von Elisabeth Ritonja | Mai 21, 2024 | Allgemein, Juki-Cult, Theater
Wer von uns, egal, wie alt wir auch immer sind, kennt nicht jene Alltagssituationen, in welchen wir mit unseren Familienangehörigen am Tisch sitzen und reden, ohne etwas zu sagen?
Als Kinder haben sich unsere Eltern – so wir Glück hatten – bemüht, uns in einer geschützten Umgebung aufwachsen zu lassen. Oft unter Zeitdruck, mit Alltagsarbeiten bis über beide Ohren beschäftigt. Zeit zum Reden, bis auf das, was im Alltag notwendig war, blieb selten. Auch standen die eigenen Befindlichkeiten zu sehr im Vordergrund, um sich intensiver auf das einzulassen, was hinter dem Handeln unserer nächsten Angehörigen steckt. Die Verletzungen, die ihnen von den Generationen davor mitgegeben wurden, bleiben oft im Dunkeln und werden nicht erzählt.
Mother loves you (Foto: TWOF2)
Irgendwann waren wir aus der Familie herausgewachsen und unsere Eltern gealtert. Selbst einmal Alt geworden kommt die Einsicht, dass wir vieles von Vater und Mutter nicht wissen, aus dem einfachen Grund, weil wir nie nachgefragt haben. Und – auch kein leichtes Erkennen – unser Verhalten den eigenen Kindern gegenüber verblüffend jenem ähnelt, welches wir selbst an unseren Erziehungsberechtigten nicht guthießen.
Dies könnte man als den Nukleus des Stückes „Mother loves you“ bezeichnen. „TWOF2 + dascollectiv“ – Giovanni Jussi und Maria Spanringaus aus Wien zeichnen dafür verantwortlich. Gezeigt wird es mit der Altersempfehlung 15–20 Jahre im Dschungel in einem nicht alltäglichen Setting. Rund um einen Küchentisch, flankiert von einem Kühlschrank und einem Ofen, bereitet sich eine junge Frau Frühstück zu. „Ich bin Ada“, stellt sie sich dem Publikum kurz vor. Es wird einer von drei Sätzen sein, die sie während des Stückes live spricht. Im Raum verteilt finden sich einige Bildschirme, auf welchen kurze Szenen, aufgenommen in einer Küche, zu sehen und hören sind. (Bühne Giovanni Jussi, Francesco Diaz)
Mother loves you (Foto: TWOF2)
Abermals ist es Ada, nun ca. 20 Jahre älter, mit ihrem halbwüchsigen Sohn Raphael, die in der ersten Video-Szene am Küchentisch sitzt. Es ist wider Erwarten Raphael, der sich um seine Mutter kümmert, die sich offenkundig in einer Lebenskrise befindet. In der nächsten Einstellung ist Ada als junge Mutter mit ihrem damaligen Partner in einer Küchenszene zu beobachten. Beide am Arbeiten, er am Laptop, sie an der Schreibmaschine, die nach kurzer Zeit aber ihren Geist aufgibt. Die Bitte, an seinem Computer weiterarbeiten zu können, wird von ihm mit der lapidaren Aussage abgeschmettert „Nein, das ist zu hoch für dich“. Damit ist klar, warum dieser Beziehung keine lange Dauer vorhergesagt werden kann und Ada auch in den späteren szenischen Abfolgen unverheiratet ist.
In den filmischen Einspielungen werden Ada und ihr Sohn Raphael in unterschiedlichen Lebensaltern gezeigt und dies auch nicht zeitlinear. Auf einen Blick in die Mitte von Adas Leben folgt eine Rückschau. Die Rollen, die Eltern und Kindern zugeschrieben werden, sind in den Szenen oftmals vertauscht. Fürsorgend der Sohn, aufmüpfig die Mutter. In der allerletzten Einstellung ist Raphael als alter Mann zu sehen.
