Warum hast du nicht gefragt?

Warum hast du nicht gefragt?

Wer von uns, egal, wie alt wir auch immer sind, kennt nicht jene Alltagssituationen, in welchen wir mit unseren Familienangehörigen am Tisch sitzen und reden, ohne etwas zu sagen?

Als Kinder haben sich unsere Eltern – so wir Glück hatten – bemüht, uns in einer geschützten Umgebung aufwachsen zu lassen. Oft unter Zeitdruck, mit Alltagsarbeiten bis über beide Ohren beschäftigt. Zeit zum Reden, bis auf das, was im Alltag notwendig war, blieb selten. Auch standen die eigenen Befindlichkeiten zu sehr im Vordergrund, um sich intensiver auf das einzulassen, was hinter dem Handeln unserer nächsten Angehörigen steckt. Die Verletzungen, die ihnen von den Generationen davor mitgegeben wurden, bleiben oft im Dunkeln und werden nicht erzählt.

Mother loves you (Foto: TWOF2)

Mother loves you (Foto: TWOF2)

Irgendwann waren wir aus der Familie herausgewachsen und unsere Eltern gealtert. Selbst einmal Alt geworden kommt die Einsicht, dass wir vieles von Vater und Mutter nicht wissen, aus dem einfachen Grund, weil wir nie nachgefragt haben. Und – auch kein leichtes Erkennen – unser Verhalten den eigenen Kindern gegenüber verblüffend jenem ähnelt, welches wir selbst an unseren Erziehungsberechtigten nicht guthießen.

Dies könnte man als den Nukleus des Stückes „Mother loves you“ bezeichnen. „TWOF2 + dascollectiv“ – Giovanni Jussi und Maria Spanringaus aus Wien zeichnen dafür verantwortlich. Gezeigt wird es mit der Altersempfehlung 15–20 Jahre im Dschungel in einem nicht alltäglichen Setting. Rund um einen Küchentisch, flankiert von einem Kühlschrank und einem Ofen, bereitet sich eine junge Frau Frühstück zu. „Ich bin Ada“, stellt sie sich dem Publikum kurz vor. Es wird einer von drei Sätzen sein, die sie während des Stückes live spricht. Im Raum verteilt finden sich einige Bildschirme, auf welchen kurze Szenen, aufgenommen in einer Küche, zu sehen und hören sind. (Bühne Giovanni Jussi, Francesco Diaz)

Mother loves you (Foto: TWOF2)

Mother loves you (Foto: TWOF2)

Abermals ist es Ada, nun ca. 20 Jahre älter, mit ihrem halbwüchsigen Sohn Raphael, die in der ersten Video-Szene am Küchentisch sitzt. Es ist wider Erwarten Raphael, der sich um seine Mutter kümmert, die sich offenkundig in einer Lebenskrise befindet. In der nächsten Einstellung ist Ada als junge Mutter mit ihrem damaligen Partner in einer Küchenszene zu beobachten. Beide am Arbeiten, er am Laptop, sie an der Schreibmaschine, die nach kurzer Zeit aber ihren Geist aufgibt. Die Bitte, an seinem Computer weiterarbeiten zu können, wird von ihm mit der lapidaren Aussage abgeschmettert „Nein, das ist zu hoch für dich“. Damit ist klar, warum dieser Beziehung keine lange Dauer vorhergesagt werden kann und Ada auch in den späteren szenischen Abfolgen unverheiratet ist.

In den filmischen Einspielungen werden Ada und ihr Sohn Raphael in unterschiedlichen Lebensaltern gezeigt und dies auch nicht zeitlinear. Auf einen Blick in die Mitte von Adas Leben folgt eine Rückschau. Die Rollen, die Eltern und Kindern zugeschrieben werden, sind in den Szenen oftmals vertauscht. Fürsorgend der Sohn, aufmüpfig die Mutter. In der allerletzten Einstellung ist Raphael als alter Mann zu sehen.

