Der Tod dankt ab

Der Tod dankt ab

Es ist kalt an diesem Abend. Am Kaserneneingang, der geöffnet ist, steht ein junger Soldat, die Hände an seinem umgehängten Gewehr und begrüßt die Menschen, die das Gelände betreten. Dunkel ist es schon und doch kann man die großen, flachen Gebäude wahrnehmen, die sich rechts und links des weitläufigen Exerzierplatzes erstrecken. Für die Soldatinnen und Soldaten, die hier Dienst tun, und die höheren Chargen mag dieses Surrounding alltäglich sein. Für die Opernbesucherinnen und -besucher, die in dieser Nacht in die Sporthalle der Maria Theresien Kaserne in Wien strömen ganz und gar nicht. Im Wissen, dass man den „Kaiser von Atlantis“ sehen wird, eine Kurzoper von Viktor Ullmann, die dieser 1943 im Lager Theresienstadt schrieb, kommen gerade bei diesem kurzen Fußmarsch über das Kasernengelände besondere Gefühle auf. Die schrecklichen Erlebnisse all jener Menschen, die während der Nazizeit in Konzentrationslager deportiert wurden, erhalten plötzlich eine selbst gefühlte Komponente – obwohl an diesem Ort und an diesem Abend niemand bedroht wird. Auch wenn diese Emotion hauptsächlich von einer unbestimmten Sentimentalität gespeist wird, ist sie doch real und bewirkt, dass die Gedanken einer wahren Flut von Impressionen ausgeliefert werden, die man nicht verdrängen kann. Markus Kupferblums Inszenierung beginnt weit vor dem ersten gespielten Ton.

Die Inszenierung der Oper hat der Theatermacher aus New York nach Wien geholt. Dort wurde sie 2012 von der Modern Opera produziert. Der Aufführungsort in Wien hat mit dieser Oper, die Kupferblum als eines der zentralen sogenannten „entarteten Werke“ bezeichnet, Premiere, wurde doch die Sporthalle noch nie für eine kulturelle öffentliche Veranstaltung genutzt. Die Kaserne selbst, deren Baubeginn noch unter der Dollfußära stand, beherbergte unter den Nazis das SS-Panzergrenadier-Regiment „Der Führer“. Ein geschichtsträchtiger Ort also, dem es schon längst anstand, durch eine Veranstaltung wie dieser Opernaufführung auf sich aufmerksam zu machen.

„Der Kaiser von Atlantis“ oder in seinem Untertitel “Der Tod dankt ab“ sollte in Theresienstadt mit einer Besetzung von dortigen Inhaftierten zur Aufführung gelangen, wozu es allerdings nie kam. Obwohl Ullmann mit seinem Librettisten Peter Kien die Oper mehrfach überarbeitete, waren die Anspielungen auf das Hitler-Regime zu deutlich. Die Beteiligten wurden kurz nach Fertigstellung der letzten Fassung in andere Lager wie Auschwitz deportiert, wo sie – bis auf wenige Überlebende – den Tod fanden. Jenen mächtigen Gesellen, den Ullmann und Klien in ihrem Werk eine Erlöserfunktion zudachten. In ihrer Oper ist er nicht der, der gefürchtet werden muss, sondern der, der die Menschen von ihrem Leid erlöst. Die Grausamkeit hingegen wird vom „Kaiser von Overall“ personifiziert – eine direkte Anspielung auf Hitler, die – und das macht die Zeitlosigkeit dieses Werkes aus – auf alle menschenverachtenden Diktatoren übertragen werden kann. Besetzt ist diese Rolle in Wien mit dem herausragenden, furios-grandiosen Vince Vincent, der nicht nur stimmlich brilliert, sondern vor allem schauspielerisch mit seinen todbringenden, funkelnden Augen alle Facetten eines grausamen Machtmenschen zeigt. Dass er die absolute Idealbesetzung für diese Rolle ist, kann auch daran erkannt werden, dass er nicht nur in dieser Produktion den Kaiser singt. Sein Gegenspieler, der Tod, wird von Joseph Beutel gesungen, dessen klarer und verständlicher Bassbariton in dieser Interpretation weniger Furcht als Mitleid evoziert. Die Inszenierung lebt einerseits von den großartigen stimmlichen Leistungen aller – wobei Gan-ya Ben-gur Akselrod als junges Mädchen „Bubikopf“ besonders hervorgehoben werden muss. Zu Recht gewann sie in diesem Jahr den Hilde Zadek Wettbewerb. Das Theater an der Wien beherbergt mit dieser jungen Sängerin seit Kurzem einen wahren Schatz in seinem Ensemble. Andererseits ist es die Regie, gekoppelt mit äußerst klugen, effektvollen und Augenfutter bietenden Kostümen (Angela Huff), die beeindruckt. Ohne aufwändige Bühneninstallationen, nur mit wenigen Requisiten wie einem übergroßem Stuhl für den Kaiser, dessen Beine in der Luft baumeln müssen, wenn er darauf sitzt, einem Rahmen, aus dem Elspeth Davis als willfähriges Sprachrohr des Kaisers die Menschheit mit seinen Direktiven versorgt und einem überdimensionierten Goldprunkrahmen, der in der letzten Szene die Sängerinnen und Sänger hervorhebt, braucht es kaum mehr um das Spiel über Macht und Tod plausibel erklärbar zu machen.

