Lydia Steier gastierte mit Händels Oratorium Jephta, uraufgeführt 2013 an der Potsdamer Winteroper, bei den Wiener Festwochen. Eine dramatische Uminterpretation mit einem grandiosen Ensemble und einem wunderbaren Orchester unter der Leitung von Konrad Junghänel.
Der Saal füllt sich, das Publikum sucht seine Sitze links und rechts in den Reihen auf, die seitlich eines mehreren Meter langen Katheders aufgestellt wurden. Ausgestattet ist er mit Büchern. Auf den mit grünem Samt bezogenen Schemeln davor nimmt eine Klasse Pubertierender Platz. Kurze Cordhosen für die Jungs, karierte Röcke für die Mädchen. Hemden und Pullunder mit dem Insignium J., daraus besteht ihre Schuluniform. Naturwissenschaftliche Präparate auf zwei Stellagen lassen auf eine Biologiestunde rückschließen. Das Foto eines Gehirns prangt über allem Mobiliar.
Lydia Steier, in Deutschland 2009 als Regieentdeckung des Jahres apostrophiert, versetzt die Szenerie von Georg Friedrich Händels Oratorium Jephta kühn in ein College ins England der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts. Zu erraten ist das Datum nur aufgrund der technischen Ausstattung, denn ein Overheadprojektor, der zum Einsatz kommt, erreichte in dieser Zeit, vor dem flächendeckenden Einsatz von PCs und Beamern, seine größte Verbreitung. Das Publikum ist von Beginn an Teil der Szenerie, nur eben nicht in der ersten Reihe platziert. Die ist besetzt von lärmenden und Schabernack treibenden Jugendlichen. Bis ein älterer Herr im Tweedanzug, mit Brille und Stock den Saal abschreitet und diesen in Augenschein nimmt. Ein Professor, das ist klar. Christian Ballhaus hat diese Rolle inne, der auch als Sprecher auf Deutsch das Geschehen, wenn es allzu undurchsichtig wird, erklärt. Händels Text wird im englischen Original gesungen. Ballhaus wird am Ende des Stücks auch als Psychologe, als personifiziertes Gewissen, als Geist, der sich gegen Verblendung und Gewalt auflehnt oder Über-Ich auftreten und dämonisch grinsen.
Ein Oratorium in einer zeitgenössischen Neuinterpretation
Steier, in den USA geboren und seit 2002 in Deutschland, stellt den Inhalt von Händels vorletztem Oratorium auf den Kopf, denn aus dem christlich konnotierten Werk wird ein profanes Lehrstück in Sachen Macht, Treue und Liebe. Bis kurz vor Ende deutet nicht viel darauf hin, dass die Regisseurin Gott als letzte moralische Instanz aus dem Geschehen verbannt. Und sie muss dafür den Schluss des Librettos von Thomas Morell aus dem 18. Jahrhundert auch zurechtbiegen. Zuvor verknüpft sie jedoch das alttestamentarische Geschehen um Jephta, den siegreichen Helden gegen die Ammoniter, gekonnt mit einer Seminarszenerie in einem alten Hörsaal. Sie lässt den Chor zu Beginn dem Helden zujubeln, ihn später anklagen und schließlich verdammen. Doch bis es soweit ist, zitiert sie in einem Bild den „Club der toten Dichter“, in dem Robin Williams einen charismatischen Lehrer spielte.
Storge, die Frau Jephtas und Mutter von Iphis, wird von der schwedischen Altistin Maria Streijffert gesungen. Ihr verwandtschaftliches Verhältnis zu ihrer Tochter zeigt sich durch dieselbe rote Haarmähne. Nach dem Schwur ihres Mannes, sollte er im Krieg siegreich sein, würde er den ersten, den er in seiner Heimat erblickt, opfern, hat sie eine Vision. In dieser taucht Iphis anstelle eines Skellettpräparates in einem gläsernen Kasten mit halb verbrannter Wange auf. Diese grausige Erscheinung wird letztlich nur noch von jener Szene getoppt, in der Jephta, seinem Schwur folgend, seine Tochter auf grauenhafte Art und Weise ermorden will. Seine inneren Kämpfe, sein Ringen um einen Ausweg hat er zu diesem Zeitpunkt bereits hinter sich gelassen. Der Tenor Lothar Odinius ist nicht nur stimmlich der schwierigen Partie gewachsen, sondern auch ein hervorragender Schauspieler. Dabei muss er sich auch in einigen Arien in der Baritonstimmlage bewähren und tut dies kongruent zu seinem seelischen Reifeprozess. So hell und klar er zu Beginn seine Stimme einsetzt um aufzuzeigen, wie siegessicher er in die Schlacht zieht, so dramatisch und voll wird sein Timbre als er von seinen Kriegsgräueln berichtet. Man glaubt ihm seine Zerrissenheit und spürt in jener Szene, in der alle um ihn herum um das Leben seiner Tochter betteln, wie er sich von Minute zu Minute einen größeren Panzer zulegt, um seinem Schwur treu bleiben zu können. Die exzellente Regie, die nicht nur mit einem großen, neuen Plot aufwartet, sondern auch die einzelnen psychologischen Komponenten der Figuren scharf herausarbeitet, unterstützt ihn dabei kräftig.