Mother loves you (Foto: TWOF2)

Mother loves you (Foto: TWOF2)

Es dauert ein Weilchen, bis man die Familienverhältnisse zu verstehen beginnt, die wichtigste Konstellation jedoch – Mutter und Sohn – ist von Beginn an klar und bleibt es auch bis zum Schluss. Kurze Dialoge verdeutlichen, dass das Verhältnis der beiden nicht friktionsfrei ist, sie aber dennoch bemüht sind, ihre Beziehung aufrechtzuerhalten. Der unterlegte Sound ballt sich, wenn beide nicht mehr miteinander sprechen, zu einer akustisch wahrnehmbaren Bedrohung zusammen (Musik Bernhard Breuer). Wie selbstverständlich wird damit das Gefühl vermittelt, dass die Gefahr dort beginnt, wo das Reden miteinander aufhört.

Es sind die Zeitsprünge, aber auch die dadurch ausgelösten Irritationen, welche das Geschehen von den Protagonisten loslösen und bald als universell verstanden werden können. Das, was Raphael und seine Mutter verbindet, die Art, wie sie miteinander kommunizieren, sich aneinander reiben und sich dennoch immer das Beste wünschen, steht für viele Mutter-Kind-Beziehungen.

Mother loves you (Foto: TWOF2)

Mother loves you (Foto: TWOF2)

In einer der letzten filmischen Szenen sitzt der gealterte Raphael einer jungen Frau gegenüber, die Ada sein könnte. Man darf sich zusammenreimen, dass es seine jüngere Schwester ist, genauso gut könnte es aber seine Mutter sein, die er sich imaginiert. Der Kreis des Lebens schließt sich in dieser Einstellung. Aus Jung ist Alt geworden, aber die Jungen kommen nach und auch ihnen steht das Altern bevor.

Die Lebensgeschichte der beiden bleibt zum größten Teil verborgen, aber es ist auch nicht notwendig, mehr von ihnen zu erfahren, denn: Anna Katharina Bittermann, Dominik Gysin, Maria Spanring und Joshua Zischg, welche die Protagonistinnen und Protagonisten verkörpern, konzentrieren sich in ihren Dialogen (Buch Ursula Knoll) nur auf jeweils aktuelle Zustände, aus welchen man seine eigenen Rückschlüsse ziehen kann. Verstärkt wird dadurch die Gefühlsebene zwischen Ada und Raphael, in die man gut eintauchen kann.

Was während der Aufführung rätselhaft oder im Verborgenen bleibt, erfährt eine radikale Wendung am Schluss des Stückes. Da fällt der einschneidende und unvergessliche Satz: „Warum hast du nicht gefragt?“ Eine Frage, die an Raphael gestellt wird und die schließlich als Trigger funktioniert. Denn die Frage, das versteht man in der Sekunde, ist nicht nur an den Schauspieler im Video gestellt, sondern an alle, die zusehen.

Aufgrund des Erlebten weiß man auch ad hoc, was man selbst tun sollte, bevor es zu spät ist: Fragen und reden, auf den anderen oder die andere zugehen, um ihre Persönlichkeit besser zu verstehen. Auf Vater, Mutter, Schwester, Bruder, auf Freundin oder Freund – schlichtweg auf alle, mit denen man scheinbar vertraut ist, letztlich aber nie in die Tiefe der Persönlichkeit, ihre Wünsche und Ängste, abgetaucht ist. Man sollte die Frage aber auch stellen, um Klarheit zu bekommen, wer man selbst ist und warum man so geworden ist, wie man letztlich ist.

„Mother loves you“ ist eine geglückte, theatrale Versuchsanordnung mit einer gehörigen Portion praktizierte Lebensweisheit. Es bleibt zu hoffen, dass diese von Publikum auch dementsprechend aufgenommen wird.

Das Glück ist ein Vogerl – oder doch ein Fisch?

Das Glück ist ein Vogerl – oder doch ein Fisch?

Das Glück ist ein Vogerl – oder doch ein Fisch?

Das Glück ist ein Vogerl – oder doch ein Fisch?

