Musik als Erinnerungsmomentum und als Trauerverarbeitung
04. Juni 2024
Auf Einladung der Wiener Festwochen dirigierte Oksana Lyniv im ausverkauften, großen Saal des Konzerthauses zwei Stücke mit historischem, leider aber auch aktuellem Bezug.
Michaela Preiner
Foto: (Oliver Wolf)

Vorgeschichte

Kaddish Requiem ‚Babyn Yar‘, so der Titel des Abends vereinte am 2. Juni sowohl das titelgebende Werk des ukrainischen Komponisten Jevhen Stankovych als auch die Uraufführung der für diesen Abend komponierten „Todesfuge“ von Evgeni Orkin. Zu dieser wohlüberlegten und passenden Kombination kam es, da die Wiener Festwochen ursprünglich auch Teodor Currentzis mit dem SWR-Symphonieorchester eingeladen hatten, um Benjamin Brittens „War Requiem“ zu intonieren. Der Dirigent, der sowohl einen griechischen als auch einen russischen Pass besitzt, hat sich bislang nicht zum Ukraine-Krieg geäußert oder distanziert, was Lyniv dazu veranlasste, von dem Doppelabend mit zwei großen Orchestern Abstand nehmen zu wollen.

Milo Rau, Festwochenintendant, zog daraufhin die Reißleine. „Wir respektieren Lynivs Wunsch, aktuell nicht in einen inhaltlichen Kontext mit Currentzis gestellt zu werden. Leider war dadurch unsere Entscheidung für die Absage des geplanten Konzerts unter dem Dirigat von Teodor Currentzis, den wir als Künstler sehr schätzen, alternativlos“, war sein Kommentar nach der Entscheidung, Currentzis wieder auszuladen. Er und sein Team mussten erkennen, dass die Musik nicht imstande ist, tiefe Feindesgräben, die aktuelle Brisanz aufweisen, zu befrieden.

„Todesfuge“ für Violine, Sprecher und Orchester

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„Todesfuge“ für Violine, Sprecher und Orchester (Foto ECN)

Die Neuaufstellung des Konzerts bot jedoch Gelegenheit, konzeptionell eine Auftragsarbeit an einen weiteren ukrainischen Komponisten zu vergeben. Evgeni Orkin, seines Zeichens auch Klarinettist, vertonte Paul Celans Gedicht „Todesfuge“ für Violine, Sprecher und Orchester und lieferte damit ein beeindruckendes Werk ab. Man sollte Oksana Lyniv für ihre Standhaftigkeit danken, die es ermöglichte, diese neue Arbeit eines ukrainischen Komponisten vor einem großen Publikum in Wien zur Aufführung zu bringen.

Das Werk beginnt mit einer über Lautsprecher eingespielten Aufnahme, in welcher man auditiv an einer Radiosender-Suchaktion teilnimmt. Das rasch hörbare Rauschen, all jenen gut bekannt, die am Radio noch händisch Sender suchten, wird abgelöst von kurzen Sprachfetzen und musikalischen Einsprengseln, unter anderem dem Motiv des Schlagers „Heimat, deine Sterne“ aus dem Jahr 1941. Mit dieser einfachen Idee schafft es der Komponist, die Zuhörenden zurück in jene Zeit zu versetzen, in welcher der Nationalsozialismus in Europa wütete und Millionen Menschen in Konzentrationslagern umbrachte. In seiner darauffolgenden Orchestrierung schuf Orkin sehr direkt und gut verständlich die Gegenüberstellung zweier Welten, die in diesen Lagern aufeinandertrafen. Zum einen lebten dort NS-Schergen, die abends, nach ihrem menschenverachtenden Tagwerk, im warmen Haus ihren Feierabend genossen und dabei an ihre Heimat und sentimental an ihre Freundinnen und Frauen dachten. Zum anderen wird in der Komposition auch das Grauen der Inhaftierten hörbar, die selbst ihr Grab schaufeln und vor ihrer Hinrichtung auch noch musizieren mussten. Der Komponist wählte die Melodie des Heimat-Sternen-Schlagers symphonisch aufgemöbelt, als immer wieder erklingendes Thema. Die Idee, sowohl einen NS-Offizier im Text Paul Celans hörbar werden zu lassen als auch die Ausführungen der Häftlinge, die ihre Not mit lyrischen Metaphern umschreiben, setzte Philip Kelz als Erzähler eindringlich um. Er verstand es, die antipodischen Gefühlsmomente, die Celan kunstvoll einfing, höchst lebendig werden zu lassen. Gegen Ende des Werkes wurde Celans eigene Interpretation seiner Todesfuge eingespielt und durch einen musikalischen Schwebezustand untermalt.

Der Komponist verwendete eine ganze Reihe von Stilmitteln, welche das Leben in einem Konzentrationslager nachempfinden lassen. Romantisch klingende Takte, die von Pfeiftönen abgelöst wurden, um das Kommando an einen Hund zu verdeutlichen, waren zu hören. Aber auch das Klagen der Klarinette, Klezmer-Klänge oder eine Stelle, an welcher man lautes und schweres Atmen der Instrumente vernehmen konnte. Zusammen ergab dies einen eigenen, lebendigen Organismus, der mehr als nur komponierte Klänge und deren Strukturen ausstrahlte.

