesch)
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„Kreatur“ von Sasha Waltz und Guests. (Foto: Sebastian Bolesch)
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„Kreatur“ von Sasha Waltz und Guests. (Foto: Luna Zscharnt)
Positiv fallen das klare, reduzierte, aber gut durchdachte Lichtdesign (Urs Schönebaum), sowie der Sound (Soundwalk Collective) auf. Zum Teil betont dieser stark den Rhythmus, er ist aber dennoch elektronisch so unbestimmt gehalten, dass er wenig Assoziationen zulässt.

So spannend sich ‚Kreatur‘ zu Beginn entwickelte, so platt glitt es in einen zweiten Teil über, der sogar das vergessen liess, was in der Produktion wirklich vom Feinsten war: Bewegungselemente, die in einer großen Quantität aber auch einer unglaublichen Qualität zu sehen sind. Schade darum.

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Zugvögel können Nester bauen

Zugvögel können Nester bauen

"Über uns der Himmel"  Dschungel Wien (Foto: Rainer Berson)

In Zeiten wie diesen ist es unumgänglich, sich im Theater mit dem Thema Migration auseinanderzusetzen. Wie das in vorbildhafter und zugleich höchst poetischer Weise geschehen kann, zeigte der Dschungel Wien. „Über uns nur der Himmel“ war der Titel einer Koproduktion mit „Wien Modern“, für die Corinne Eckenstein gemeinsam mit Sanja Tropp-Frühwald die Choreografie erarbeiteten.

Eine Gruppe, zusammengesetzt aus Tanzprofis und Kindern zeigten zu Musik von drei Komponistinnen und acht Komponisten ein ganzes Spektrum an Annäherungen zu diesem Thema, ohne jemals den Belehrungsfinger oder einen Holzhammer auszupacken. Vielmehr durfte das Publikum in ein Abenteuer eintauchen, das Schrecken einer dunklen Nacht genauso bereit hielt wie ausgelassenes Spiel und Freude am Entdecken von Neuem. Und dies anhand einer Kinderschar, die sich gezwungenermaßen – wie Zugvögel – auf den Weg machen müssen, um ein neues Zuhause zu finden.

Dabei gelangen sie immer wieder an eine Mauer, die sie nicht überwinden können, oder über die sie, hochgehievt, nur sehnsüchtig blicken können. Vieles, was in dieser Inszenierung im Tanz „erzählt“ wird, ist intuitiv nachvollziehbar. Die Müdigkeit, die schier endlose Reise, der Schlaf, der sie überkommt, das Gemeinschaftsgefühl und der Kampf gegen Unbekanntes und Verbotenes. In flüssigen Bewegungsabläufen mit zum Teil synchronen Passagen, einer außergewöhnlichen Szene, in welcher eines der Mädchen in tiefem Schlaf, wie leblos von ihrem erwachsenen Begleiter gehoben, geschoben, gehievt, gerollt und behutsam bewegt wird, ist der Tanz ein adäquates Mittel, Emotionen, aber auch jede Menge Bilder im Kopf zu vermitteln.

Vier Frauen sitzen mit langen Tarnröcken auf einem kleinen Podest und spielen ein Streichquartett

Koehne-Quartett (Foto: Rainer Berson)

Das Koehne-Quartett tritt dabei optisch, trotz andauernder Bühnenpräsenz, durch tarnfarbige Kostüme, in den Hintergrund. (Kostüme und Bühne Ilona Glöckel) In kurzen Stücken, angesiedelt zwischen Wohlklang und gänzlicher Atonalität, wird eine musikalische Begleitung geboten, die sich atmosphärisch den jeweiligen Vorgängen anschmiegt. Sich auf den Weg machen zu müssen und keine Bleibe zu haben, nicht einmal ein Nest, so wie dies die Zugvögel tun können, ist das Hauptthema von „Über uns nur der Himmel“ und regt, anders als Diskurse über Flüchtlingsströme, nicht vorrangig zum Nachdenken, sondern zum Mitfühlen an. Und so wechselt das Geschehen auch immer wieder zwischen Vogel- und Menschengemeinschaften und bietet sogar einen bezaubernden Tierzirkus.

Die Kunst, Profis und Kinder so auf der Bühne zu vereinen, dass es dabei zu keinen Hierarchien kommt – diese Kunst beherrschen Eckenstein und Tropp-Frühwald exzellent.

Koehne Quartett: Joanna Lewis, Violine, Diane Pascal, Violine, Lena Fankhauser, Viola, Mara Achleitner, Violoncello

TänzerInnen: Jaskaran Anand, Silvia Both, Lino Eckenstein, René Friesacher, Roni Sagi; Tanzcoach Gat Godovich

DarstellerInnen: Laura Biz, Lino Eckenstein, Greta Follak, Sophia Valentina Gomez Schreiber, Sina Pourkarami, Sam Tosun

Musik von: Christine Burke, Angélica Castelló, Denis Dufour, Joanna Lewis, Dimitris Mousouras, Max Nagl, Werner Pirchner, John Psathas, Ahmed Adnan Sygun, Peter Sculthorpe und Paul Stanhope

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