Die Rechnung
In Zusammenarbeit mit dem Volkstheater entwickelte er gemeinsam mit den Schauspielern Frank Genser und Christoph Schüchner eine Fassung, die vom Volkstheater auch noch im Herbst in verschiedenen Bezirken gezeigt werden wird. Die Ursprungsfassung, die Etchells gemeinsam mit Bertrand Lesca und Nasi Voutsas erarbeitete, wurde während des Festivals in Avignon voriges Jahr gezeigt und diente als Basis einer Stückentwicklung, die mit einem einfachen Setting beginnt. Im Laufe der Vorstellung wird diese jedoch immer ausufernder und absurder, um am Ende logisch dort zu enden, was der Titel ankündigt: bei einer Rechnung. Zwei Männer spielen eine Szene in einem Restaurant, in welchem der Ober ohne Unterlass Wein in das Glas seines Gastes gießt, sodass dieses übergeht und den Tisch überschwemmt.
Ein gutes Kunstwerk, egal, aus welchem Genre es stammt, erkennt man an einigen wenigen Merkmalen. Zum einen ist es formal so gestaltet, dass Publikum verschiedener gesellschaftlicher Schichten und verschiedenen Alters Gefallen daran finden können. Zum anderen bietet es nicht nur eine, sondern mehrere Interpretationsebenen an. Der letzte Punkt ist jener der Wiedererkennung. Ob in der bildenden Kunst, im Tanz, der Musik oder im Theater – eine künstlerische Handschrift so zu erarbeiten, dass sie vom Publikum rasch zugeordnet werden kann, ist jenen vorbehalten, die ihr Handwerk verstehen. Tim Etchells ist so jemand und er erfüllt alle vorangegangenen Qualitätsmerkmale mit Leichtigkeit.
Es ist nicht zuletzt der herausragenden schauspielerischen Leistung von Genser und Schüchner zu verdanken, dass sich „Die Rechnung“ als eine der sehenswertesten Produktionen der Festwochen erweist. Dieses kleine Kammerspiel, aufgeführt vor einem roten Vorhang, kommt lediglich mit zwei Tischen, einigen Sesseln, sowie Besteck, Tischtüchern, einem Glas und einer Flasche aus. Und es lässt das Kopfkino rattern, dass man kaum mit dem Nach- und Vorausdenken mitkommt. Befinden wir uns in einer Endlosschleife, die sowohl unseren Alltag als auch jenen im Bühnenberuf versinnbildlicht? Werden uns auf höchst kunstvolle, zugleich aber auch einfache Art und Weise die philosophischen Denkmuster von These, Antithese und Synthese vorexerziert? Kommen wir mit der Idee zurecht, dass in 50 Jahren andere Menschen im Theater sitzen werden als wir, die wir die 50 schon überschritten haben? Oder dürfen wir uns einfach mit Freude und Genuss der fulminanten Darbietung hingeben, bei der ein Ober zum Torero mutiert oder ein Gast daran verzweifelt, dass ihm der Kellner den Wein vorenthält?
Dies und eine Reihe weiterer Fragen, aber auch Erkenntnisse, blitzen während der Vorstellung in den eigenen Gedanken auf und lassen staunen und lachen zugleich. Und wecken unglaublich Lust, die Produktion ein zweites Mal anzusehen. Während der Festwochen sind die kommenden Vorstellungen bereits ausverkauft. Für den Herbst sollten jedoch auch jetzt schon Karten gekauft werden, es gibt – sieht man sich die Buchungen im Internet an – nicht mehr allzu viele freie Plätze.
How goes the world
Auch in der Produktion „How goes the world“ greift Etchells auf Ersatzbausteine aus dem Theateralltag zurück. Allerdings arbeitet er dort mit zwei Männern und zwei Frauen, einem ausgeklügelten, wenngleich auch „arm“ wirkenden Bühnenbild, einem beinahe durchgehenden Soundlayer und einer großen Anzahl an Kostümwechseln. Wieder ist es die Beschäftigung mit dem Theaterspielen an sich, der Sinnhaftigkeit von Regieanweisungen, der Flexibilität des Ensembles, das auf immer neue Weise mit immer den gleichen auditiven Einspielungen zu kämpfen hat. In dieser Inszenierung jedoch verblüfft er auch mit Inhaltswechseln, allein ausgelöst durch veränderte Kostüme und veränderte Aufstellung der Darstellerinnen und Darsteller. Agieren sie zu Beginn wie in einem psychologisch tiefgründigen Kammerspiel, wechseln sie an einem Punkt zu einer Krimi-Farce, um bald darauf Tolstoi oder Tschechow anklingen zu lassen.
Immer wieder sind es slapstickhafte Einlagen, die Lacher provozieren. Ein Klavier, auf dem nicht wirklich gespielt wird, das einen dennoch zur Erschöpfung antreibt. Wilde Schusswechsel mit der sofortigen Auferstehung der gerade Hingemetzelten oder eine aberwitzige Kampfszene gegen unsichtbare Gegner. All das wird in einer Endlosschleife mit jeweils leicht veränderten Parametern immer und immer wieder vorgeführt. Es ist ein Leichtes, sich den Probenspaß vorzustellen, auch jene Momente, die von den Schauspielerinnen und Schauspielern durch eigene Kreativität beigesteuert wurden. Es ist aber genauso schwer vorstellbar, wie groß die körperliche und geistige Herausforderung ist, die bei dieser Vorstellung auf der Bühne zu bewerkstelligen ist.
Durch eine Zunahme des Tempos gegen Ende des Stückes und Handlungen, die nicht zueinanderpassen, wird das Geschehen ins derart Absurde gesteigert, dass es kein Verstehen mehr geben kann, sondern eigenen Assoziationen und Interpretationen Tür und Tor geöffnet erscheint. Anders als bei „Die Rechnung“ konfrontiert Etchells sein Publikum mit einem absoluten Overflow an gleichzeitigen und wiederkehrenden Ereignissen, sodass letztlich aus dem Theaterspaß ein Ernst zu werden droht. Auch hier arbeitet Etchells abermals mit einem Erwartungsbruch; lässt er doch Neil Callaghan zum Schluss aus seiner Rolle fallen und im Vorhinein in einem fiktiven Telefongespräch erklären, dass das Stück gleich zu Ende sei. Dass er diese Szene dann abermals spielt und damit wieder einen Turnaround einleitet, ist typisch für Tim Etchells Volten.
Wieder sind es unglaublich tolle, schauspielerische Leistungen, die dargeboten werden und das über lange Strecken völlig ohne Text. Aurélie Alessandroni, der schon erwähnte Neil Callaghan, Aurélie Lannoy und John Rowley performen bis zur völligen Verausgabung und erhielten vom Publikum in der Halle G im MuseumsQuartier bei der Premiere ausgiebige Ovationen.