Trotz seiner immanenten Tragik oder vielleicht gerade wegen ihr gelang Ullmann eine herausragende Musikinterpretation. Selbst Schüler von Schönberg, der das Werk nicht sonderlich schätzte, griff er dabei tief in den Fundus der Musikgeschichte um Zitate von Haydn, Richard Strauss, Mahler, Dvorak oder Reichardt aufs Feinste in seine eigene musikalische Sprache einzubauen. Eigentlich ist die Stunde zu kurz, um von diesem musikalischen Genuss genug zu bekommen, was vor allem auch an der herausragenden Interpretation des Klangforum Wien liegt, das von Rossen Gergov geleitet wird. Die feine Untermalung der Todes-Arien mit dem Cembalo unterstreicht seinen Hinweis, dass seine Arbeit in den historischen Kriegen nicht mit jener zu vergleichen ist, in der Maschinen das Kriegshandwerk dominieren. Die besondere musikalische Sprache, in welcher sich der Kaiser ausdrückt, kann am besten durch das Attribut „erhaben“ gekennzeichnet werden. Die Liebesbekundungen von Bubikopf und dem Soldaten (James Baumgardner mit schlankem Tenor) und die gemeinsame Schlussarie wiederum sind in hörbarer tonaler Schönheit verfasst, die dennoch keinen letztgültigen Trost spenden können. Zu sehr verweist der Kaiser in seinen letzten Äußerungen auf die Ewigkeit der kommenden Kriege. Kelvin Chan als vermeintlich unbeteiligter Lautsprecher, der jedoch unter dem Despoten plötzlich selbst in Bedrängnis gerät und Brian Downen als Harlekin, der das pralle lustvolle Leben nicht mehr lebenswert findet – vervollkommnen ebenso aufs Perfekteste das bemerkenswerte Ensemble.

Die Kälte, die im Laufe des Abends spürbar wurde, war nicht als sinnliche Publikumserfahrung eingebaut, sondern der schweren Heizbarkeit der Halle geschuldet. Rudolf Gelbard, einer der letzten Überlebenden von Theresienstadt, machte am Premierenabend in seiner Einführung deutlich, dass es die Aufgabe der Überlebenden sei, die Verbrechen, unter denen sie gelitten haben, nicht vergessen zu lassen. Das ist aber nur die eine Seite, unter der die Produktion „Der Kaiser von Atlantis“ heute betrachtet werden kann. Die andere ist die unausgesprochene Mahnung an unsere Generationen achtsam zu sein, sowie das Sichtbarmachen von Machtmechanismen die auch heute wieder wie eh und je funktionieren, um Menschen auszugrenzen und ihnen für den eigenen vermeintlichen Vorteil Leid zuzufügen. Bedenkt man die starken nationalistischen Strömungen, die derzeit weltweit wieder großen Zulauf finden, kann man ob der Weitsicht von Ullmann und Kien erschrecken. Sind seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges doch erst 68 Jahre vergangen. Eine Zeit, in der offenbar viele vergessen haben, dass Hass und Terror nur dasselbe gebiert – ein friedliches Miteinander politisch heute aber anders aussehen müsste.

Ein rosaroter Filmhimmel mit schwarzen Geschichtswolken

Ein rosaroter Filmhimmel mit schwarzen Geschichtswolken

Zensur! Die Drei von der Tankstelle.