Mother loves you (Foto: TWOF2)
Es dauert ein Weilchen, bis man die Familienverhältnisse zu verstehen beginnt, die wichtigste Konstellation jedoch – Mutter und Sohn – ist von Beginn an klar und bleibt es auch bis zum Schluss. Kurze Dialoge verdeutlichen, dass das Verhältnis der beiden nicht friktionsfrei ist, sie aber dennoch bemüht sind, ihre Beziehung aufrechtzuerhalten. Der unterlegte Sound ballt sich, wenn beide nicht mehr miteinander sprechen, zu einer akustisch wahrnehmbaren Bedrohung zusammen (Musik Bernhard Breuer). Wie selbstverständlich wird damit das Gefühl vermittelt, dass die Gefahr dort beginnt, wo das Reden miteinander aufhört.
Es sind die Zeitsprünge, aber auch die dadurch ausgelösten Irritationen, welche das Geschehen von den Protagonisten loslösen und bald als universell verstanden werden können. Das, was Raphael und seine Mutter verbindet, die Art, wie sie miteinander kommunizieren, sich aneinander reiben und sich dennoch immer das Beste wünschen, steht für viele Mutter-Kind-Beziehungen.
Mother loves you (Foto: TWOF2)
In einer der letzten filmischen Szenen sitzt der gealterte Raphael einer jungen Frau gegenüber, die Ada sein könnte. Man darf sich zusammenreimen, dass es seine jüngere Schwester ist, genauso gut könnte es aber seine Mutter sein, die er sich imaginiert. Der Kreis des Lebens schließt sich in dieser Einstellung. Aus Jung ist Alt geworden, aber die Jungen kommen nach und auch ihnen steht das Altern bevor.
Die Lebensgeschichte der beiden bleibt zum größten Teil verborgen, aber es ist auch nicht notwendig, mehr von ihnen zu erfahren, denn: Anna Katharina Bittermann, Dominik Gysin, Maria Spanring und Joshua Zischg, welche die Protagonistinnen und Protagonisten verkörpern, konzentrieren sich in ihren Dialogen (Buch Ursula Knoll) nur auf jeweils aktuelle Zustände, aus welchen man seine eigenen Rückschlüsse ziehen kann. Verstärkt wird dadurch die Gefühlsebene zwischen Ada und Raphael, in die man gut eintauchen kann.
Was während der Aufführung rätselhaft oder im Verborgenen bleibt, erfährt eine radikale Wendung am Schluss des Stückes. Da fällt der einschneidende und unvergessliche Satz: „Warum hast du nicht gefragt?“ Eine Frage, die an Raphael gestellt wird und die schließlich als Trigger funktioniert. Denn die Frage, das versteht man in der Sekunde, ist nicht nur an den Schauspieler im Video gestellt, sondern an alle, die zusehen.
Aufgrund des Erlebten weiß man auch ad hoc, was man selbst tun sollte, bevor es zu spät ist: Fragen und reden, auf den anderen oder die andere zugehen, um ihre Persönlichkeit besser zu verstehen. Auf Vater, Mutter, Schwester, Bruder, auf Freundin oder Freund – schlichtweg auf alle, mit denen man scheinbar vertraut ist, letztlich aber nie in die Tiefe der Persönlichkeit, ihre Wünsche und Ängste, abgetaucht ist. Man sollte die Frage aber auch stellen, um Klarheit zu bekommen, wer man selbst ist und warum man so geworden ist, wie man letztlich ist.
„Mother loves you“ ist eine geglückte, theatrale Versuchsanordnung mit einer gehörigen Portion praktizierte Lebensweisheit. Es bleibt zu hoffen, dass diese von Publikum auch dementsprechend aufgenommen wird.
von Michaela Preiner | Nov 25, 2018 | Juki-Cult, Tanz, Wien Modern
"Über uns der Himmel" Dschungel Wien (Foto: Rainer Berson)
In Zeiten wie diesen ist es unumgänglich, sich im Theater mit dem Thema Migration auseinanderzusetzen. Wie das in vorbildhafter und zugleich höchst poetischer Weise geschehen kann, zeigte der Dschungel Wien. „Über uns nur der Himmel“ war der Titel einer Koproduktion mit „Wien Modern“, für die Corinne Eckenstein gemeinsam mit Sanja Tropp-Frühwald die Choreografie erarbeiteten.