Sieglinde Feldhofer (Jakob) – © Werner Kmetitsch
Im Österreichischen gibt es ein schönes Sprichwort: Das Glück ist ein Vogerl. In der Oper für Kinder und Jugendliche mit dem Titel „Gold“ – ist es aber doch ein Fisch.
Ausgehend vom Märchen „Der Fischer und seine Frau“ der Gebrüder Grimm komponierte der Holländer Leonard Evers das Stück „Gold“, das derzeit auf der Studiobühne der Oper Graz aufgeführt wird. Das Libretto von Flora Verbrugge hält sich an den Hauptplot, ist aber ganz in einem aktuellen Diktum verfasst, in dem dann schon einmal die Rede von einem „Traumhaus“ oder einem „Trip“ ist. Auf diese Weise werden die jungen Opernfreaks textlich gut abgeholt.
Leonhard Königseder sorgt für die abwechslungsreiche, musikalische Untermalung am Schlagwerk und ist damit permanent auch im sichtbaren Einsatz. Die Musik ist eine interessante Mischung aus tonalen Ohrwürmern, wie einigen kleinen Walzern, atonalen Einsprengseln und einer klanglich angelegten Geräuschkulisse, die Sterne zum Funkeln, Wasser zum Brausen und den Wind zum Heulen bringt.

Sieglinde Feldhofer übernimmt alle Rollen, die dieses Stück zu bieten hat: Den kleinen Jacob, der jenen verwunschenen Fisch fängt, der ihm alle Wünsche erfüllt – nachdem er ihn wieder ins Meer entlassen hat. Aber auch seinen Vater, den Fischer und dessen Frau, sowie den Fisch selbst und einen Chauffeur. Es ist eine wahre Wonne, ihr schauspielerisches Können zu verfolgen. Ganz abgesehen von ihrem stimmlichen, untadeligen Einsatz.

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Sieglinde Feldhofer (Jakob), Leonhard Königseder (Percussion) – © Werner Kmetitsch
Julia Burger, die bereits am Burgtheater und im Dschungel Wien vor allem für junges Publikum inszenierte, ist auch für diese Produktion verantwortlich. Kleine, blaue Tüchlein helfen den Kindern im Publikum, das Meer darzustellen und bieten ihnen dabei, pädagogisch geschickt, auch die Möglichkeit, nicht permanent still sitzen zu müssen. Fliegende Luftballons, die dank kleiner Sandsäcke vom Off auf die Bühne geworfen werden und dort Halt finden, sind eine witzige Idee. Theaterdonner, Blitz und Sturmgeheul lassen die Kinder den Atem anhalten, weil sie realistisch erscheinen. Dass der Fisch, der die kleine Familie unermesslich reich werden lässt, ihnen aber letztlich alles wieder nimmt, nicht sichtbar ist – und auch das Schloss nur durch einen Kristall-Leuchter angedeutet wird – soll dazu anregen, mit der eigenen Fantasie zu spielen.

Interessant, dass beim Verlassen einer Jugend-Vorstellung ein 2.Klässler zu seiner Sitznachbarin sagte: „Unser Schloss war aber schöner!“ Er war einer der Darsteller der Aufführung „Was wünscht du dir?“, die im Rahmen eines Schulprojektes in Zusammenarbeit mit der Oper Graz in der Volksschule St. Peter zur Aufführung kam. Das Schloss, das die Kinder bei ihren Vorstellungen auf der Bühne hatten, war aus Karton gebastelt. Die Aussage zeigt aber, wie sehr gerade junges Publikum sich an Illusionistischem erfreut, an einer Theaterwelt, die das Alltägliche sprengt und heute auch ohne großes Bühnenbild leicht in Szene zu setzen ist.

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Sieglinde Feldhofer (Jakob) – © Werner Kmetitsch
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Die Frage, was denn nun wünschenswert ist, wann Wünsche erfüllt werden können und wann nicht – steht im Mittelpunkt dieser Oper und bietet viel Stoff, mit den Kindern darüber zu reden. Zu sehen noch bis Anfang Juni.
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Material girl in St. Peter