Zensur! Die drei von der Tankstelle präsentierten die Schlüterwerke im Brick-5 (Foto: Schlüterwerke)

Zensur! Die drei von der Tankstelle präsentierten die Schlüterwerke im Brick-5 (Foto: Schlüterwerke)

Der Begriff Impresario – so möchte man meinen – ist für die heutige Zeit nicht mehr passend. Wikipedia bezeichnet damit „insbesondere im 17. bis 19. Jahrhundert den Leiter (unter Umständen auch Besitzer) eines Opernhauses oder Theaters bzw. eines Opern- oder Theaterunternehmens, vergleichbar mit einem heutigen Intendanten oder Theaterproduzenten. Er war Geschäftsführer und damit verantwortlich für die Finanzen, die wirtschaftliche Auswertung und die Vermarktung der Produktion bzw. des Hauses.“ Und doch gibt es einen solchen derzeit in Wien, der Punkt für Punkt die angeführten Kriterien erfüllt. Markus Kupferblum, in der österreichischen Hauptstadt und darüber hinaus im deutschsprachigen Raum durch viele Inszenierungen kein Unbekannter, ist derzeit ein Impresario, wie er im Buche steht, denn er leitet die „Schlüterwerke“. Nach Eigendefinition sind diese „eine Produktionsstätte für zeitgenössische Projekte darstellender Kunst unter Einbeziehung sämtlicher denkbarer künstlerischer Ausdrucksformen mit dem Ziel, eine aktuelle Musiktheatersprache zu entwickeln.“

Von dieser – zugegebenermaßen etwas sperrigen Definition – sollte man sich jedoch keineswegs abschrecken lassen, denn dahinter verbirgt sich ein unglaublich lebendiges, berührendes und aufrüttelndes Theaterprojekt. Gerade im Oktober – wenige Wochen vor dem Jahrestag des Pogroms gegen die Juden am 9. November im Jahre 1938 – sind die Schlüterwerke hyperaktiv. Eine Produktion jagt die nächste, sodass man kaum mit dem Besuch dieser Veranstaltungen mithalten kann. Die Energie, die hier zum Einsatz kommt, ist atemberaubend und dem Grundgedanken des „Nicht-Vergessens“ geschuldet. Und so folgte als zweite Veranstaltung nach dem Abend „Sterne ohne Himmel“ ein Theaterereignis der ganz besonderen Art. „Zensur! Die Drei von der Tankstelle.“ betitelt sich eine Produktion unter der Regie von Mathias Spohr, welche das hochmusikalische Ensemble der Schlüterwerke zur Aufführung brachte.

Wer glaubt, dass es sich dabei um eine Theaterinszenierung des 1930 uraufgeführten Filmes handelt, irrt – zumindest teilweise. Denn so einfach machen es die Schlüterwerke ihrem Publikum nicht. Wie auch schon mit anderen Produktionen abermals zu Gast im Brick-5, wurde den Zuseherinnen und Zuseher ein immens vergnüglicher Einstieg in den Schwarz-Weiß-Film geboten, zu dem das Ensemble live die Tonspur intonierte. Da wurde gesungen, geredet und gepfiffen, da wurden allerhand Requisiten verwendet um Autos, klatschende Ohrfeigen und Benzin gurgelnde Zapfsäulen zu imitieren. Und das mit so einer Spielfreude und zugleich Perfektion, dass das Zusehen und das Zuhören eine wahre Lust bereitete. „Die Drei von der Tankstelle“ – dieser Film in dem unter anderen der später berühmt gewordene Heinz Rühmann und Lilian Harvey mitspielten, war eigentlich der erste Tonfilm, der in die Kinos kam, und dennoch ist es gerade die Live-Performance der MusikerInnen und SchauspielerInnen, die an diesem Abend so überaus reizvoll wirkte. „Ein Freund, ein guter Freund, das ist das Schönste, was es gibt auf der Welt“ – dieser Ohrwurm von Werner Richard Heymann bohrte sich von Beginn an in die Gehörgänge und bleibt dort wohl noch ein ganzes Weilchen sitzen. Dennoch nahm der Verlauf der Vorführung eine völlig unerwartete Wendung. Es war der Aufschrei einer der Musikerinnen, der den Film abrupt stoppte. Und in wenigen Augenblicken wandelte sich der vergnügliche Abend in eine finstere Vorahnung beziehungsweise in einen bitteren Nachgeschmack, der den Beginn der Judenverfolgung während der Nazizeit so präsent in den Saal holte, dass einem im Handumdrehen jegliche Beschwingtheit abhandenkam. Wie man denn bloß so einen Klamauk machen könne, wie man denn das Publikum unterhalten könne, wo doch vor der Türe das Grauen herrsche. Ihre Tante sei vor wenigen Tagen von Hitler Schergen abgeholt worden und nicht mehr wiedergekommen – so brach es plötzlich und ohne Vorwarnung aus einer der jungen Musikerinnen heraus – wie könne sie denn da noch so tun, als ob nichts geschehen wäre? Da war er nun – jener grabentiefe Bruch mit der Unterhaltung, der auch in den darauffolgenden Minuten aufrecht blieb, als sich das Ensemble dazu entschloss, für das Publikum, ungeachtet der politischen Vorgänge, weiterzumachen. Egal, welcher Klamauk nun über die Leinwand flimmerte, egal, welch weiterer Ohrwurm sich einzuschleichen versuchte, das Wissen um die Vergangenheit überschattete jede Freude an der Darbietung. 1937 war der Film, der auch als Vorreiter von Musicalproduktionen gilt, weil in ihm auch über lange Strecken gesungen und getanzt worden war, von der Zensur verboten worden. Und diese trat dann auch tatsächlich leibhaftig auf den Plan. Markus Kupferblum selbst unterbrach die Vorführung in Gestalt eines Nazis, der vom Fleck weg zwei Menschen von der Bühne holte weil diese, wie er sich ausdrückte „sicher Juden sind!“ So etwas würde er riechen, dafür hätte er ein Gespür. Die opportunistische Haltung von einem der Protagonisten mit der permanenten Beteuerung, dass er zum Mitmachen gezwungen worden wäre, zeigte eine jener vielfältigen Charakterfacetten auf, die Menschen imstande sind zu produzieren, um von einer Sekunde auf die andere die Fronten zu wechseln. Am Ende blieb eine leere Bühne mit visuellen Erklärungen zum Mitläufertum von Heinz Rühmann und dem Tod eines Filmkollegen, der als Jude ins Konzentrationslager geschickt worden war.