Eine Gruppe, zusammengesetzt aus Tanzprofis und Kindern zeigten zu Musik von drei Komponistinnen und acht Komponisten ein ganzes Spektrum an Annäherungen zu diesem Thema, ohne jemals den Belehrungsfinger oder einen Holzhammer auszupacken. Vielmehr durfte das Publikum in ein Abenteuer eintauchen, das Schrecken einer dunklen Nacht genauso bereit hielt wie ausgelassenes Spiel und Freude am Entdecken von Neuem. Und dies anhand einer Kinderschar, die sich gezwungenermaßen – wie Zugvögel – auf den Weg machen müssen, um ein neues Zuhause zu finden.
Dabei gelangen sie immer wieder an eine Mauer, die sie nicht überwinden können, oder über die sie, hochgehievt, nur sehnsüchtig blicken können. Vieles, was in dieser Inszenierung im Tanz „erzählt“ wird, ist intuitiv nachvollziehbar. Die Müdigkeit, die schier endlose Reise, der Schlaf, der sie überkommt, das Gemeinschaftsgefühl und der Kampf gegen Unbekanntes und Verbotenes. In flüssigen Bewegungsabläufen mit zum Teil synchronen Passagen, einer außergewöhnlichen Szene, in welcher eines der Mädchen in tiefem Schlaf, wie leblos von ihrem erwachsenen Begleiter gehoben, geschoben, gehievt, gerollt und behutsam bewegt wird, ist der Tanz ein adäquates Mittel, Emotionen, aber auch jede Menge Bilder im Kopf zu vermitteln.
Koehne-Quartett (Foto: Rainer Berson)
Das Koehne-Quartett tritt dabei optisch, trotz andauernder Bühnenpräsenz, durch tarnfarbige Kostüme, in den Hintergrund. (Kostüme und Bühne Ilona Glöckel) In kurzen Stücken, angesiedelt zwischen Wohlklang und gänzlicher Atonalität, wird eine musikalische Begleitung geboten, die sich atmosphärisch den jeweiligen Vorgängen anschmiegt. Sich auf den Weg machen zu müssen und keine Bleibe zu haben, nicht einmal ein Nest, so wie dies die Zugvögel tun können, ist das Hauptthema von „Über uns nur der Himmel“ und regt, anders als Diskurse über Flüchtlingsströme, nicht vorrangig zum Nachdenken, sondern zum Mitfühlen an. Und so wechselt das Geschehen auch immer wieder zwischen Vogel- und Menschengemeinschaften und bietet sogar einen bezaubernden Tierzirkus.
Die Kunst, Profis und Kinder so auf der Bühne zu vereinen, dass es dabei zu keinen Hierarchien kommt – diese Kunst beherrschen Eckenstein und Tropp-Frühwald exzellent.
Koehne Quartett: Joanna Lewis, Violine, Diane Pascal, Violine, Lena Fankhauser, Viola, Mara Achleitner, Violoncello
TänzerInnen: Jaskaran Anand, Silvia Both, Lino Eckenstein, René Friesacher, Roni Sagi; Tanzcoach Gat Godovich
DarstellerInnen: Laura Biz, Lino Eckenstein, Greta Follak, Sophia Valentina Gomez Schreiber, Sina Pourkarami, Sam Tosun
Musik von: Christine Burke, Angélica Castelló, Denis Dufour, Joanna Lewis, Dimitris Mousouras, Max Nagl, Werner Pirchner, John Psathas, Ahmed Adnan Sygun, Peter Sculthorpe und Paul Stanhope
von Aurelia Gruber | Mrz 15, 2018 | Juki-Cult, Tanz
"Tiger Lilien" (Foto: Franzi Kreis)
Wie war das noch, als kleines Mädchen in vielen Verkleidungen durch die Wohnung zu stapfen? Wie fühlte es sich an, das Lebensjahrzehnt, in dem ´“frau“ in den 20ern, den 40ern oder 60ern steckte? Und wie ist es, wenn man 80 ist?
