Das Recht auf Freiheit und Provokation

Das Recht auf Freiheit und Provokation

Der wohl bekannteste südafrikanische Performancekünstler, der 2006 auf Einladung der Kunsthalle Wien mehrere Tage hier performte und bei Impulstanz im Juli seine Show „Put your heart under your feet — and walk“ zeigte, gliedert seine zweite, in dieser Saison gezeigte Arbeit „Taste“ in drei Teile. Gezeigt wurde diese im Museum Leopold. Die beiden ersten Teile sind reine Filmeinspielungen.

Zu Beginn wird man im Kapitel „Good Taste“ Zeuge der rituellen Handlung Ningyo Kuyo in Japan, bei der Puppen, die man nicht mehr haben möchte, verbrannt werden.
Dies in Begleitung von Gebeten, da man in Japan der Meinung ist, dass auch Puppen eine Seele haben. Steven Cohen überblendet das Geschehen mit einer eigenen Choreografie in einem verspiegelten Tempel, in dem er selbst als lebende Puppe agiert. Als solche präsentiert er sich als menschliches Hybrid, das nur aus Beinen und Armen besteht und durch eine geschickte Spiegelung reizvolle Körperansichten bereithält. In einem kurzen Zwischenschnitt blendet er vor einer Verbrennungsszene ein Hakenkreuz ein und evoziert damit sofort die massenhafte Vernichtung von politischen, religiösen und ethnischen Gegnern unter den Nazis. Dass kurz darauf ein aufgemalter oder eintätowierter Davidstern auf seinem kahlen Schädel zu sehen ist, macht schlagartig klar, dass sich dieser Hinweis auch auf die jüdische Abstammung des Künstlers bezieht.

In der zweiten Filmeinspielung „Bad Taste“ verfolgt man eine Performance, die Cohen 2013 vor dem Palais Chaillot inszenierte. Halb nackt, seinen Penis mit einem weißen Stoff nur zum Teil ummantelt, hat er daran eine Stoffleine montiert, die mit einem lebenden Hahn verbunden ist. Auch er selbst trägt Federn auf dem Kopf und an den Handschuhen und mutiert dadurch zu einer auffallenden, menschlichen Hahn-Kunstfigur, die zwangsläufig im öffentlichen Raum provoziert. Das Palais Chaillot wird von insgesamt vier Kulturinstitutionen genutzt, von Museen genauso wie von einem Theater und trägt eine markante Außenaufschrift. Dabei ist sinngemäß zu lesen, dass der Mensch ständig erschafft, ohne dass es ihm bewusst ist, dass aber das Schaffen des Künstlers ein bewusstes ist, welches sein ganzes Sein beeinflusst.

19 StevenCohen TastecPierrePlanchenault 02Der Hahn steht in Frankreich für das Symbol der Freiheit – und war nach der Revolution sogar mehrere Jahrzehnte auf der französischen Fahne verewigt. In Cohens Interpretation steht dieser sowohl für den Freiheitsgedanken der Kunst, als auch für das männliche Geschlechtsteil, das im Englischen ja auch mit „cock“ – Hahn bezeichnet wird. Die Freiheit, die hier eingefordert wird, bezieht sich zum einen auf die Kunstproduktion, zum anderen aber auch auf das Mensch-Sein an sich, egal welche sexuelle Präferenz damit verbunden ist.
Beides wurde durch eine Verhaftung während der Aufführung negiert und ein halbes Jahr später auch gerichtlich verurteilt. Wenngleich in einem salomonischen Urteil, bei dem keine Strafe ausgesprochen wurde.

