Wird sie oder wird sie nicht? Hat er oder hat er nicht? Weiß er von ihr oder weiß er es nicht?
Das Publikum, das sich das neue Stück von Paulus Hochgatterer angesehen hat, verlässt das Theater mit Fragen über Fragen, auf die es keine Antworten bekommt. Uraufgeführt als Auftragswerk des Schauspielhauses in Wien, anlässlich der Wiener Festwochen, präsentiert der Autor in „Makulatur“ ein Beziehungsgeflecht von Menschen, welches sich im Laufe des Fortgangs der Geschichte als besonders raffiniert erweist. Hochgatterer, in der Kunst des Krimiaufbaues geübt, versteht es, dass sich seine ProtagonistInnen Szene für Szene in kleinen Schritten gefährlich annähern und dadurch die Spannung im Publikum stetig ansteigt. Als Grundgerüst dient ihm das Leiden eines junges Mädchens, das seine Mutter, eine Gymnasialprofessorin für Deutsch, und seinen Vater, einen Architekten der sich auf „Keller“ spezialisiert hat, verlässt. Sie leidet unter dem Gefühl, dass ihre Gliedmaßen nicht Teil ihrer selbst sind und hat den innigen Wunsch, sich ihr Bein amputieren zu lassen. Es wäre möglich, dass Hochgatterer hier auf seinen eigenen Erfahrungsschatz als Kinderpsychiater verweist und auf ein Vorbild für diese Depersonalisationsstörung zurückgriff, welches er zu behandeln hatte. Zumindest verweist er in der Handlung auch auf ein frühkindliches, traumatisches Erlebnis – nämlich dem „Verschwinden“ der Mutter während der ersten alleinigen Geh- und Raumerobersungsversuche ihrer Tochter Kerstin, die sich verlassen vorkam und dieses Gefühl von da an permanent mit sich tragen muss.
Eine junge Polizistin und ihr Kollege, eine einarmige Trafikantin und ein Mann, der sich als Chirurg ausgibt, sie alle ergänzen den Reigen von Menschen die – der Titel deutet es an – ihr Fremdbild einer Makulatur verdanken. Hochgatterer verwendet den Begriff ganz im Sinne von Papierbögen, die beim Tapezieren unter der Tapete angebracht werden, um schadhafte Stellen abzudecken und auszugleichen. Und von schadhaften Seelenzuständen wimmelt es in seinem Bühnenstück nur so. Eigentlich müsste man sich nach dieser Aufführung vor jeder Polizistin und jedem Polizisten fürchten, denn so locker, wie die Waffe bei den handelnden Bühnenpersonen sitzt, wäre es leicht möglich, einmal ein bedauernswertes Opfer einer solchen zu werden. Auch kann man froh sein, keine Kinder mehr im Gymnasium zu haben – ganz nach dem Motto „ich lebe glücklich, meine Kinder haben schon Matura“ – denn Hochgatterers Professorin zeigt beim Korrigieren von Maturaarbeiten zuhause unverhohlen, wie sehr sie einzelne ihrer Schülerinnen und Schüler verachtet und dies auch ganz ohne Skrupel in die Benotung einfließen lässt. Dagegen mutet das Duckmäusertum ihres Mannes und die Alkoholsucht der verkrüppelten Trafikantin harmlos an, sind sie zumindest nicht aus jenem Holz geschnitzt, mit dem man andere Menschen seelenruhig verprügeln kann.
Hauptprotagonist ist jedoch neben dem Mädchen ein Mann namens Jablonski, der seinen Lebensunterhalt mit Operationen verdient, die von zugelassenen Ärzten normalerweise nicht durchgeführt werden. Er amputiert und implantiert, ganz wie seine „Patienten“ es wünschen und lässt sich dafür schließlich von Kerstins Vater auch noch einen versteckten Raum unter dem Schwedenplatz einrichten, um dort ungestört seiner Tätigkeit nachgehen zu können. Bei seiner Arbeit kommt ihm seine Menschenverachtung zugute, die er bei ausgiebigen Beobachtungen im U-Bahnbereich kräftig nährt. Dabei konstatiert er, dass sich höchstens einmal am Tag in den Menschenmassen jemand findet, der intelligent ist und so verspürt er auch nicht im Geringsten die Absicht, die absonderlichen Wünsche seiner Kundschaft auch nur andeutungsweise zu hinterfragen. Die raffinierte Handlungsführung, bei der man zur Halbzeit vermeint, den Schluss bereits voraussagen zu können, endet jedoch völlig abrupt, so als wäre man Zeuge eines irreparablen Filmrisses, sodass man sich genötigt sieht, sich das Ende der Geschichte selbst auszudenken.
Oder gibt es – wie im Leben außerhalb der Theatermauern – unter Umständen gar kein „Ende“ an welchem sich alle Knoten lösen und das Gute über das Böse siegt – oder umgekehrt?
Es ist diese Verstörung, die neben all den psychischen Deformationen, welche die handelnden Personen aufweisen, das Stück als tiefschwarz charakterisieren. Da nützt auch der winzig kleine Hoffnungsschimmer nicht viel, aus dem herauszulesen ist, dass sich Kerstin und Jablonski gefühlsmäßig näher kommen und die drohende Amputation vielleicht doch noch verhindert werden kann.
Hochgatterers Stück ist kein Krimi und kein Psychodrama – es steht wie auf einer fragilen Wippe genau dazwischen. Ein Schritt in die eine oder andere Richtung würde es endgültig determinieren, was der Autor aber bewusst vermeidet. Die aalglatte Inszenierung von Barbara-David Brüesch hilft nicht nur, einen gehörigen Abstand zu den Personen aufrechtzuerhalten, sondern steigert mit ihren abrupten Szenenwechseln, begleitet durch unerwartete akustische Sensationen, merkbar den Thrill. Unterstützt wird sie dabei vom Bühnenbild von Damian Hitz, der die einzelnen Orte nur durch unterschiedliche Ebenen einer Aluminiumkonstruktion definiert und auf mehreren Videoschirmen das geschäftige Treiben in den U-Bahngängen unterhalb des Schwedenplatzes projiziert.
Steffen Höld (Jablonski), Katja Jung (Trafikantin), Barbara Horvath (Professorin), Max Mayer (Architekt), Christoph Rothenbuchner (Polzist), Franziska Hackl (Polizistin) und Nikola Rudle (Tochter Kerstin) verkörpern ohne Ausnahme ihre Rollen lebendig und absolut nachvollziehbar.
Ob der offene Schluss als Makel oder psychologisch-philosophische Hausaufgabe angesehen wird, bleibt wohl jeder Besucherin und jedem Besucher selbst überlassen.