Ein dramaturgischer Kniff am Ende des Stückes, ließ die körperlichen Misshandlungen an den Menschen im KZ nicht nur hör-, sondern auch sichtbar werden. Kelz zerrte dabei so stark an seinem Hemdkragen, dass er diesen dabei zerriss. Auditiv verstärkt, hinterließ diese Aktion einen Nachhall des Entsetzens ob der Brutalität, die in den Konzentrationslagern verübt wurde. „Todesfuge“ für Violine, Sprecher und Orchester von Evgeni Orkin erwies sich mehr als eine Komposition für den Konzertsaal. Er schuf damit die Möglichkeit, sich an das, was man selbst nicht gesehen hat, zu erinnern und diese Erinnerung mit mehreren Sinnen wahrzunehmen.

Chapeau nicht nur an den Komponisten, sondern alle Mitwirkenden.
Unter Oksana Lyniv agierte an diesem Abend das von ihr gegründete YsOU Young symphony Orchestra of Ukraine, sowie im zweiten Werk von Jevhen Stankovych das Kyiv Symphony Orchestra und „The National Choir of Ukraine“, ‚Dumka‘.

Das Kaddish Requiem ‚Babyn Jar‘

Der Tenor Alexander Schulz und der Bassbariton Viktor Shevchenko begleiteten, ebenso wie Philip Kelz, das Kaddish Requiem ‚Babyn Jar‘, für das die Sängerinnen und Sänger des Chores aus der Ukraine angereist waren. Die Damen traten in langen, weißen Kleidern auf, die Assoziationen mit weißer Bestattungsgarderobe aufkommen ließen.

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Foto ECN

1941 wurde in Kyiv an mehr als 33.000 jüdischen Menschen ein grausames Massaker verübt. Im Tal ‚Babyn Yar‘ metzelten deutsche NS- und Polizeieinheiten der Stadt die zusammengetriebenen Menschen grausam hin und verscharrten, bzw. verbrannten sie später, um keine Spuren zu hinterlassen. Die Verantwortlichen dieser beispiellosen Tat wurden aus verschiedenen Gründen nie zur Rechenschaft gezogen. Ein Erinnern daran war bis zum Fall der Kommunismus nicht möglich. Stankovych gelang mit seiner Komposition ein musikalisch ephemeres, dennoch die Zeit überdauerndes Werk, in welchem die Getöteten eine Stimme bekommen. Die siebensätzige Komposition ist mit einem Text von Dmytro Pawlytschko versehen. Darin wird nicht nur über die bestialische Tat erzählt. An einer Stelle, von Kelz gesprochen, kommt es zu einer Gottesanklage, in der es heißt: „Bedaure nicht unser Schicksal, bedaure nicht die menschliche Schande – selbst bedaure Dich, Herr!“ Damit spricht das menschliche Geschlecht keinen Gotteszweifel aus, sondern klagt ihn selbst ob seiner unvollkommenen Schöpfung an. Ein Gedankengang, der einzigartig zu sein scheint und der in dem Text zwischen unterwürfigen Gebeten und Frohlockungen der ewigen Ruhe eingebettet zu finden ist. Dass Kelz im zuvor von ihm zerschlissenen Hemd auftritt, verschränkt die beiden Werke in ihrer Idee, das Leid der Menschen nicht nur hör-, sondern zumindest in übertragener Weise auch sichtbar zu machen.

Eine absteigende, atonale Folge aus 10 Tönen bildet das Leitmotiv, das sich in verschiedenen Sätzen und unterschiedlichen Instrumentationen wiederfindet. Schleppend wandert es zu Beginn von den Streichern in die Bläser und erwartet bald einen süßen, lang anhaltenden Choreinsatz. Oft werden solche Phänomene nicht geboten, denn das, was der Chor besingt, hat nichts mit einer Lieblichkeit zu tun. Wie schon in der zuvor erklungenen Todesfuge verwendet auch Stankovych eine Klarinette, um mit ihr das Klagelied einzuleiten. Hörbar ist über weite Passagen auch ein leises, rhythmisches Paukenschlagen, ähnlich dem Takt eines Herzens. Bald wechseln laute Klangballungen mit leisen Passagen ab, dann wieder verfällt der Chor in einen rhythmisch akzentuierten Sprechgesang, der durch alle Stimmenregister wandert. Der Komponist versteht die menschlichen Stimmen nicht als Ergänzung der Instrumente, sondern als Erweiterung der musikalischen Ausdrucksmöglichkeiten des Orchesters, diesem ebenbürtig. Oksana Lyniv dirigiert mit vollem Körpereinsatz. Weit ausladende Gesten wechseln mit zarten ab, präzise angezeigte Einsätze geben den Orchestermitgliedern Sicherheit, gerade mit einer Partitur wie dieser, die bislang nicht oft gespielt wurde.

Ein weiteres Charakteristikum des Werkes ist ein verstärkter und vergrößerter Schlagwerkeinsatz. Dabei werden die Saiten des Klaviers genauso rhythmisch bearbeitet wie Glockenstäbe, Xylofone oder ein Gong. In einer dramatischen Szene hat der Tenor Schulz eine lange, intensive Passage zu bewerkstelligen, die ihm Kraft und Ausdauer abverlangt und von hoher Dramatik kündet. Shevchenkos Baritonlage ist häufiger im ruhigen Erzählmodus anzutreffen, immer jedoch mit einer beeindruckenden Fülle ausgestattet, die sowohl dem großen Orchester als auch dem Chor bestens standhält.

Kaddisch Requiem ‚Babyn Jar‘ wurde vom Publikum, in dem viele Ukrainerinnen und Ukrainern waren, intensiv gefeiert. Es wird als Erinnerungsmomentum nicht nur in die ukrainische Musikliteratur eingehen, sondern im besten Fall auch in jene von Resteuropa.

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