Zebul, Jephtas Bruder, wird bei Steier zum zweiten Lehrer, der das Geschehen weitaus weniger emotional begleitet. Raimund Noltes Bassbariton hat ein so wunderbares Timbre, dass man ihn gerne öfter hören möchte als es die Rolle ihm vorschreibt. Seine ungewöhnliche Biografie weist neben der erst späteren Gesangsausbildung auch ein Mathematik-, Schulmusik- und Violastudium aus.
Katja Stuber und Magid El-Bushra bezauberten in jedem Augenblick
Mit überschwänglichem Applaus zu Recht bedacht wurden Katja Stuber in der Rolle von Iphis und Magid El-Bushra, der die Countertenorrolle von Hamor, ihrem Bräutigam sang. Beide vereinen das, was von herausragenden Sängerinnen und Sängern heute verlangt wird: Brillante Stimmen, sowie die Fähigkeit, die Rollen schauspielerisch einwandfrei wiederzugeben. Man kann sie als Idealbesetzungen in dieser Inszenierung ansehen, denn es gelang ihnen, die Unverbrauchtheit der jugendlichen Seelen, ihr Aufbegehren gegen das von ihnen Erwartete und die Sehnsucht der ersten großen Liebe herausragend darzustellen. Stuber hat die seltene Fähigkeit, ihre Mimik innerhalb weniger Sekunden während des Singens den inhaltlichen Anforderungen anzupassen. Man meint, Gesang sei ihr natürliches, kommunikatives Ausdrucksmittel. Ihre Arie „Tis well tune the soft melodious lute“ in der sie den festlichen Empfang für ihren Vater zum Ausdruck bringt, gehört in Verbindung mit der zarten Flötenmelodie zum Schönsten, was dieses Oratorium musikalisch zu bieten hat. Magid El-Bushra meistert die Koloraturen in seinen Auftritten mit Leichtigkeit und zeigt auf, wie natürlich die Stimmlage eines Counternors empfunden werden kann, wenn das Setting, in diesem Fall die Verkörperung eines Jugendlichen, dazu passt.
Es sind neben der musikalischen Umsetzung die dramatischen Elemente, die in dieser Aufführung restlos überzeugen. Steier lässt das Kriegsgeschehen durch die auditive Einspielung eines Flugzeugangriffes mit Bombenabwurf hör- und fühlbar machen, so stark wirken die ausgelösten Schallwellen auf den Körper. Sie unterstreicht Jephtas Bitte, die Engel mögen seine Tochter sanft in den Himmel tragen, durch eine hauchzarte Projektion von ziehenden Wolken ätherisch schön und dehnt jene Szene, in welcher der Vater Hand an Iphis legt, um sie zu töten, schier unendlich. Obwohl man sich dessen bewusst ist, dass das Schreckliche nicht ausgeführt werden wird, möchte man doch gerne das Geschehen abkürzen. Zu grausam sind die Bilder, die hier gezeigt werden, zu emotional die Klagen durch Seufzen der Beteiligten, als dass man nicht davon betroffen wäre.
Steier bemüht die Orgel, um das Stück musikalisch zu dehnen
Die Neuinterpretation des Librettos setzt da an, wo Händel eigentlich das harmonische Ende vorbereitet. Jephta ist von der Offenbarung des Engels nicht überzeugt und glaubt an eine simple Verführung. Maria Skiba wird dazu von einem der beiden stummen Schergen, die zuvor als Schuldiener agierten, auf einem kleinen Wagen durch den Raum gefahren. In einer wilden Aktion zerrt der verzweifelte Vater das engelsgleiche Wesen zu ihm auf die Bühne und reißt ihm die Kleider und eine Perücke vom Leib. Tatsächlich kommt darunter ein Mädchen in Schuluniform zum Vorschein, Jephtas Bedenken haben sich bestätigt. Mehrmals noch stürzt er sich auf seine Tochter, um den Schwur zu vollenden. Ein Stück von einem Händel`schen Orgelkonzert wird dazu eingespielt, eingeppuzzelt, denn eine Partitur hierfür ist ja nicht vorhanden. Der Schluss, in dem, wie schon erwähnt, der Professor als Alter-Ego erscheint, wirkt zuweilen etwas lachhaft und an den Haaren herbeigezogen, dramaturgisch aber durchaus plausibel. Ein kleiner Vermouthstropfen, welcher der bis dahin schlüssigen Uminterpretation einen sanft-bitteren Beigeschmack hinzufügt. Das Gehirn als Sinnbild der Ratio, das über der Szenerie prangt, schreit nach seinem Recht und erhält es bei Steier auch.
