„Wir tragen die Vergangenheit in uns und übertragen sie auf unsere Kinder. Wenn wir sie totschweigen, nehmen wir den Nachfolgegenerationen die Möglichkeit, das Unbegreifliche kennenzulernen.“
Es gibt selten Theaterabende, welche die Grenze zur Realität so sprengen, dass man beim Vorstellungsende das Klatschen als inadäquate Geste empfindet. Nicht, weil die Protagonistinnen keine gute Leistung abgeliefert hätten, sondern weil die Betroffenheit so groß ist, dass man sie einfach nicht wegklatschen kann und auch nicht möchte. Ereignisse wie diese wiederholen sich nur alle paar Jahre einmal. Vorige Woche war dies jedoch in Wien zu erleben. Leider nur an vier Abenden. „Sterne ohne Himmel“ war der Titel der Produktion, eines Gastspieles des bolivianischen „Tariy Teatro“, welches von der jungen Schauspielerin Tanja Watoro erarbeitet und auf Einladung der „Schülterwerke“ im Brick5 gespielt wurde. Dass dieser Abend überhaupt zustande kam, ist nicht nur Markus Kupferblum, Spiritus rector der „Schlüterwerke“ zu verdanken, sondern auch Thomas Haffner, welcher der ehemaligen Maccabi Turnhalle neues, kulturelles Leben einhauchte und immer wieder alternativen Theaterprojekten dort Räume für Aufführungen anbietet.
Ihr „Spielalter“ gibt die Schauspielerin, die in Berlin ausgebildet wurde, auf ihrer Website mit 25 bis 33 Jahren an, was insofern von Bedeutung ist, als sie damit zugleich auch jene Generation benennt, die maßgeblich für die Entstehung dieses Stückes verantwortlich ist, das nach wahren Begebenheiten rekonstruiert wurde. Und doch ist diese Alterseinschränkung, was ihre Spielmöglichkeiten betrifft, völlig untertrieben.
Denn in „Sterne ohne Himmel“ verleiht Watoro gleich mehreren Figuren ganz verschiedenen Alters ihre Stimme und Ausdruckskraft. Ihrer Mutter, ihrem Großvater, dessen Frau und ihrer Urgroßmutter. Als Kind nicht wissend, jüdischer Abstammung zu sein, erfährt sie erst im dritten Lebensjahrzehnt durch insistierendes Fragen an die Mutter ihre wahre Familiengeschichte. Diese erzählt ihr, wie sie die Abholung ihrer Großmutter durch die Gestapo miterleben musste, wie ihr Vater als Zwangseingewiesener in Schloss Hartheim in Wien umkam, und lässt noch einmal das Gefühl aufleben, sich unsichtbar machen zu können das sie als Kind hatte. Was vielleicht im ersten Moment dabei noch kindlich romantisch klingen mag, war für sie jedoch pure Überlebensstrategie. Denn „sich unsichtbar machen“ war für ein jüdisches Kind zur Zeit des Nationalsozialismus im wahrsten Sinne des Wortes überlebensnotwendig und, wie zu erfahren war, zugleich auch „der ganze Stolz unserer Familie!“ Wie schrecklich, dass bei diesem Hinweis sofort auch die Erkenntnis mitschwingt, wie arm eine Familie sein musste, deren ganzer Stolz sich darauf begründete, sich unsichtbar machen zu können. Es blieb an diesem Abend aber bei Weitem nicht nur bei dieser einen bitteren Pille, welche das Publikum zu schlucken hatte. Watoro schlüpft für die unter die Haut gehenden Erzählungen in das kleine Mädchen, das ihre Mutter war, welches sich während der Luftangriffe in einem Kasten verkriecht und ihre Augen schließt, um von niemandem gesehen zu werden. Sie singt dazu Kinderlieder, in welchen in einfachen Worten die Verhaltensmaßregeln des richtigen und effektvollen Verschwindens wiedergegeben werden. Sie mimt ihren Großvater Ilan Morgenstern, wie er in Steinhof versucht, sich mit ausgestreckter Zunge über das Regime lächerlich zu machen, um ein kleines Stückchen menschlicher Würde zu behalten. Aber sie gibt auch seine letzten Momente wieder, in welchen er zusammengepfercht mit zig anderen nackten Menschen in der Gaskammer auf sein Ende warten muss. Was Watoro hier zeigt, ist große Schauspielkunst. So groß, dass das Grauen dieser unmenschlichen Zeit lebendig wird, das mit Worten unbeschreibbar ist. Die Verschleppung der „Omama“, deren Geruch sie in der alten Truhe immer wieder zu finden sucht, die der alten Dame gehörte, wird von ihr ebenso intensiv wiedergegeben wie die Erzählung ihrer Mutter, als Kind zu einer fremden Familie aufs Land in eine vermeintliche Sicherheit gebracht worden zu sein, um dort dann von einem Mann missbraucht zu werden, der sich an allen Kindern im Dorf verging.
Dass diese grauenhaften Erzählungen überhaupt publikumsgerecht aushaltbar werden, ist der unglaublichen Regie zu verdanken, an der nicht nur Watoro, sondern auch César Brie und Diego Aramburo beteiligt waren. Nicht umsonst gewann die Produktion den 1. Preis beim „Festival Iberoamericano de Teatro 2012 in Mar del Plataa in Argentinien sowohl für das beste Theaterstück als auch für die beste Regie. Es ist nicht nur Watoros Schauspielkunst, die sie befähigt, kleine Mädchen, alte Frauen und kranke Männer glaubhaft wiederzugeben, sondern auch eine wahrhaft poetische Bildsprache, die mit wenigen Requisiten unterschiedliche Räume und Stimmungen zaubert. Die nacheinander entzundenen Kerzen, die jeweils denTod eines Familienangehörigen markieren oder das große Schultertuch, welches der Schauspielerin ermöglicht, in einer einzigen Drehung in einen anderen Charakter zu schlüpfen, die mit grellem Rot beschmierte Handfläche, die körperliche Verletzungen aller Art markiert, nicht zuletzt aber eine gekonnte musikalische Regie, in welcher der Walzer „Wiener Blut“ eine neue inhaltliche Dimension erfährt, beleben das Geschehen weit über das Sichtbare hinaus. Und tatsächlich ist es das Understatement des Schreckens, welches eine Akzeptanz desselben erst ermöglicht. Gepaart mit ein paar Fünkchen typischen jüdischen Witzes, wie der Aussage von Großvater Ilan „eine wichtige Nummer geworden zu sein“ ist es vor allem das persönliche Empfinden und das subjektive Erleben, das so glaubhaft und berührend zugleich wiedergegeben wird, dass keinerlei Barrieren aufgebaut werden können, mithilfe derer man Abstand vom Gezeigten nehmen könnte.
„Sterne ohne Himmel“, das zu Beginn einer Reihe von Veranstaltungen der „Schlüterwerke“ steht, die anlässlich des Gedenkens an die Reichspogromnacht gezeigt werden, ist ein Stück über Unterdrückung und das danach einsetzende Vergessen, das sich jedoch als belastende Lebensmitgift für die darauffolgenden Generationen erweist. Aus diesem Erkennen heraus ist die Motivation von Tanja Watoro zu verstehen, die ihre Aufgabe wie bereits eingangs zitiert folgend formulierte: „Wir tragen die Vergangenheit in uns und übertragen sie auf unsere Kinder. Wenn wir sie totschweigen, nehmen wir den Nachfolgegenerationen die Möglichkeit, das Unbegreifliche kennenzulernen.“
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