Béla Bufe, Ingala Fortagne, Florian Hackspiel, Andrea Köhler, Ulla Pilz und Julia Schranz brillierten in jedem einzelnen Bühnenmoment und gaben abermals ein kräftiges Lebenszeichen eines extrem homogenen Ensembles. Trotz ihrer hohen künstlerischen Qualität sind sich diese Damen und Herren nicht zu schade, nur um einen „Anerkennungslohn“ aufzutreten, denn bei den Aufführungen ist das Prinzip „pay as you can“ angesagt – und zusätzliche Einnahmequellen gibt es derzeit bei den Schlüterwerken nicht. Hochachtung – vor dieser Gesamtleistung.

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Brick 5
Schlüterwerke
Schlüterwerke bei European Cultural News

Sterne ohne Himmel

Sterne ohne Himmel

„Wir tragen die Vergangenheit in uns und übertragen sie auf unsere Kinder. Wenn wir sie totschweigen, nehmen wir den Nachfolgegenerationen die Möglichkeit, das Unbegreifliche kennenzulernen.“

Es gibt selten Theaterabende, welche die Grenze zur Realität so sprengen, dass man beim Vorstellungsende das Klatschen als inadäquate Geste empfindet. Nicht, weil die Protagonistinnen keine gute Leistung abgeliefert hätten, sondern weil die Betroffenheit so groß ist, dass man sie einfach nicht wegklatschen kann und auch nicht möchte. Ereignisse wie diese wiederholen sich nur alle paar Jahre einmal. Vorige Woche war dies jedoch in Wien zu erleben. Leider nur an vier Abenden. „Sterne ohne Himmel“ war der Titel der Produktion, eines Gastspieles des bolivianischen „Tariy Teatro“, welches von der jungen Schauspielerin Tanja Watoro erarbeitet und auf Einladung der „Schülterwerke“ im Brick5 gespielt wurde. Dass dieser Abend überhaupt zustande kam, ist nicht nur Markus Kupferblum, Spiritus rector der „Schlüterwerke“ zu verdanken, sondern auch Thomas Haffner, welcher der ehemaligen Maccabi Turnhalle neues, kulturelles Leben einhauchte und immer wieder alternativen Theaterprojekten dort Räume für Aufführungen anbietet.