Material girl in St. Peter

Material girl in St. Peter

Material girl in St. Peter

„Was wünscht du dir“ (Foto: ECN)
Ein Ensemble von 22 Kindern tanzte in einer Choreografie zu „I am a material girl“ von Madonna in der Aula der VS Graz St. Peter und erhielt prompt Bravo-Rufe und lauten Beifall. Die Szene war einer der Höhepunkte einer Theateraufführung, die mit Unterstützung von Profis der Oper Graz zustande gekommen war. 
Die Schülerinnen und Schüler der 2 E hatten das große Glück, im Rahmen einer mehrmonatigen Einstudierungsphase „Was wünscht du dir?“ zu erarbeiten. Ein Stück mit Text, Gesang und Tanz frei nach dem Märchen „Der Fischer und seine Frau“, das an der Grazer Oper unter dem Titel „Gold“ derzeit ebenfalls aufgeführt wird.
Wer beide Versionen gesehen hat, weiß, dass dazwischen Welten liegen. Nicht, weil die Kinder nicht professionell gearbeitet hätten. Sondern schlicht deshalb, weil sie ihre eigenen Erfahrungen einbringen durften und auch Ideen ihrer engagierten Lehrerin, Ute Langner, verfolgen konnten. Maria Lougiaki, die Korrepetitorin beim Ballett an der Oper war und jetzt an der Musikschule in Mürzzuschlag arbeitet, war für die musikalische Live-Begleitung zuständig. Mit dem E-Piano ließ sie das Rauschen des Meeres genauso hörbar werden wie die Beat-Unterstützung zu „I am happy!“ – jenem Titel, mit dem die Kinder am Ende des Stückes singend Resümee über das Wünschen zogen: Freunde zu haben und Spaß am Leben zählt mehr als Geld, Gold und Macht.

Mit Arthur Haas – Tänzer und ab der nächsten Saison auch Lehrender in der Ballettschule der Oper und Andrea Streibl, die in der pädagogischen Abteilung des großen Hauses arbeitet, erhielt der Nachwuchs jene Hilfe, welche die Aufführung sicht- und hörbar von einer reinen Schuldarbietung unterschied: Exakt getimte, fließende Auf- und Abgänge ohne Geschubse und Gedrängel oder eine Kostüm- und Requisitenberatung, die mit geringem finanziellem Aufwand ein Maximum an Illusion zauberte, sowie eine effektvolle Choreografie.

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„Was wünscht du dir“ (Fotos: ECN)
Das Projekt wurde von „culture connected“ vom Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung durchgeführt und von KulturKontakt Austria beratend und organisatorisch begleitet. Es wird österreichweit angeboten und hat zum Ziel, so früh wie möglich Kinder in Kulturproduktionen einzubinden. Dies trägt nicht nur zu einer individuellen Persönlichkeitsstärkung bei – wie sowohl Ute Langner als auch Andrea Streibl unabhängig voneinander rückblickend als das herausragendste Ergebnis dieser Arbeit erkannten. Die Kinder sind letztlich auch das Publikum von morgen und werden in ungefähr 20 Jahren die Kultureinrichtungen Österreichs besuchen oder sogar darin arbeiten. Vor allem dann, wenn sie mit diesen schon Kontakt hatten. Parallel zu den Proben an ihrem eigenen Stück besuchte die Klasse auch eine kurze Probenauskoppelung im Opernhaus. Dafür hatten die Kinder viele Fragen vorbereitet, die von der Regisseurin geduldig beantwortet wurden. In den nächsten Tagen geht es dann noch einmal zu einer kompletten Vorstellung.

Noah Pötsch, der als sprechender Fisch inmitten eines blauen, bewegten Stoffmeers nervenstark und laut verständlich seinen Text sprach, beantwortete nach der Vorstellung die Frage, ob er sich denn vorstellen könne, Schauspieler zu werden kurz und bündig: „Ja schon, aber eigentlich bin ich Fußballer!“

Anabel Hermann hingegen war sich noch nicht sicher, ob Schauspielerin oder Tierärztin ihr Beruf werden wird. Als Tochter des Fischers und seiner Frau musste sie auf Befehl ihrer Eltern mehrfach zum verwunschenen Fisch, um ihn immer wieder um neue Zuwendungen zu bitten. „Diesen Tag werde ich sicher nie im Leben vergessen!“ – diese aus tiefstem Herzen kommende Aussage stammt von Izza Schuster – jenem Krone tragenden „material girl“ – das das Publikum mit ihrer herrischen Mutter-Interpretation genauso beeindruckte wie mit ihrem tänzerischen Talent.