Gibt es etwas, das ein Leben lang gleich bleibt? Gibt es etwas, das vergeht und nicht wieder kommt?
Die Choreografin und Leiterin des Vrum Performing Arts Collective machte sich mit ihren Tänzerinnen – die jüngste ist 9 Jahre alt, die älteste 80 – auf eine Erkundungsreise. In ihr zeigt sich nicht nur, dass Emotionen, Wünsche, Hoffnungen und Erinnerungen so etwas wie ein roter Faden im Leben jeder Frau sind. Es wird auch klar, dass der Spaß am Leben, die Freude am Tanzen ein Leben lang bleiben können. Aber auch die Vergänglichkeit des Körpers ist eines von vielen Themen in diesem Stück.
Mit einer geschickten Choreografie dürfen alle Beteiligten ihr Können altersgemäß ausspielen. Dabei wird die Jüngste gekonnt mit einer langen, wunderbar fließenden Hebe-Nummer unterstützt und die Älteste so wohldosiert in die Gemeinschaftschoreografien eingebunden, dass ihr Auftritt beim Zusehen kein tänzerisches Manko hervorruft. Aber auch Einzelauftritte stellen die Frauen mit ihren individuellen Bewegungsbegabungen in den Mittelpunkt.
Jede Menge Spaß wird dabei auch transportiert, so bei einer Verfolgungsjagd oder einem Versteckspiel, in dem die Tänzerinnen zu Skulpturen erstarren. Und es gibt – man staune – auch eine Szene, in der handfest gerangelt werden darf. Dabei bricht Tropp Frühwald das Klischee vom braven Mädchen und Frauchen gehörig auf und zeigt, dass auch Wehrhaftigkeit im Verhaltensrepertoire von Frauen durchaus Sinn macht.
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„Tiger Lilien“ (Foto: Franzi Kreis)
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„Tiger Lilien“ (Foto: Franzi Kreis)
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„Tiger Lilien“ (Foto: Franzi Kreis)
Ein wandelbares Bühnenbild entführt in eine Wohnung, deren Räume sich ständig verändern und in der es sich auch ausgezeichnet verstecken lässt. (Ausstattung Zdravka Ivandija Kirigin) Darin, dahinter, davor und drumherum tanzen und bewegen sich Adriana Cubides, Maria Farcher, Gat Goodovitch, Milena Leeb, Giordana Pascucci und Emma Wiederhold und machen dabei klar, dass die Bandbreite an unterschiedlichen Arten Frau zu sein nicht nur mit dem Alter, sondern auch mit der Persönlichkeit an sich zusammenhängt. Mit der Party, die am Schluss der Vorführung das Publikum von seinen Plätzen auf die Bühne zieht, gelingt letztlich auch eine individuelle Tanzerfahrung der Zusehenden, die richtig Spaß macht. .
Kurz vor der ersten Aufführungsserie im Dschungel Wien befasste sich auch die Gruppe tanz.coop mit dem Thema Frau und Tanz und brachte dabei ein gänzlich anderes, ästhetisches Produkt auf die Bühne. Ein weiterer Beweis, dass nicht nur Frausein an sich so viele unterschiedliche Möglichkeiten beinhaltet wie es Frauen auf dieser Welt gibt. Das zeigt auch, dass weibliche Kreativität so viele unterschiedliche Outputs hervorbringt, wie es kluge und begabte Frauenköpfe gibt, die dahinter stecken.
Informationen zu weiteren Aufführungen auf der Seite des Dschungel.