Die direkte Nähe zum großartigen und überaus spielfreudigen Chor der Potsdamer Winteroper und den Sängerinnen und Sängern imitierte jene historische Aufführungspraxis, in der die Chöre ab der Renaissance in den Kirchen an unterschiedlichen Plätzen postiert waren. Dadurch wurde ein Dolby-Sourround-Effekt hervorgerufen, wie man dieses Klangphänomen verkürzt aber anschaulich zeitgeistig beschreiben kann. Im Gegensatz dazu war die Kammerakademie Potsdam unter der Leitung von Konrad Junghänel beinahe aus dem Geschehen ausgeblendet. Um die Musikerinnen und Musiker zu sehen, musste man sich von den Ereignissen bewusst abwenden. Vier kleine Bildschirme, hoch über den Köpfen des Publikums montiert, zeigten jedoch permanent den Dirigenten in Nahaufnahme.
Eine Inszenierung, die deutlich macht, dass konventionelle stilistische Mittel des Theaters wie unsichtbare Versenkungen, unerwartete Auftritte oder eine feine Lichtregie nach wie vor bestens funktionieren. Dennoch wirkt sie vor allem durch ihre intelligente Neuinterpretation äußerst zeitgeistig. Ein herausragendes Gastspiel, das die bisherige Programmierung der Wiener Festwochen ihrer Gastproduktionen positiv bestätigt. Schade nur, dass „Jephta“ in Wien nur zwei Mal aufgeführt wird. Die ausverkauften Vorstellungen deuten an, dass es auch mehr Publikum dafür gegeben hätte.
Achim Freyer, Salvatore Sciarrino und Emilio Pomàrico sind für den Erfolg der ersten Operninszenierung der Wiener Festwochen 2015 verantwortlich.
Ein 10minütiger Prolog vor dem Prolog. Achim Freyer scheut sich nicht, die von Salvatore Sciarrino komponierte Oper „Luci mie traditrici / Die tödliche Blume“ um einen Einschub vor dessen Prolog zu erweitern. Er tut dies auch im Titel mit dem vorangestellten Zusatz „Tag aus Nacht ein“, der gleich in mehrfacher Weise interpretiert werden kann. Nicht nur, dass bei Freyers Prolog längstens alle 15 Sekunden das Licht aus und kurz darauf wieder angeht. Das blutige Ende von Sciarrinos Werk markiert tatsächlich eine letztlich nie mehr endende Nacht für die Gräfin und ihren Liebhaber.
Die Wiener Festwochen eröffneten ihr Programm mit dieser zeitgenössischen Oper, die 1998 bei den Schwetzinger Festspielen uraufgeführt wurde, und verpflichtete dafür Achim Freyer, dessen einprägsame Bildsprache in Wien durch viele Burgtheateraufführungen bekannt ist.
Freyer präsentiert zu Beginn in einer Art Schnelldurchlauf das Geschehen, wohl nicht zuletzt, um einige Schauspielerinnen und Schauspieler des Freyer-Ensembles hier mit Rollen zu bedenken. Denn so bilderstark dieses Vorspiel auch ist, notwendig ist es nicht. Nicht, weil die Idee an und für sich nicht funktioniert, sondern vielmehr, weil der Regisseur und Bühnenbildner in Personalunion den gewagten und schwindelerregenden Kulissen, die danach folgen, eine Commedia dell´arte-Einführung voranstellt, die gegen das, was danach kommt, richtig zwergenhaft erscheint. Eine puppenhafte Zusammenfassung der Geschichte über Liebesschwüre, einen Treuebruch, einen Verrat und den anschließenden Doppelmord von Frau und Geliebtem. Auf einer schiefen Ebene kullern am Ende von Freyers Einschub schwarze Luftballone zu Boden.
La Malaspina droht abzustürzen
Anna Radziejewska als „La Malaspina“ beherrscht knappe 2 Stunden lang das Geschehen beinahe regungslos in luftiger Höhe. In rotem Tüll, mit überdimensionierten, nackten Brüsten behängt, fungiert sie anfänglich als Sinnbild von Wollust, Eros und weiblicher Verführungskunst. Im Laufe des Geschehens verliert sie das Rot und mutiert mit ihrer fahlen Hautfärbung zu einer gerade noch lebenden Leiche.
Anna Radziejewska als „La Malaspina“ (Foto: Monika Rittershaus)
Ihre Duette mit Otto Katzameier, der ihren Gatten singt, sind berückend schön, die beiden Stimmen fein aufeinander abgestimmt. Obwohl der Terminus Duett irreführend ist, denn Radziejewska und Katzameier singen in keinem Augenblick gemeinsam, sondern ausschließlich hintereinander.
Sciarrino schuf mit einem eingeschränkten Tonumfang und häufigen, nur geringfügig sich verändernden Wiederholungspassagen, über lange Strecken hinweg sehr einfühlsame, beinahe ätherische Klanggebilde, welche die seelischen Zustände von Graf und Gräfin wiedergeben. Die nicht enden wollenden Liebesschwüre kommen geflüstert, ja beschwörend und wiederholen sich zu einem späteren Zeitpunkt, nachdem der Treuebruch vollzogen wurde, noch einmal. Dann jedoch mit einer Art magischen Beschwörung, in der, ohne dass davon gesprochen wird, der Ehebruch in jeder Sekunde mitschwingt.