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„Was wünscht du dir?“ (Fotos: ECN)
Die Inszenierung „Was wünscht du dir?“, die in der VS St. Peter nicht nur vor den Eltern der Klasse, sondern noch zwei Mal für alle anderen Schülerinnen und Schülern aufgeführt wurde, zeigte eines überdeutlich: Erfolge im pädagogischen Bereich lassen sich immer auf wenige Parameter reduzieren: Auf den persönlichen Einsatz der Lehrpersonen, deren Enthusiasmus für ein bestimmtes Projekt, der sich unweigerlich auf die Kinder überträgt, sowie auf die Unterstützung der Schulleitung.

Wir gratulieren dem Ensemble:
Cornelia Reiter, Daniel Piljic, Felix Steiner, Mario Vukovojac, Martin Kammerlander, Nina Strasser, Bori Buza, Carla Tschapeller, Florian Spruk, Hanna Lackner, Martin Gasteiner, Monika Kern, Niklas Brandstätter, Oliver Schröttner, Noah Pötsch, Bernhardt Planner, Julia Mark, Anabel Hermann, Anna Steiner, Izza Schuster, David Luschnig und Julian Ehammer.

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Zugvögel können Nester bauen

Zugvögel können Nester bauen

"Über uns der Himmel"  Dschungel Wien (Foto: Rainer Berson)

In Zeiten wie diesen ist es unumgänglich, sich im Theater mit dem Thema Migration auseinanderzusetzen. Wie das in vorbildhafter und zugleich höchst poetischer Weise geschehen kann, zeigte der Dschungel Wien. „Über uns nur der Himmel“ war der Titel einer Koproduktion mit „Wien Modern“, für die Corinne Eckenstein gemeinsam mit Sanja Tropp-Frühwald die Choreografie erarbeiteten.

Eine Gruppe, zusammengesetzt aus Tanzprofis und Kindern zeigten zu Musik von drei Komponistinnen und acht Komponisten ein ganzes Spektrum an Annäherungen zu diesem Thema, ohne jemals den Belehrungsfinger oder einen Holzhammer auszupacken. Vielmehr durfte das Publikum in ein Abenteuer eintauchen, das Schrecken einer dunklen Nacht genauso bereit hielt wie ausgelassenes Spiel und Freude am Entdecken von Neuem. Und dies anhand einer Kinderschar, die sich gezwungenermaßen – wie Zugvögel – auf den Weg machen müssen, um ein neues Zuhause zu finden.

Dabei gelangen sie immer wieder an eine Mauer, die sie nicht überwinden können, oder über die sie, hochgehievt, nur sehnsüchtig blicken können. Vieles, was in dieser Inszenierung im Tanz „erzählt“ wird, ist intuitiv nachvollziehbar. Die Müdigkeit, die schier endlose Reise, der Schlaf, der sie überkommt, das Gemeinschaftsgefühl und der Kampf gegen Unbekanntes und Verbotenes. In flüssigen Bewegungsabläufen mit zum Teil synchronen Passagen, einer außergewöhnlichen Szene, in welcher eines der Mädchen in tiefem Schlaf, wie leblos von ihrem erwachsenen Begleiter gehoben, geschoben, gehievt, gerollt und behutsam bewegt wird, ist der Tanz ein adäquates Mittel, Emotionen, aber auch jede Menge Bilder im Kopf zu vermitteln.

Vier Frauen sitzen mit langen Tarnröcken auf einem kleinen Podest und spielen ein Streichquartett

Koehne-Quartett (Foto: Rainer Berson)

Das Koehne-Quartett tritt dabei optisch, trotz andauernder Bühnenpräsenz, durch tarnfarbige Kostüme, in den Hintergrund. (Kostüme und Bühne Ilona Glöckel) In kurzen Stücken, angesiedelt zwischen Wohlklang und gänzlicher Atonalität, wird eine musikalische Begleitung geboten, die sich atmosphärisch den jeweiligen Vorgängen anschmiegt. Sich auf den Weg machen zu müssen und keine Bleibe zu haben, nicht einmal ein Nest, so wie dies die Zugvögel tun können, ist das Hauptthema von „Über uns nur der Himmel“ und regt, anders als Diskurse über Flüchtlingsströme, nicht vorrangig zum Nachdenken, sondern zum Mitfühlen an. Und so wechselt das Geschehen auch immer wieder zwischen Vogel- und Menschengemeinschaften und bietet sogar einen bezaubernden Tierzirkus.