Seinen dritten Performance-Teil, schlicht „Taste“ übertitelt, lieferte Cohen im Untergeschoss des Museum Leopold live ab. Dabei trat er in einem für ihn typischen, glamourhaften Outfit aus, das die Künstlichkeit seiner Figur noch verstärkt. Die Vorderansicht imitiert ein bodenlanges Abendkleid, der Rückenteil lässt aber den Blick auf viel nackte Haut zu. Auf seinem Kopf trägt er einen überdimensionierten Davidstern und geht nach einem kurzen Intro rasch auf Konfrontationskurs mit seinem Publikum. Nachdem er die Zusehenden mit Krachern, die nacheinander automatisch an seinem Rocksaum gezündet werden, erschreckte, presste er eine schwarze Flüssigkeit in eine Leibflasche, so als würde das Nass aus seinen Gedärmen kommen, um es anschließen genüsslich zu trinken. Seinen Abgang quittierten die Anwesenden mit freundlichem Applaus.

Der Performer ist davon überzeugt, dass man sich an „Taste“ lange Zeit erinnern werde. Ob das wirklich so ist, wird sich zeigen. Das Schockpotential, das er dabei für sein Publikum bereithielt, war nicht allzu hoch Vielleicht, weil vieles, was den Blutdruck nach oben treiben sollte, so oder so ähnlich schon vor vielen Jahren zu sehen war. Vor allem in Wien. Denn in den 60er-Jahren waren die Wiener Aktionisten mit Rudolf Schwarzkogler oder Günther Brus – um nur zwei von ihnen zu nennen – auch nicht zimperlich, was die Zurschaustellung von Genitalien, Blut oder Fäkalien betraf.
Dennoch ist seine Arbeit sehenswert und spiegelt im performativen Bereich jenen Zeitgeist wider, der Queere und Transgender-Menschen dazu antreibt, extrem offensiv mit ihrer Sexualität umzugehen. Das Kämpfen um das Recht auf Freiheit scheint immer mit Gewaltakten verbunden zu sein. Selbst, wenn dieser Kampf, wie bei Steven Cohen, letztlich auch ein großes Stück, gegen sich selbst gerichtet erscheint.

Hungry sharks erobern mit Urban Dance die Tanzbühnen

Hungry sharks erobern mit Urban Dance die Tanzbühnen

ODas Grazer Publikum ist nicht dafür bekannt, außer Rand und Band zu geraten. „Fomo“ von der österreichischen Gruppe „Hungry Sharks“ schaffte aber das Kunststück von Standing Ovations.

„Wo kommen die denn her?“, „Was, so eine Qualität haben wir in Österreich?“ – das sind nur zwei von vielen ähnlich lautenden Aussagen, die man im Foyer der Theater im Palais der KUG nach der Vorstellung hören konnte. Zurecht. Denn was das insgesamt 5-köpfige Team um Valentin Alfery bei der Internationalen Bühnenwerkstatt performte, hat internationales Niveau.

Alle Tänzerinnen und Tänzer kommen aus dem Urban-Dance-Bereich. Einige von ihnen sind schon von Anfang an – seit 2014 – beim Ensemble. Mittlerweile gibt es sogar eine Nachwuchsschiene, die „young sharks“. 70 Tänzerinnen und Tänzer stellten sich bei der Audition für dieses Projekt vor – nur 5 von ihnen wurden genommen. „Das sind unglaubliche Talente, über die wir sehr froh sind“, so Alfery, selbst noch jung, aber dennoch auf die Weitergabe seines Wissens bedacht.

In seinem nun endlich auch in Graz gezeigten Stück, das aus dem Jahr 2014 stammt, wird das Thema der ständigen Online-Präsenz behandelt. Ob der permanente Blick auf das Handy, ob die Dauerberieselung durch den Fernsehschirm, ob Gaming oder Bildbearbeitung, es gibt nicht viele Online-Bereiche, die in der Produktion nicht vorkommen.