Es gibt nur zwei Stellen, an denen Katzameier seine Stimme erheben muss. Das erste Mal, wenn er vom Ehebruch durch den Diener (Simon Jaunin) erfährt. Hörbar betroffen klagt der betrogene Ehemann, dass es besser gewesen wäre, wenn er nichts davon erfahren hätte. Und ein zweites Mal, bevor er zur blutigen Tat schreitet. Hier verdichtet sich die sonst so sphärische und karge Musik zusehends.
Mit zwei rein instrumentalen Zwischenspielen, die bei Szenenwechseln eingesetzt werden, zeigt der Komponist, dass er nicht nur ein Meister der Minimalisierung ist. Hier werden auch Rückgriffe auf historische Vorbilder hörbar, die in jener Zeit angesiedelt sind, die für Sciarrino Ausgangspunkt des Geschehens war. Der Komponist Don Carlo Gesualdo ließ im 17. Jahrhundert seine Frau und ihren Freund ermorden. Anlass genug für Sciarrino, eine eigene Oper daraus zu komponieren. Sowohl das Libretto, als auch die Musik stammen von dem 1947 geborenen Italiener.
Kunstvoll, wie er dabei mit wenigen Worten große Zusammenhänge anklingen lässt. So zum Beispiel in der ersten Szene in welcher der Herzog ohnmächtig wird, weil sich seine Frau an einer Rosendorne gestochen hat, und er den Anblick ihres Blutstropfens nicht erträgt. Schon hier eröffnet sich jene Diskrepanz, die später Liebe und Gewalt nahtlos ineinander übergehen lässt.
Kunstvoll auch der Hinweis und die Aufforderung des Herzogs, neben Myrthenzweigen auch Zypressen in die Stickerei einzuarbeiten, mit der sich die Herzogin beschäftigt. Symbole der Liebe und des Todes, die sich in einem Kissen vereinen, das seine Frau für ihn von eigener Hand fertigt. Simon Jaunin hängt als verräterischer und eifersüchtiger Diener kopfüber hoch über dem Geschehen in weißem Harlekingewand. Sein blutrotes Pendant, Kai Wessel, taucht an der oberen der zwei schwebenden Ebenen immer nur am Rande auf. Er ist es, der die Herzogin verführen wird.
Die Distanz der Figuren ist hör- und sichtbar zugleich
Dennoch gibt es im gesamten Ablauf des Stückes keinen sichtbaren Körperkontakt. Ein Umstand, den auch Sciarrinos Musik durch eine gewisse Spröde und Distanz, die darin zu erkennen ist, wiederspiegelt. Der durch Balken gekennzeichnete Boden, auf dem sich der Herzog unsicher bewegt, vermittelt jene permanente Gefährdung, welche von dieser Liebesbeziehung ausgeht. Ein falscher Schritt und der Fall ins Bodenlose ist die Konsequenz. Mit dem Einsatz von Computer- und Videoeinspielung erweitert Freyer sein mediales Bühnenbildrepertoire. So fliegen zu Beginn Schmetterlinge quer über sie Szenerie im Garten. An jener Stelle, an der sich das Geschehen unheilsam verdichtet, sind es Schmeißfliegen.
Das Klangforum Wien unter der Leitung von Emilio Pomàrico liefert mit seiner Leistung einen abermaligen Beweis seiner unangefochtenen Klasse ab. Die instrumentale Begleitung der Stimmen erklingt beinahe durchscheinend, wenngleich auch glasklar, in keinem Moment aber überfrachtend. Der Dirigent trägt zu Beginn eine Maske seines eigenen Gesichtes auf seinem Hinterhaupt, sodass er während seiner Arbeit, obwohl vom Publikum abgewandt, beständig zu diesem lacht. Freyer verwendet für alle Figuren auf der Bühne Masken oder zumindest eine maskenhafte Schminke. Dadurch entstehen archteypische Charaktere, die weit über das Geschehen einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort hinweisen. Die komprimierte Geschichte in ihrer eindringlichen Visualisierung ergibt mit der Musik von Sciarrino eine poetische Einheit, in der sich die Handschrift aller beteiligten Kreativen sicht- und hörbar niederschlägt.
Eine wunderbare Eröffnung der Festwochen, die Lust auf mehr macht.
Die Jugend an der Wien probt „Figaro Royal“. Quirlig, lebendig und mit viel Spaß wird gesungen, getanzt und gespielt. Wir waren mitten drin.
„Deine bunten Socken sieht man gar nicht!“ „Wenn ich den blauen Schirm nehmen soll, dann muss er auch dort am Platz liegen wo ich dann bin; sonst geht sich das nicht aus!“ „Wie bespringt man eigentlich einen Mann?“
Lautes Lachen, hektische Gespräche zwischen den Regieverantwortlichen, ein stoischer Korrepetitor hinter dem Klavier, Geschnatter rundherum. Ich komme mir vor wie in einem Bienenschwarm, der sich aufs Ausfliegen vorbereitet. Und im übertragenen Sinne tun sie das auch. Die Jugendlichen, die in wenigen Tagen auf der großen Bühne des Theaters an der Wien stehen werden. In den Requisiten des derzeitigen „Figaro“ aber mit einer eigenen Inszenierung. Wär sonst ja auch ein wenig zu fad.