Die Kunst, Profis und Kinder so auf der Bühne zu vereinen, dass es dabei zu keinen Hierarchien kommt – diese Kunst beherrschen Eckenstein und Tropp-Frühwald exzellent.

Koehne Quartett: Joanna Lewis, Violine, Diane Pascal, Violine, Lena Fankhauser, Viola, Mara Achleitner, Violoncello

TänzerInnen: Jaskaran Anand, Silvia Both, Lino Eckenstein, René Friesacher, Roni Sagi; Tanzcoach Gat Godovich

DarstellerInnen: Laura Biz, Lino Eckenstein, Greta Follak, Sophia Valentina Gomez Schreiber, Sina Pourkarami, Sam Tosun

Musik von: Christine Burke, Angélica Castelló, Denis Dufour, Joanna Lewis, Dimitris Mousouras, Max Nagl, Werner Pirchner, John Psathas, Ahmed Adnan Sygun, Peter Sculthorpe und Paul Stanhope

Björn macht auch ohne Schraubenzieher Spaß

Björn macht auch ohne Schraubenzieher Spaß

"Björn ohne Bretter" (Foto: Franzi Kreis)

F unktioniert eine Theaterproduktion, die nicht geprobt werden kann? Haben Kinder Spaß, wenn ihnen nicht eine durchgehende Geschichte präsentiert wird? Kann man eine Inszenierung nach einer „Bauanleitung“ gestalten?

Die schallundrauch agency von Gabriele Wappel und Janina Sollmann begaben sich mit ihrer neuen Produktion „Björn ohne Bretter“ auf bis dahin von ihnen noch nicht erprobtes Terrain. Sie wollten versuchen, ob es möglich ist, eine Theaterproduktion so zu gestalten, dass jede einzelne Aufführung einzigartig ist. Sowohl für das Publikum als auch für das Ensemble.

Und so kamen sie auf die Idee, ein Raster zu erstellen, das zwar die Grundstruktur der Vorstellung vorgab, dessen Protagonistinnen und Protagonisten jedoch vom Publikum durch die Ziehung von Karten blind bestimmt wurde. Auf diese Weise ergeben sich für das 8-köpfige Schauspielteam bei jeder Vorstellung neue Kombinationen in der Besetzung der vorgesehenen Soli, Zweier- und Viererauftritte. Einzig drei Songs, so ins Ohr gehend und vom Refrain her easy zu merken, dass leicht mitgesungen werden kann, sind dabei fixe Punkte.

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„Björn ohne Bretter“ (Foto: Franzi Kreis)

Der Titel der Vorstellung „Björn ohne Bretter“ rührt von der Bauanleitungs-Idee her, die im Möbelbau global durch ein „unmögliches Möbelhaus aus Schweden“ bekannt wurde. Nur dass eben Wappel und Solimann weder richtige Bretter zusammenschrauben, noch  Bühnenbretter benötigen, um ihr Stück spielen zu können, sondern eine Anleitung zur Stückegestaltung als Raster ohne konkrete, weitere Angaben verwenden.

Der Inhalt ist aufgrund der wechselnden Personen-Konstellationen nicht wirklich festgelegt. Die einzelnen Szenen holen die Kinder und Jugendlichen aber da ab, wo sie sind. Sie setzen kleine Spots auf den Umgang mit Freundschaften und Rivalitäten, sie erzählen von Kindheitserlebnissen und -träumen und sie verbreiten das Gefühl, an etwas teilzuhaben, das es nur im Hier und Jetzt gibt. Mit einer Dreier-Kontaktimprovisation beeindruckten am besuchten Spieltag Martin Wax, Gabriele Wappel und Simon Vosecek gleich zu Beginn der Aufführung. Während akrobatische Bewegungsmuster die Körper der Drei verbinden, erzählt Gabi locker und flockig, dass sie, als sie noch sehr klein war, Teil einer Bande war, in der ihr nur ihr großer, schwarzer Hund zu Respekt verhalf.

Michael Haller berichtet in seinem Solo über seine höchst unergiebigen Detektivversuche als Junge, Jules Mekontchou und Elina Lautamäki können sich ohne Brille und mit geschlossenen Augen nicht finden und suchen vergebens nach Schokolade und Sebastian Radon und Janina Solimann streiten munter drauf los, wer von ihnen denn nun der erste und der zweite „Mag“ seien.