Dafür verwendet Alfery eine abwechslungsreiche Mischung aus vielen Solonummern und solchen, in welchen die gesamte Truppe tanzt, aber auch Szenen, in welchen mit Gesten Objekte und Situationen gezeigt und nachgestellt werden, die wir alle aus dem Alltag kennen: Schreiben auf einer Tastatur, das Wischen am Handy, Selfies produzieren oder der Klingelton beim Eintreffen von neuen Nachrichten oder Mails werden hörbar. Mehrfach wird ein Handscheinwerfer zum Schatten-Hilfsmittel. Mit ihm werden die Tänzerinnen und Tänzer zu übergroßen Figuren an der Wand, gegen die man kämpfen kann, vor denen man sich aber auch fürchten darf, weil sie übermächtig erscheinen.

Dass sich Breakdance, Hip-Hop und andere Urban-Dance-Elemente vermischen, macht die große Faszination der Choreografie aus. Was sonst nur in speziellen Battles performt wird – in relativ kleinem Rahmen – hat mit den Hungry Sharks den Weg auf die großen Tanzbühnen dieser Welt gefunden. Die Idee, auch mit diesem Bewegungsrepertoire Geschichten erzählen zu können, ist extrem spannend und funktioniert. Aber auch die Körperbeherrschung aller Tänzerinnen und Tänzer, und ihr rhythmisches Feeling sind unglaublich. Einen Handstand kennt man, einen Handstand auf nur einer Hand auch, aber dass man sich dabei noch um die eigene Achse drehen kann, dürften noch nicht viele Menschen gesehen haben. Der häufige Bodenkontakt ist besonders in jenen Schluss-Szenen reizvoll, in welchen alle – bis auf einen – zu Walzerklängen tanzen. Dabei gelingen dem Ensemble nicht nur rasche, tolle Soliwechsel; Vielmehr ist der Gesamteindruck bei dieser Schluss-Szene außerordentlich. Wie sich die Bewegungen spiegeln, verzahnen, ineinander übergehen, wie man den Blick dabei schweifen lassen kann und immer wieder wunderbare, choreografische Ideen entdeckt, wohl wissend, dass man zugleich anderes zwangsläufig übersehen haben muss, macht wirklich Freude.

Mehrfache Auftritte in unseren Nachbarländern und Rumänien haben Hungry Sharks bereits absolviert. Im Frühling nächsten Jahres geht es auf eine längere Tournee durch Schweden und im Sommer dann zu einem internationalen Tanzfestival nach Sri Lanka. In ca. 1 Monat wird ein ganz neues Format präsentiert: „Zeitzonen“ nennt sich das Unterwasserstück, das im Schwimmbad auf der Schmelz zur Uraufführung kommt. Dass es ein exklusives Ereignis wird, steht fest. Schließlich können pro Aufführung lediglich 20 Personen zusehen. In Summe werden es nicht mehr als 180 sein.

Der Enthusiasmus, der im Publikum nach der Aufführung spürbar war, macht überdeutlich: Hungry Sharks befinden sich punktgenau am Puls der Zeit und schaffen es, mit ihrer kreativen Arbeit sich einen eigenständigen Platz in der internationalen Tanzszene zu erobern. Mit einem Generalsponsor könnten Sie sicherlich auch eine World-Tour bestreiten. Wer weiß, ob sich hier nicht in naher Zukunft eine Türe öffnet. Empfehlungen sind jedenfalls immer willkommen!

Tartuffe als Stummfilmtanz

Tartuffe als Stummfilmtanz

In grellen Farben, bunt ausstaffiert, beäugt eine Gruppe von Menschen einen jungen Mann, der ganz in Schwarz gekleidet ist. Dabei lugen sie vorsichtig hinter einer dreidimensionalen, aufgestellten Schrift hervor, die während des gesamten Stückes sichtbar bleibt: „For today I must stay in your house“ ist darauf zu lesen und antizipiert damit in einer Kurzfassung den thematischen Kern des Stückes. Spannend und vielversprechend beginnt Matija Ferlins „Staging a play: Tartuffe“ auf der Bühne des Theaters im Palais der KUG in Graz. Eingeladen wurde die Zagreb Dance Company von der Internationalen Bühnenwerkstatt. Bereits zum 28. Mal veranstaltet diese ein internationales Tanzfestival, das jeden Sommer Tanzbegeisterte für eine gute Woche in die Landeshauptstadt lockt.