„Figaro Royal“ nennt sich „ihr“ Stück. Und das „ihr“ darf man ruhig wörtlich nehmen. Denn, mit wem auch immer ich spreche, einhellig erzählen alle, dass dafür die Ideen der Mädchen und Burschen herangezogen wurden. Ausganspunkt war Mozarts „Le nozze di Figaro“, was herauskam, ist eine bunte Mischung aus Musik von Wolfgang Amadeus Mozart, die dramaturgisch mit einem roten Faden verbunden wurde. Nicht alles, was musikalisch erklingt, ist auch tatsächlich aus der titelgebenden Oper entnommen. „Um den Chor öfter einsetzen zu können, habe ich drei Notturni herausgesucht, die gut zum Stückverlauf passen. Es sind eigentlich Stücke für drei Stimmen, aber wir haben sie für den Chor adaptiert“. Raphael Schlüsselberg ist der musikalische Leiter der Jugendproduktionen, der auch hinter dem Dirigentenpult stehen wird. „Wer zu uns kommt, interessiert sich schon einmal für die Oper. Und wer hier mitmacht, muss einfach zumindest bei den Chorstücken mitsingen.“ Das ist eine klare Aussage. Und so singen sie alle. Die insgesamt 23 jungen Opernbegeisterten, denen man die Ungeduld, bald auf der Bühne stehen zu können, anmerkt. Geprobt wird bereits seit Oktober wöchentlich. Jetzt, kurz vor der Premiere, kommen sie täglich ins Theater. Ein enormer Aufwand, den alle neben der Schule auf sich nehmen. „Das macht so viel Spaß“, die spontane Aussage eines der Mädchen erklärt wohl, warum. „Unser Grundkonzept ist: Wir passen immer das Stück an die Leute an und nicht umgekehrt. Das Originalstück ist eine Fundgrube, aus der wir heraussuchen was passt. Klar muss man die Oper sehr gut kennen, um dann die richtigen Ergänzungen dazuzufinden. Aber eigentlich geht das ganz flott. Florian Reithner, der Mann am Klavier, ist mein Assistent und verantwortlich nicht nur für die Korrepetition, sondern auch für Chorproben, Transkriptionen oder auch Adaptionen einzelner Stücke für die jeweiligen Stimmen.“ Bei dieser Probe fehlt noch eines: Das Orchester. Das Jugendorchester und Unterstufen Kammerorchester des Musikgymnasiums Wien kommt zu den Proben im großen Saal. Da wird´s erst richtig spannend. Alles, was vorher Mozart-light war, bekommt dann erst den großen, unvergleichlichen Klang.
Das neue Stück trägt viel Zeitgeist in sich. Wie in einer Daily Soap gibt es unterschiedliche Handlungsstränge bzw. auch zwei ganz verschiedene soziale Welten. Nämlich die der Royals, die im oberen Stock des Hauses wohnen und die des gemeinen Volkes, das darunter angesiedelt ist. Verbindungsglied zwischen den beiden Ebenen ist „Lexi“. Ein aufgewecktes Girl, das mit ihrem ständig präsenten Handy und ihren ungenierten Fragen so manches an den Tag bringt, was den Royals gar nicht lieb ist. Wenn sie zu ebener Erd` erscheint gibt es ein Gekreische und eine Aufregung sondergleichen. „Ich hab das Neueste vom Neuesten von oben!“ Und schon hängen alle wie die Trauben rund um sie herum.
„Welche Rolle kommt denn als nächstes, welche kann den Figaro noch toppen?“, frage ich Anton. „Weiß ich nicht“ ist seine kurze Antwort. Dabei trägt er ein umwerfendes Lächeln im Gesicht. Der großgewachsene junge Mann mit dem schwarzen Wuschelkopf ist bereits ein halber Profi. Schon seit seinem 5. Lebensjahr steht er auf der Bühne. „Das ist das, was ich immer schon wollte.“ Seit 10 Jahren singt er im Kinderchor in der Volksoper mit und freut sich nun darüber, dass er in dieser Produktion als Figaro der Hahn im Korb sein kann. „Das ist nicht so schlecht, echt super!“ strahlt er freudeansteckend. Klar, welcher junge Mann wünscht sich nicht, von so vielen hübschen jungen Damen zugleich umringt zu werden.
„Ich schimpfe, weil meine Mutter ständig das gleiche kocht“. Auch diese Aussage hängt mit der Aufführung zusammen. Daniel, dessen Muttersprache Kantonesisch ist, hat einen Soloauftritt. Dabei fegt er mit einem Bündel von Regenschirmen über die Bühne und schimpft wie ein Rohrspatz. Seine Mutter würde noch nicht genau wissen, worum es dabei eigentlich geht. „Wirst du sie im Publikum suchen, während der Aufführung?“ „Ja, ich glaub schon!“. Offenbar will Daniel auf Nummer sicher gehen, und die Reaktion abchecken. So ihm das in der Situation überhaupt möglich sein wird.