Als das Publikum schließlich aufgefordert wird, selbst mitzumachen, ist die Stimmung im Saal auf dem Höhepunkt. Dass nach Vorstellungsende niemand nach Hause gehen mag, zeigt, wie gut das Experiment „Björn ohne Bretter“ funktioniert. Auch so kann man junges Publikum fürs Theater begeistern.

Getanzte Frauenleben

Getanzte Frauenleben

"Tiger Lilien" (Foto: Franzi Kreis)

Wie war das noch, als kleines Mädchen in vielen Verkleidungen durch die Wohnung zu stapfen? Wie fühlte es sich an, das Lebensjahrzehnt, in dem ´“frau“ in den 20ern, den 40ern oder 60ern steckte? Und wie ist es, wenn man 80 ist?

Gibt es etwas, das ein Leben lang gleich bleibt? Gibt es etwas, das vergeht und nicht wieder kommt?
Die Choreografin und Leiterin des Vrum Performing Arts Collective machte sich mit ihren Tänzerinnen – die jüngste ist 9 Jahre alt, die älteste 80 – auf eine Erkundungsreise. In ihr zeigt sich nicht nur, dass Emotionen, Wünsche, Hoffnungen und Erinnerungen so etwas wie ein roter Faden im Leben jeder Frau sind. Es wird auch klar, dass der Spaß am Leben, die Freude am Tanzen ein Leben lang bleiben können. Aber auch die Vergänglichkeit des Körpers ist eines von vielen Themen in diesem Stück.

Mit einer geschickten Choreografie dürfen alle Beteiligten ihr Können altersgemäß ausspielen. Dabei wird die Jüngste gekonnt mit einer langen, wunderbar fließenden Hebe-Nummer unterstützt und die Älteste so wohldosiert in die Gemeinschaftschoreografien eingebunden, dass ihr Auftritt beim Zusehen kein tänzerisches Manko hervorruft. Aber auch Einzelauftritte stellen die Frauen mit ihren individuellen Bewegungsbegabungen in den Mittelpunkt.

Jede Menge Spaß wird dabei auch transportiert, so bei einer Verfolgungsjagd oder einem Versteckspiel, in dem die Tänzerinnen zu Skulpturen erstarren. Und es gibt – man staune – auch eine Szene, in der handfest gerangelt werden darf. Dabei bricht Tropp Frühwald das Klischee vom braven Mädchen und Frauchen gehörig auf und zeigt, dass auch Wehrhaftigkeit im Verhaltensrepertoire von Frauen durchaus Sinn macht.

Ein wandelbares Bühnenbild entführt in eine Wohnung, deren Räume sich ständig verändern und in der es sich auch ausgezeichnet verstecken lässt. (Ausstattung Zdravka Ivandija Kirigin) Darin, dahinter, davor und drumherum tanzen und bewegen sich Adriana Cubides, Maria Farcher, Gat Goodovitch, Milena Leeb, Giordana Pascucci und Emma Wiederhold und machen dabei klar, dass die Bandbreite an unterschiedlichen Arten Frau zu sein nicht nur mit dem Alter, sondern auch mit der Persönlichkeit an sich zusammenhängt. Mit der Party, die am Schluss der Vorführung das Publikum von seinen Plätzen auf die Bühne zieht, gelingt letztlich auch eine individuelle Tanzerfahrung der Zusehenden, die richtig Spaß macht. .

Kurz vor der ersten Aufführungsserie im Dschungel Wien befasste sich auch die Gruppe tanz.coop mit dem Thema Frau und Tanz und brachte dabei ein gänzlich anderes, ästhetisches Produkt auf die Bühne. Ein weiterer Beweis, dass nicht nur Frausein an sich so viele unterschiedliche Möglichkeiten beinhaltet wie es Frauen auf dieser Welt gibt. Das zeigt auch, dass weibliche Kreativität so viele unterschiedliche Outputs hervorbringt, wie es kluge und begabte Frauenköpfe gibt, die dahinter stecken.

Informationen zu weiteren Aufführungen auf der Seite des Dschungel.

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