Die Schlüterwerke präsentierten im Brick5

Das Theaterstück „Sterne ohne Himmel“ war im Brick 5 zu sehen. Markus Kupferblum von den Schlüterwerken brachte das Werk nach Wien. (Foto: Mario Våzquez)

Ihr „Spielalter“ gibt die Schauspielerin, die in Berlin ausgebildet wurde, auf ihrer Website mit 25 bis 33 Jahren an, was insofern von Bedeutung ist, als sie damit zugleich auch jene Generation benennt, die maßgeblich für die Entstehung dieses Stückes verantwortlich ist, das nach wahren Begebenheiten rekonstruiert wurde. Und doch ist diese Alterseinschränkung, was ihre Spielmöglichkeiten betrifft, völlig untertrieben.

Denn in „Sterne ohne Himmel“ verleiht Watoro gleich mehreren Figuren ganz verschiedenen Alters ihre Stimme und Ausdruckskraft. Ihrer Mutter, ihrem Großvater, dessen Frau und ihrer Urgroßmutter. Als Kind nicht wissend, jüdischer Abstammung zu sein, erfährt sie erst im dritten Lebensjahrzehnt durch insistierendes Fragen an die Mutter ihre wahre Familiengeschichte. Diese erzählt ihr, wie sie die Abholung ihrer Großmutter durch die Gestapo miterleben musste, wie ihr Vater als Zwangseingewiesener in Schloss Hartheim in Wien umkam, und lässt noch einmal das Gefühl aufleben, sich unsichtbar machen zu können das sie als Kind hatte. Was vielleicht im ersten Moment dabei noch kindlich romantisch klingen mag, war für sie jedoch pure Überlebensstrategie. Denn „sich unsichtbar machen“ war für ein jüdisches Kind zur Zeit des Nationalsozialismus im wahrsten Sinne des Wortes überlebensnotwendig und, wie zu erfahren war, zugleich auch „der ganze Stolz unserer Familie!“ Wie schrecklich, dass bei diesem Hinweis sofort auch die Erkenntnis mitschwingt, wie arm eine Familie sein musste, deren ganzer Stolz sich darauf begründete, sich unsichtbar machen zu können. Es blieb an diesem Abend aber bei Weitem nicht nur bei dieser einen bitteren Pille, welche das Publikum zu schlucken hatte. Watoro schlüpft für die unter die Haut gehenden Erzählungen in das kleine Mädchen, das ihre Mutter war, welches sich während der Luftangriffe in einem Kasten verkriecht und ihre Augen schließt, um von niemandem gesehen zu werden. Sie singt dazu Kinderlieder, in welchen in einfachen Worten die Verhaltensmaßregeln des richtigen und effektvollen Verschwindens wiedergegeben werden. Sie mimt ihren Großvater Ilan Morgenstern, wie er in Steinhof versucht, sich mit ausgestreckter Zunge über das Regime lächerlich zu machen, um ein kleines Stückchen menschlicher Würde zu behalten. Aber sie gibt auch seine letzten Momente wieder, in welchen er zusammengepfercht mit zig anderen nackten Menschen in der Gaskammer auf sein Ende warten muss. Was Watoro hier zeigt, ist große Schauspielkunst. So groß, dass das Grauen dieser unmenschlichen Zeit lebendig wird, das mit Worten unbeschreibbar ist. Die Verschleppung der „Omama“, deren Geruch sie in der alten Truhe immer wieder zu finden sucht, die der alten Dame gehörte, wird von ihr ebenso intensiv wiedergegeben wie die Erzählung ihrer Mutter, als Kind zu einer fremden Familie aufs Land in eine vermeintliche Sicherheit gebracht worden zu sein, um dort dann von einem Mann missbraucht zu werden, der sich an allen Kindern im Dorf verging.

Dass diese grauenhaften Erzählungen überhaupt publikumsgerecht aushaltbar werden, ist der unglaublichen Regie zu verdanken, an der nicht nur Watoro, sondern auch César Brie und Diego Aramburo beteiligt waren. Nicht umsonst gewann die Produktion den 1. Preis beim „Festival Iberoamericano de Teatro 2012 in Mar del Plataa in Argentinien sowohl für das beste Theaterstück als auch für die beste Regie. Es ist nicht nur Watoros Schauspielkunst, die sie befähigt, kleine Mädchen, alte Frauen und kranke Männer glaubhaft wiederzugeben, sondern auch eine wahrhaft poetische Bildsprache, die mit wenigen Requisiten unterschiedliche Räume und Stimmungen zaubert. Die nacheinander entzundenen Kerzen, die jeweils denTod eines Familienangehörigen markieren oder das große Schultertuch, welches der Schauspielerin ermöglicht, in einer einzigen Drehung in einen anderen Charakter zu schlüpfen, die mit grellem Rot beschmierte Handfläche, die körperliche Verletzungen aller Art markiert, nicht zuletzt aber eine gekonnte musikalische Regie, in welcher der Walzer „Wiener Blut“ eine neue inhaltliche Dimension erfährt, beleben das Geschehen weit über das Sichtbare hinaus. Und tatsächlich ist es das Understatement des Schreckens, welches eine Akzeptanz desselben erst ermöglicht. Gepaart mit ein paar Fünkchen typischen jüdischen Witzes, wie der Aussage von Großvater Ilan „eine wichtige Nummer geworden zu sein“ ist es vor allem das persönliche Empfinden und das subjektive Erleben, das so glaubhaft und berührend zugleich wiedergegeben wird, dass keinerlei Barrieren aufgebaut werden können, mithilfe derer man Abstand vom Gezeigten nehmen könnte.