„Lasst mich auch drauf, ich will auch dabei sein“. Nach dem anstrengenden und aufregenden ersten Durchgang im Kostüm an einem Samstagnachmittag, den ich mitverfolgt habe, ist die Erleichterung aller spürbar. Jetzt sind Selfies angesagt. Aber die Zeit drängt, schnell noch einmal für eine Regie- und Kostümbesprechung in den großen Sitzkreis. An jener Stelle Jacke bitte aufmachen, Pullover, wenn möglich ausziehen, wozu hat man sonst die teuren, breiten Hosenträger gekauft? Kurze, aber wichtige Instruktionen werden vom Kostümbildner Axel E. Schneider weitergegeben und bleiben hoffentlich auch im Gedächtnis. „Wo sollen wir die Sonnenbrillen und Schirme aufbewahren?“, eine wichtige Frage, denn in der Hektik einer Aufführung muss alles an seinem Platz sein. „Dort wo sie waren. Bei euren Sachen.“ Sehr logisch, aber dennoch braucht es eine Erklärung. „Wer seine Sonnenbrille verliert oder etwas anderes, der muss sich das selbst nachkaufen. Geld haben wir keines mehr!“ Vielleicht ein kleiner Anreiz, um achtsam zu bleiben.
„Toll, wirklich toll, was ihr hier gezeigt habt. Eine unglaubliche Steigerung zum letzten Mal.“ Beate Göbel ist für das Schauspieltraining zuständig und teilt sich die Verantwortung für die Inszenierung mit Catherine Leiter. Sie ist schon seit 6 Jahren mit dabei und hat schon viel erlebt. Anders als bei Inszenierungen für Erwachsene können die beiden Regisseurinnen nicht von Beginn an mit einem fixen Konzept in den Arbeitsprozess einsteigen. „Wir erarbeiten gemeinsam mit den Jugendlichen die Rollen. Das schaut so aus, dass sie über das Spielen selbst, über die ersten Workshops und Improvisationen die wir machen, ihre Rolle selbst finden.“ Regie in einer Inszenierung zu führen, die erst einmal von den Jugendlichen selbst erarbeitet wird, erfordert ein hohes Maß an Flexibilität. „Diese Flexibilität hat was Lebendiges. Und wenn´s lebendig ist, dann spürt man halt alles! Wenn´s tot ist, dann spürt man halt manche Sachen nicht. Choose what you want!“ Göbel lacht, während Sie die Herausforderung an diesem besonderen Job charakterisiert. „Jetzt umziehen und in 10 Minuten sind wieder alle hier!“ In lautem Kommandoton muss sie den wieder angestiegenen Lautstärkepegel übertönen, um gehört zu werden. Der Saal leert sich in wenigen Minuten und was bleibt, ist wohltuende Stille. Zumindest für 10 Minuten.
Das bunte-Socken-Problem wurde an diesem Nachmittag noch nicht gelöst. Die Aufteilung der Schirme sehr wohl. Und wie die Gräfin aus der Parterre-Wohngemeinschaft am besten in die Arme ihres Angebeteten springt, das erfordert noch ein paar Proben mehr. Eins steht aber fest: Mozart hätte einen Riesenspaß gehabt!
Termine: 19.04 17:00 Uhr & 20.04.2015 12:00 Theater an der Wien
„Geschichten aus dem Wienerwald“ als Oper in drei Akten mit einem Libretto von Michael Sturminger und Musik von HK Gruber feierte im Theater an der Wien eine fulminante Premiere.
Man liebt, was man kennt. Das ist nicht nur mit den Menschen so. Das gilt auch für die Kunst. Nicht umsonst sind Klassiker in den Theaterhäusern Dauerbrenner. Man liebt vor allem auch in der Musik das, was man kennt. Dort vielleicht am allermeisten.
Möglicherweise ist gerade dieser Umstand jener, der die „Geschichten aus dem Wiener Wald“ die derzeit im Theater an der Wien gespielt werden, so erfolgreich macht. Der Text des von Ödön von Horvath stammenden Werkes wurde von Michael Sturminger gekürzt und bleibt dabei markant, grob, laut, zugleich aber auch in verdichteter Weise psychologisch treffsicher. HK Gruber schrieb dafür die Musik, die so viel Bekanntes bereithält, dass man beschäftigt ist, dies alles aufzuzählen. Walzer, Landler, Polkas, Schlager, Operettenmelodien, Richard und Johann Strauss-Kompositionen und dennoch: Nichts davon wird platt zitiert, von allem gibt es nur homöopathische Dosen. Die reichen aber für den Wiedererkennungswert völlig. Darunter gibt’s meist dunkles Gebräu. Klänge, welche die kleinen Melodiefetzen mit schwarzen Schleiern umgeben, oder so auf einen Präsentierteller heben, dass man es mit der Angst zu tun bekommt. Dann wieder bemüht der Komponist ein hochgradig verstimmtes Klavier, auf dem der Walzer „Geschichten aus dem Wienerwald“von einer Realschülerin geübt wird. Zwar in der linken Proszeniumloge von den Blicken des Publikums versteckt, aber so unsäglich holprig und falsch, dass man das Zuschlagen des Klavierdeckels am Ende des Stückes verstehen kann. Den in der Horvath Satire benannten Musikstücken entspricht HK Gruber in vielen Fällen, wenngleich in seiner eigenen berauschenden musikalischen Interpretation.