Der 1982 in Kroatien geborene Ferlin absolvierte die School for New Dance in Amsterdam, lebte anschließend eine Zeitlang in Berlin und war Gast auf vielen internationalen Tanzfestivals und internationalen Schauspiel- und Opernhäusern. Auch in Österreich ist er kein Unbekannter. Er war bei Impulstanz zu Gast und erarbeitete jüngst in der Josefstadt eine Choreografie für Schnitzlers „Der einsame Weg“.

Für Ferlin ist es die zweite Arbeit, die unter dem Übertitel „Staging a play“ läuft. Die erste war Tennessee Williams Glasmenagerie gewidmet. Seine eigenständige Interpretation des Moliere-Stückes kommt ganz ohne Worte aus. Dem Choreografen war es wichtig, diese gänzlich durch Bewegungselemente zu ersetzen. Dabei greift das Ensemble auf ein Bewegungsvokabular zurück, das an Marionetten erinnert und auf fließende Übergänge häufig verzichtet.

Der starke Einsatz der Hände erinnert an die Gebärdensprache, ist jedoch völlig eigenständig und charakterisiert auch einzelnen Figuren. Ein weiteres stilistisches Charakteristikum der Produktion ist der häufige Blickkontakt, den die Tanzenden mit dem Publikum aufnehmen. Er ist so intensiv, dass man zuweilen den Eindruck erhält, man solle sich doch auch zum Geschehen äußern oder dem einen oder der anderen zumindest beipflichten. Einzig der Charakter von Dorine, Zofe der Tochter des Hausherren Orgon, fällt aus diesem Schema des Öfteren heraus. Sie stellt eine Figur dar, die sich in Ferlins Interpretation am Ende ganz gegen ihr vorheriges Naturell benimmt und von der aufsässigen Dienerin zu einer unterwürfigen Mitläuferin wandelt.

Die großartigen Kostüme – eine Mischung aus Harlekin-Outfit und peppigem Zeitgeistdesign stammen von Desanka Jankovic und Matija Ferlin selbst. Mit ihnen wird Wohlstand und Macht ausgedrückt – so lange, bis Tartuffe der kleinen Gesellschaft alles Materielle abgenommen hat. Nachdem Orgon ihm sein ganzes Hab und Gut überschrieben hat, entwendet Tartuffe von jedem und jeder ein Kleidungsstück, das er sich selbst überzieht. Dass sich Orgons Familie danach bis auf die Unterwäsche noch selbst entblößt, visualisiert die neuen Besitzverhältnisse. Außer ihrem Hemd am Leib ist ihnen nichts mehr geblieben.

Es dauert zu Beginn eine ganze Weile, bis alle Figuren vorgestellt werden und man sich in ihren jeweiligen Habitus eingesehen hat. Erst als die getanzten Dialoge beginnen, nimmt das Stück erzählerisch an Fahrt auf. Der lebensverdrossene, hünenhafte Hausherr erkennt in Tartuffe – dem viel kleineren, aber wendigeren, jungen Mann – die Chance, ganz nach seinem Willen sein Vermächtnis zu gestalten. Seine Frau lässt sich vom Eindringling verführen und reagiert, wie dieser, höchst betroffen, als ihr Sohn die beiden beim Tête-à-Tête stört. Mariane, Orgons schon für eine Ehe versprochene Tochter, ist ein Spielball der Wünsche ihres Vaters und bricht mehrfach unter seiner Despotie zusammen.