„Sterne ohne Himmel“, das zu Beginn einer Reihe von Veranstaltungen der „Schlüterwerke“ steht, die anlässlich des Gedenkens an die Reichspogromnacht gezeigt werden, ist ein Stück über Unterdrückung und das danach einsetzende Vergessen, das sich jedoch als belastende Lebensmitgift für die darauffolgenden Generationen erweist. Aus diesem Erkennen heraus ist die Motivation von Tanja Watoro zu verstehen, die ihre Aufgabe wie bereits eingangs zitiert folgend formulierte: „Wir tragen die Vergangenheit in uns und übertragen sie auf unsere Kinder. Wenn wir sie totschweigen, nehmen wir den Nachfolgegenerationen die Möglichkeit, das Unbegreifliche kennenzulernen.“

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Die Nächsten Stücke der Schlüterwerke

Zensur! Die Drei von der Tankstelle
„Live-Synchronisation des Films von 1930, der 1937 von den Nazis verboten wurde, obwohl Heinz Rühmann mitspielte, der sehr gut mit Joseph Goebbels befreundet war. Mit diesem Projekt wollen wir eine sinnliche Erfahrung der Zensur vermitteln – in ihrer ganzen Brutalität und Vehemenz.“
Termine:; 10/11./12./13. Oktober, 20:00 Uhr im Brick 5, Fünfhausgasse 5, 1150 Wien.

Todesmut und Zivilcourage
Künstler und Diktatur – Intuition und Zwang – Poesie und Realität
Termin: 14. Oktober, 19:00 Uhr in Strenge Kammer/Porgy & Bess, Riemergasse 11, 1010 Wien

Der Kaiser von Atlantis
Anlässlich des Gedenkens der 75. Wiederkehr der Reichspogromnacht im November 1938 wird diese Oper gezeigt, die Viktor Ullmann im KZ Theresienstadt komponiert hat.
Termine: 30.11/2./3.12 in der Maria Theresienkaserne, Am Fasangarten 2, 1130 Wien

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Der lange Weg der Seele

Der lange Weg der Seele

Sechs dunkle Gestalten, gehüllt in schweres Tuch, an den Füßen geschnürte Stiefel, nehmen auf der Bühne ihren Platz ein. Es gibt kein Bühnenbild, das einen bestimmten Ort beschreibt, keine technisch aufwendige Projektion, die von den Schauspielerinnen ablenkt. Ihre Präsenz ist das Einzige, das zählt. Schauspiel pur ist angesagt. Theater, welches nicht nur die ProtagonistInnen, sondern auch das Publikum fordert. Durch ihren Auftritt machen sie klar, dass sie sich auf einem Marsch befinden. Dass sie einen Weg beschreiten, der ihnen aufgezwungen wurde und der definitiv ihr letzter sein wird. Abwechselnd werden sie an diesem Abend zu Wort kommen, ihre Träume, Wünsche, Hoffnungen aber auch ihre Ängste beschreiben in der sicheren Gewissheit ihres herannahenden Todes.

„Winterreise - Ein Gewaltmarsch“

„Winterreise – Ein Gewaltmarsch“ im Brick 5 in Wien (Foto: Markus Kupferblum)

Franz Schubert und Franz Liszt müssen nicht vorgestellt werden. Wilhelm Müller kennen meist nur eingefleischte Schubertfans. Er schrieb in seinem Todesjahr jene Verse, die der Komponist in seiner „Winterreise“ vertonte. Schnee und Eis versinnbildlichen darin jene Kälte, der Menschen ausgesetzt sind, wenn sie ihr Liebstes verloren haben. Miklós Radnóti, der dritte Ideengeber des Abends, ist über die Grenzen Ungarns so gut wie unbekannt. Sohn jüdischer Eltern, dessen Mutter und Zwillingsbruder schon bei seiner Geburt verstarben, hinterließ er nach seinem Tod, den er auf einem Gewaltmarsch mit jüdischen Mitgefangenen im November 1944 nahe der österreichischen Grenze erlitt, ein literarisches Werk, das trotz seines geringen Umfanges beeindruckt.