Neben all den vermeintlichen Zitaten gibt es aber auch jede Menge Neues. Vor allem die Behandlung von Duetten erfolgt nach einem sehr plausiblen und wortbetonten Muster. Unterschiedliche Instrumentengattungen werden dafür eingesetzt, die beiden Singstimmen zu unterstützen und das mit schlanken Besetzungen so klar und deutlich, dass der Text durchgehend verständlich bleibt. Nur das Schlussduett von Marianne und Oskar verdichtet sich so derart, dass man nicht mehr von einem leicht durchschaubaren Kompositionsmuster sprechen kann, werden doch beide Stimmen kunstvollst überlagert. HK Gruber schafft es immer, die emotionalen Zustände der am Geschehen Beteiligten in der Musik zu spiegeln und legt auch Wert auf musikalische Übersetzungen einzelner Wörter. So wird zum Beispiel die Beschreibung des Himmels durch Glockenschläge ergänzt, geht es um den kleinen Ludwig, ertönen einfache Xylophonklänge, um nur zwei Beispiele zu veranschaulichen.
Eine Besetzung wie aus dem Bilderbuch
Sturminger, der auch inszenierte, hält sich bis auf wenige Adaptionen an Ödön von Horvaths Vorgaben und Figuren. Er belässt das Geschehen auch in der Vorkriegszeit. Den einzigen Jetzt-Bezug schafft er im Bühnenbild. Einerseits mit dem Blick von der Donauinsel auf das Vienna International Center und die umliegende Gegend . Dabei lässt er ganz am äußeren Ende des Geschehens im sonst sehr statischen Video, das nur die Landschaft einfängt, Radfahrer an der Szenerie vorbei rauschen. Andererseits zeigt er das Häuschen in der Wachau in einer tristen Umgebung entlang der Schnellstraße. Die Oper, ein Auftragswerk der Bregenzer Festspiele und 2014 dort uraufgeführt, wurde herausragend besetzt. Kein einziger Charakter, der hier falsch eingekauft worden wäre, ganz im Gegenteil. Ilse Eerens, die in der Rolle der Marianne in Wien unter großem Jubel ihr Debüt gab, ist nicht nur optisch jenes zerbrechliche junge Wesen, das sich abseits von Konventionen ihr eigenes Lebensglück suchen möchte. Ihr klarer, heller und zugleich warmer Sopran überzeugt vor allem auch in den hohen Partien. Eine absolute Neuentdeckung, die hoffentlich noch oft in Österreich zu hören sein wird. Angelika Kirschlager spielt und singt fulminant Valerie, die Trafikantin, deren Mutterwitz und Lebenserfahrung es ihr möglich machen, nicht zu verbittern und selbst in Niederlagen noch den Kopf aufrecht halten zu können. Schauspielerisch wie auch gesanglich ein Erlebnis. Man meint, förmlich den Prototyp einer gewerbetreibenden Wienerin in den besten Jahren auf der Bühne zu sehen und verspürt zwischen der Zeit, in der das Stück spielt und heute keine Diskrepanz.
Oskar, der Fleischermeister, der Marianne heiraten möchte, ist hier kein Unbekannter. Jörg Schneider, Mitglied der Volksoper, war drüber hinaus schon im Musikverein, an der Staatsoper und auch im Theater an der Wien in verschiedenen Rollen zu hören. Er beeindruckt mit seinem unglaublichen zarten und durchscheinenden Tenor, mit dem er im Gegensatz zu seiner Leibesfülle in dieser Oper auch die grundlegende Weichheit des Charakters des sitzen gelassenen Bräutigams spiegeln kann. Mit der großartigen Anja Silja, bekannt für ihre Wagnerpartien, wurde die Rolle der Großmutter derart passend besetzt, dass man sich nach dieser Aufführung gar keine andere Interpretin vorstellen kann. Ihren abgrundtief schlechter Charakter zeichnet HK Gruber mit dem Einsatz von schrecklichen, eine Zither imitierenden Klängen nach, die sie auf der Bühne mit grauenhafter Geste mehr schlägt als spielt.
Das clevere und effektvolle Bühnenbild beeindruckt in jeder Szene
Renate Martin und Andreas Donhauser müssen eine besondere Erwähnung finden. Schufen sie doch Kostüme und ein Bühnenbild, das schlicht umwerfend ist. Gewiss, man benötigt dazu alles, was eine moderne Bühnentechnik anzubieten hat, inklusive filmischer Aufnahmen. Aber es tut gut zu sehen, dass auch zeitgenössisches Musiktheater nicht allein durch Verzicht auf die Wiedergabe von Schauplätzen ausgezeichnet funktioniert. Wie hier neue Technik mit uraltem Theaterzauber – wie sie durch das Vorschieben des offenen Beichtstuhles in der Szene im Stephansdom vorkommt – miteinander verschränkt werden, zeugt von großer Klasse. Die Visualisierung der benachbarten Geschäfte durch ein überdimensionales Foto und eine Verdoppelung derselben durch eine dreidimensionale Anordnung des Sujets, versetzt die Zusehenden nicht nur in der Fantasie in den 8. Wiener Gemeindebezirk. Man meint, sich am gegenüberliegenden Gehsteig zu befinden und das Geschehen aus allernächster Nähe mitzuverfolgen. Die Verschränkung zwischen dem ersten und letzten Bild, in welchem Marianne aus wallenden Nebeln auftaucht, um in ebensolche in den Armen von Oskar wieder zurückgetragen zu werden, gelingt wunderbar und macht die Einsamkeit der Figur emotional nachvollziehbar.