Ihr Verlobter Valère versucht verzweifelt in vielen Überredungsdialogen Orgon davon zu überzeugen, dass Tartuffe ein Gauner ist. Dieser ist sich – wie am Schluss deutlich wird – der Tragweite seiner Machtbesessenheit und Verführungskünste gar nicht bewusst. Das Spiel, für das er das Leben offenkundig hält, wird todernst und kippt in ein für ihn nicht vorhersehbar gewesenes Dilemma.

Ferlins Stück ist so angelegt, dass es Zusehenden, die Tartuffe nicht kennen, mit großer Wahrscheinlichkeit einen gänzlich anderen Interpretationsrahmen bietet. Tatsächlich folgt er jedoch nicht Molieres Blaupause und verpasst der Geschichte am Ende einen neuen Twist. Tartuffe landet nicht im Gefängnis, sondern reagiert völlig entsetzt und schmerzgebeutelt, als er jenen Mann tot auffindet, den er um sein Hab und Gut brachte.

„Staging a play: Tartuffe“ wartet mit einer ganz besonderen, extrem wiedererkennbaren Choreografie auf, für die man auch den Terminus „Stummfilmtanz“ verwenden könnte. Sie lebt über weite Strecken von den überzeichneten Figuren, die sich allesamt permanent auf der Bühne befinden. Die weiß geschminkten Gesichter können als Referenz für das barocke Script dienen, aber die Kostüme verweisen auch auf die Commedia dell`arte, die von Italien nach Paris importiert worden war und unter Ludwig dem XIV dort eine Blüte erlebte.

Als Sounduntermalung wurde die Einspielung einer langen, zeitgenössischen Orgelkantate von Luka Princic gewählt. Ihr eingängiger Beat untermalt eine Melodiestimme, die auch aus einer historischen Partitur entnommen worden sein könnte. Auch darin verschränkt Ferlin das Zeitgenössische mit dem Historischen auf subtile Art und Weise. Eine gelungene Produktion, die Raum für intensive Diskussionen bietet.

Lebensstürme und ihr Vermächtnis

Lebensstürme und ihr Vermächtnis

Lebensstürme und ihr Vermächtnis

Lebensstürme und ihr Vermächtnis

„The Storm“ – James Wilton Dance (Foto: Brain Slater)
Sie springen, sie rollen, sie rutschen über die Bühne, dass man meinen könnte, Knochen haben diese Tänzerinnen und Tänzer keine. Das Tempo, das sie dabei an den Tag legen, ist ebenso atemberaubend wie die Bewegungen mit Elementen der Bodengymnastik, aber auch des Urban Dance sowie des klassischen, zeitgenössischen Tanzes.
Wieder einmal gastierte James Wilton bei der internationalen Bühnenwerkstatt in Graz und beeindruckte mit seinem Ensemble das Publikum restlos.
War es im Vorjahr „Leviathan“, das zu Begeisterungsstürmen hinriss, so stand dieses Mal die neue Produktion „The Storm“ auf dem Programm und ließ sogleich Assoziationen mit Shakespeares gleichnamigem Stück aufkommen.

Tatsächlich stürmt es mehrfach wild auditiv und wirbelt die Menschen kräftig durcheinander, die anfangs in Harmonie lachend und scherzend den Abend eröffneten. Zwei davon trifft es besonders. Sarah Jane Taylor und Norikazu Aoki werden durch eine Sturmattacke so traumatisiert, dass sie nicht wieder in ihre frühere Fröhlichkeit zurückfinden.Wilton erzählt mit seinem Ensemble eine Geschichte, die symbolisch für all jene Schicksalsschläge steht, welche Menschen treffen und aus der Bahn schleudern können. In seinem Stück geht es darum, wie diese sich in der Zeit der Krise benehmen, welche Auswirkungen das auf die Umgebung hat und wie sie wieder zu sich finden und letztlich auch in der Gesellschaft wieder einen Platz einnehmen können.