„Winterreise – Ein Gewaltmarsch“, so ist jene Produktion betitelt, die das „Ensemble Schlüterwerke“ an nur drei Abenden im Brick 5 in der Fünfhausgasse in Wien aufführt. Unter der Regie von Markus Kupferblum, dem Spiritus Rector des Ensembles, versetzen zwei Sängerinnen (Ingala Fortagne und Ulla Pilz), eine Tänzerin (Katharina Weinhuber), ein Schauspieler (Béla Bufe) und zwei Schauspielerinnen (Andrea Köhler und Stephanie Schmiderer) das Publikum bei über 30 Grad Sommertemperatur in besagte eisige Gefilde. Begleitet von der jungen Pianistin Donka Angatscheva, machen sie jene seelischen Nöte bildhaft, die im Februar 1943 über Hunderttausende von jungen Menschen hereinbrachen, die in Hitlers Russland-Feldzug nach Stalingrad geschickt worden waren. Von Miklós Radnóti sind es nur kurze Textpassagen, die in diesen Abend einfließen. Sie sind einem Notizbuch entnommen, das man nach seinem Tod in seiner Jackentasche fand. Darauf hatte der das Grauen festgehalten, das er erleben musste, und das er trotz Todesgefahr dennoch bereit war, anderen Menschen schriftlich mitzuteilen. In einem kleinen Epilog von ihm macht Ulla Pilz die Szenerie klar, in der sich dieser Abend abspielt. Lebende unter Sterbenden, sich auf den Tod vorbereitende, den Tod fürchtende, sich gegen ihn auflehnende oder ihn herbeisehnende junge Soldaten in schweren Stiefeln, schwarzen Overalls und dicken Wintermänteln bestimmen einzig und allein das Bild auf der Bühne. Über weite Strecken sind ihre Gesichter hinter großen, weißen Masken verborgen, die mit einem Ausdruck von tiefer Trauer ausgestattet sind. Nur wenn sie aus dieser anonymen Masse heraustreten und zu einem sprechenden, singenden oder tanzenden Individuum werden, legen sie diese ab.

Schuberts Musik, die teils in der Originalfassung, teils in der Bearbeitung von Franz Liszt einfühlsamst von Angatscheva gespielt wird, ist an diesem Abend jedoch nicht emotionaler Hauptträger. Vielmehr gelingt Kupferblum das Kunststück, Müllers Verse auf weite Strecken ohne Musikbegleitung in ihrer Schärfe, Prägnanz, und Hoffnungslosigkeit vorzuführen. Eine Dekonstruktion, welche die Verbindung zu jenem soldatischen Grauen erst ermöglicht, das vor 70 Jahren siebenhunderttausend Männern allein in den Kämpfen um Stalingrad das Leben gekostet hat. Kupferblums Herausarbeitung der unterschiedlichen Charaktere gelingt entlang der Müllerschen Textvorgaben dennoch erstaunlich präzise. Der Träumende, Aufbegehrende, der Traurige, Sehnsuchtsvolle oder Trotzige, sie alle sind im Text des deutschen Lyrikers klar angelegt. Die bekannte musikalische Fassung Schuberts, die sich in so mitreißenden Melodien ergeht, dass viele MusikliebhaberInnen die Winterreise leicht und flockig mitsingen können, deckt jedoch normalerweise Müllers Text völlig zu. Es ist aber nicht nur dieser geniale Regieschachzug, der den Abend zu einem Gelungenen werden lässt. Einen wesentlichen Anteil daran hat vor allem das gesamte Ensemble. Sowohl am Premierenvorabend als dann auch bei der eigentlichen Uraufführung musste es sich wegen der Hitze nicht nur künstlerischen, sondern auch extremen körperlichen Herausforderungen stellen. Dass sie diese meisterten, macht klar, auf welch hohem Niveau jeder und jede Einzelne von ihnen agiert.