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„The Storm“ – Sarah Jane Taylor (Foto: Steve Tanner)
​Dabei sind es immer wiederkehrende Gesten, die beredt von Freud und Leid erzählen. Wie jenes gemeinsame Armschaukeln der Freunde nach vor und zurück, bei welchem in der Anfangsszene die Hände der Hauptfiguren fröhliche Ausfallbewegungen machen. Oder jenes Handzittern, das Taylor nach ihrem Zusammenbruch immer wieder heimsucht, so sehr sie sich auch dagegen zur Wehr setzt. Aoki hingegen möchte sichtlich nichts mehr, als die Vergangenheit wieder zurückholen. Immer wieder erscheint ein runder, orangefarbener Lichterkreis, um den die fröhliche Gesellschaft anfangs saß und miteinander plauderte. Eine Erinnerung, die er nicht aus seinem Gedächtnis löschen kann, sosehr ihn Wilton auch davon abhalten möchte.

Es ist sicherlich der Beratung des Neurowissenschaftlers Dr. David Belin zu verdanken, dass die Choreografie viele unterschiedliche Stufen der Traumaverarbeitung aufzeigt. Und diesen Prozess von mehreren Seiten beleuchtet. Erst als Wilton die junge Frau mit ihren zitternden Händen so konfrontiert, dass sie diese nicht mehr hinter ihrem Rücken versteckt und erst, als er den psychischen Heilungsprozess bei Aoki zulässt, ohne beständig intervenieren zu wollen, flattert ein Aschenregen auf die Bühne, der die Katharsis ankündigt, die zu einer Heilung notwendig ist.

„The Storm“ zeigt auch auf, wie hilflos sich jene vorkommen, die den Betroffenen vielfach ihre Hand und Unterstützung anbieten, von diesen aber jedes Mal wieder zurückgewiesen werden. Einfach toll zuzusehen, wie Aoki in einem Solo zeigt, wie viele Arten es gibt, sich am Boden fortzubewegen, aufstehen zu wollen, aber immer wieder zu scheitern. Hoch emotional auch jene Szenen, in welchen James Wilton selbst zu Boden geht in der bitteren Erkenntnis, nicht helfen zu können. Die sich abwechselnden Solo-Szenen mit solchen, in welchen nicht nur die drei Hauptcharaktere tanzen, sondern auch das vierköpfige Nachwuchsensemble auf der Bühne ist, faszinieren beständig.

Die zu Beginn psychedelische Musik, die wogend eine heile Welt vorgaukelte, wird im Laufe der Zeit rhythmisch wilder, um bald darauf gänzlich andere Klangfarben anzunehmen. Die James Wilton Dance Cie bietet den Soundtrack, der von der polnischen Band Amarok unter Michal Wojtas produziert wurde, übrigens auch zum Kauf an.

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The Storm James Wiltonc Brian Slater
The Storm (Fotos: Brian Slater)
Der versöhnliche Schluss ist dennoch kein Happyend im klassischen Sinn. Zwar schaffen die drei Freunde, die das Schicksal für eine lange Zeit trennte, wieder einen Schulterschluss und beginnen langsam, ihre ausgestreckten Arme gemeinsam nach vorne und rückwärts zu bewegen. Das ausgelassene Wechselspiel ihrer Hände, das zu Beginn die ausgelassene Lebensfreude charakterisierte, bleibt aber aus. Ein subtiler und höchst realistischer Hinweis darauf, dass das Leben nach traumatischen Erfahrungen zwar weitergeht, aber nicht mehr das ist, was es einst einmal war.

Fazit: Tänzerisch und dramaturgisch extrem sehenswert!

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Ein Hauch von Woodstock in Graz

Ein Hauch von Woodstock in Graz

Der Beat rockt und lässt die Füße der Teilnehmenden mitwippen. Eine und einer nach dem anderen aus dem Publikum wird auf die Tanzfläche geholt oder tut dies von sich aus, ganz ohne Aufforderung. Innerhalb weniger Augenblicke hat sich die Bühne, auf der bisher drei Tänzer agierten, in einen Space verwandelt, auf dem zu happy music ausgelassen getanzt wird. Die fröhliche Stimmung ist unglaublich ansteckend und unweigerlich stellt sich die Frage: Wann durfte man das letzte Mal so unbeschwert sein? Wann hat man sich gemeinsam als „beautiful people“ erlebt? Frei nach dem Song „Beautiful people“ von Melanie, der im Anschluss an das gemeinsame Tanzerlebnis, erklingt. Das erste Mal sang ihn die Singer-Songwriterin 1969 beim Festival in Woodstock.

Die Choreografin Helene Weinzierl zeigt in ihrem neuen Stück „It´s all about“, dass man auch in Zeiten von täglicher Horror-Reizüberflutung das Leben feiern darf. Und wagt damit einen gesellschaftlichen Perspektivenwechsel, der unglaublich wohltut. Luan de Lima, Uwe Brauns und Alberto Cissello, das Ensemble von Weinzierls CieLaroque, switchen nicht nur das Publikum der Internationalen Bühnenwerkstatt in Graz von der passiven Zuschauerattitüde ins aktive Mitmachen. Vielmehr verbreiten sie in diesem Moment eine so wunderbare Laune, von der man möchte, dass sie lange anhält.

Doch bis es soweit ist, pendelt die Performance zwischen unterschiedlichen Polen. Zu Beginn sind die drei Tänzer eine lange Zeit mit sich selbst beschäftigt, durchmessen den Raum raschen Schrittes und zeigen erste, individuelle Bewegungsmuster. Bis sich beinahe ephemere Paarkombinationen ergeben, die – kaum stattgefunden – auch schon wieder Vergangenheit sind.

Unterfüttert von einer fein abgemischten Musikcollage zeigt Weinzierl ein Kaleidoskop an unterschiedlichen, humanen Befindlichkeiten. Von Rivalitäten oder pfauenhaften Selbstdarstellungen bis hin zu ersten Balzversuchen ist hier alles vertreten. Vieles bleibt angedeutet, mit wenigen Bewegungen nur skizziert – vieles bleibt für eine persönliche Interpretation offen. Und doch sind es die drei Männer, von denen sich jeder in einem Solo vorstellt, die der Performance einen starken Rahmen geben. Nicht zuletzt, weil sie auch sprachlich agieren.

Uwe Brauns präsentiert sich dabei als ein Mann, der am liebsten die Welt retten möchte und als Kind Bodyguard werden wollte. „It`s all about trust“ ist seine Devise, wohl wissend, dass man nicht jedem vertrauen darf. Alberto Cissello hingegen verkörpert den Strahlemann, den Sunnyboy, der alle unterhält und Brauns in einem Flamenco-Fechttanz nach vorherigem Gerangel tänzerisch herausfordert. Luan de Lima stellt er jedoch als seinen Freund vor, der meint, dass alles nur richtiges „timing“ ist. Dessen Solo widmet er einem Mädchen aus dem Publikum, das er mit einem Handy und einem Kopfhörer ausstattet; So, als würde nur sie die Musik hören können und er ausschließlich für sie alleine tanzen.

Neben der riesigen Portion an tänzerischem Können, das durch das hohe Tempo und ein exaktes Timing überzeugt, sind es die verschiedenen Stilmittel, welche die Performance extrem kurzweilig erscheinen lassen. Die Verschränkung von Kunst und gesellschaftlichem Impact kommt in dieser Arbeit nicht mit dem Holzhammer daher. Vielmehr gelingt CieLaroque mit „It`s all about“ das Kunststück, dem Publikum ein Stück positives Weltbild mit auf den Weg zu geben.

Weitere Tanzveranstaltungen des Festivals finden Sie auf der Website https://www.buehnenwerkstatt.at/performances-and-acts/

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