Herauszuheben sind dabei vor allem die beiden Sängerinnen. Die zerbrechlich wirkende Ingala Fortagne beeindruckte dabei mit ihrem Mut, ihren Sopran nicht nur kraftvoll einzusetzen. Es war gerade die zarte Brüchigkeit ihrer Stimme in vielen Passagen, die unter die Haut ging, aber auch jener hoffnungslose Schrei, den sie an das Ende des Leiermannliedes setzte, der durch Mark und Bein ging. Als ihr gesanglicher Konterpart agierte Ulla Pilz, klug von der Besetzung ausgewählt. Ihr warmer Sopran harmonierte exzellent mit jenem von Fortagne und fügte dem auditiven Geschehen trotz derselben Stimmlage eine komplett andere Klangfarbe hinzu. Wer mag, liest dies als eine jener individualistischen Gesten, die als Hauptmotiv dieses Stückes gelten können und die Kupferblum in seiner Regie interessieren. Denn trotz all des namenlosen und zahlenmäßig nicht vorstellbaren Leids ist es das Einzelschicksal, das er in dieser Produktion in den Vordergrund stellt. Die inneren Monologe, denen sich das menschliche Individuum bis ans Ende seines Lebens immer und immer wieder ausgesetzt sieht und mit welchen es besonders in Krisensituationen zu kämpfen hat, sind es, die ihn faszinieren. Damit entkräftet er auch jeden Vorwurf, die Gräuel zu vernachlässigen, die von den deutschen Soldaten während dieses Feldzugs ausgingen. „Natürlich hat es dies alles gegeben“ erklärt er in einem kurzen Interview dazu. „Das möchte ich aber nicht in den Mittelpunkt des Geschehens setzen. Vielmehr ist es die Einsamkeit, in der jeder Mensch gefangen ist und die gerade dann spürbar wird, wenn man, obwohl von Tausenden umgeben, sich dennoch nicht adäquat mitteilen kann“.

Produktionen, die real erlebtes Leid und real erlittenen Tod künstlerisch umgewandelt auf die Bühne bringen, sehen sich meist vielerlei Angriffen ausgesetzt. Eines der Hauptargumente dabei ist, dass Kunst niemals das reale Geschehen wiedergeben kann, schlimmer noch, dieses für seine eigenen Zwecke nur missbraucht. Das stimmt uneingeschränkt. Und dennoch haben Vorstellungen wie diese ihre Berechtigung – ja mehr noch – sind unabdingbar. Sie erinnern nicht nur an schier unzählbare Opfer, sondern sie verweisen zugleich in unbestimmt Zukünftiges, das von uns noch gestaltet werden kann und für das wir selbst die Verantwortung zu übernehmen haben. Dass dabei gerade jetzt auch eine ungarische Stimme dazu beiträgt, mag zwar Zufall sein, sollte jedoch auch dazu führen, die aktuelle Lage in unserem Nachbarland beständig zu verfolgen und Menschen, die unserer Hilfe bedürfen, im gegebenen Fall nicht gleichgültig gegenüberzustehen. Eine ausgestreckte Hand oder auch eine Wortmeldung, in der der Wert jedes einzelnen Humanums explizit betont wird, kann Wunder wirken.

Die schwarzen Gestalten machen sich am Ende des Stückes daran, die Bühne wieder zu verlassen. Langsamen Schrittes sind sie dabei, den Weg nach draußen zu beschreiten. „Der lange Weg der Seele“, wie die charakterliche Reifung eines Menschen zuvor lyrisch ausgedrückt wurde, scheint beschritten. Umso mehr schmerzt das abrupte Ende im vollkommenen Dunkel, in dem nicht einmal mehr ein Herzschlag zu hören ist, denn es gibt kein Herz mehr, das schlägt. Für einen kurzen Moment ist man auf sich selbst zurückgeworfen und im Dunkel ganz alleine mit sich, seinem eigenen inneren Dialog und seinem Unbehagen. Dann endlich setzt er ein, der wohlverdiente und lang anhaltende Schlussapplaus, nach welchem man zurück in die tröstenden und ableckenden Arme der „Besuchermasse“ kehren darf.

Links:
Schlüterwerke
Brick5
Miklós Radnóti

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Das Ensemble Schlüterwerke spielt nach dem Prinzip „pay as you can“, da ihm keinerlei öffentliche finanzielle Mittel genehmigt wurden. Die künstlerische Eiszeit, hervorgerufen durch rigide Sparmaßnahmen, ist in Österreich angekommen. Ich habe vor einigen Jahren diesbezüglich schon einen Text geschrieben. Eine Brandschrift wider Kürzungen in den Kulturbudgets
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