Die Wiener Symphoniker, das Vokalensemble Nova sowie das Jazzorchester Vorarlberg spielten unter der Leitung von HK Gruber selbst in Bestverfassung. Daniel Schmutzhard (Alfred), Albert Pesendorfer (Zauberkönig), Anke Vondung (Mutter) und Michael Laurenz (Erich) sollen noch stellvertretend für alle anderen Sängerinnen und Sänger genannt werden, die, wie schon eingangs erwähnt, eine Idealbesetzung darstellten.
Ödön von Horvaths entlarvender Blick auf eine unbarmherzige Gesellschaft wurde in dieser Neuinterpretation in einem Gewand vorgestellt, das dem Drama so auf den Leib geschnitten scheint, dass sich die Oper in Zukunft zu einem Klassiker mausern müsste. Gewiss, das Herunterreißen der verlogenen Maske des goldenen Wienerherzens ist auch heute noch für manche harter Tobak. Geht man jedoch durch die Straßen, gesäumt von unzähligen Bettlerinnen und Bettlern, und fährt man durch verkehrsplanerisch zerstörte Nachbargemeinden, müsste man merken, dass dieser künstlerisch aufgesetzte harte Tobak von der Realität noch um ein Vielfaches übertroffen wird. Ein absoluter Ausnahmeabend, den man nicht nur einmal sehen kann und der wieder einmal zeigt, dass das Theater an der Wien mittlerweile zu einem Hotspot zeitgenössischen Musiktheaters avancierte.
American Lulu von Olga Neuwirth als Gastspiel der Komischen Oper Berlin im Theater an der Wien
Was wäre, wenn alles anders käme? Gedankenspiele, wie ein Leben anders verlaufen wäre, wenn an gewissen Stellen andere Entscheidungen getroffen wären, diese gedanklichen Experimente kennt wohl jeder Mensch. Was aber wäre, wenn man in eine bestehende Oper eine andere Wendung einbaut oder besser noch, wenn man die bestehende Oper überhaupt uminterpretiert? Diese Frage stellte sich Olga Neuwirth anlässlich eines Kompositionsauftrages der Komischen Oper Berlin. „American Lulu“ wurde eine Neuauflage von Alban Bergs bekanntem Werk. Allerdingssetzte die Komponistin den Plot ins Amerika der 50er und 70er Jahre und schuf dazu, das erklärt sich eigentlich von selbst, eine neue Musik. Nach der Uraufführung vor zwei Jahren in Berlin erfolgte nun die Österreich-Premiere am Theater an der Wien.
Lulus Gegenspielerin Eleanor wird zur heimlichen Hauptfigur
Was aber neben all dem Genannten noch zusätzlich beeindruckt ist, dass Neuwirth mit Eleanor, Lulus Freundin, eine Figur schuf, die dieser mühelos den Rang abläuft. Ihr Name wurde ihr in Anlehnung an die Bluessängerin Billie Holiday verliehen, die mit bürgerlichem Namen Elinor Harris hieß. Neuwirth schrieb dieser weiblichen Lichtgestalt eine Musik auf den Leib, die alle Kennzeichen von einem jazzigen und erdigen Blues aufweist. So ist die Selbstbestimmung von Eleanor auch musikalisch deutlich gegenüber allen anderen Protagonisten erkennbar. Ihr Part gestaltet sich beinahe kontrapunktisch zu jenem von Lulu. Diese klingt – bis auf ein herausragendes Duett mit dem jungen Jimmy – ständig getrieben und gehetzt, mit wenig Wohlklang, dafür aber mit einer ganzen Menge an schwierigen Passagen, für die es großen Mut zur Interpretation braucht. Marisol Montalvo als Lulu trägt Neuwirths musikalisch kantige Züge. Im Gegensatz zu Eleanor, die von Della Miles gesungen wurde, kann sie ihr Leben, in dem sie als Getriebene aber auch als Treibende selbst rastlos unterwegs ist, nicht selbstbestimmt gestalten. Selbst in ihrem Glitter-Tanzkostümchen verbreitet sie keine Streichelweichaura, sondern agiert mit Wut, Trotz und dem Willen, die Lebenserfolgsleiter mithilfe von Männern nach oben zu erklimmen. Della Miles agiert mit üppiger Afro-Perücke und warmem Timbre trotz all erlittener Enttäuschungen und der Liebesverweigerung von Lulu überlegt, ja überlegen. Könnte man ihren Bruch mit Lulu kurzfristig noch als Niederlage interpretieren, wird zumindest am Ende der Oper klar, dass diese Niederlage auch etwas mit einer selbstbestimmten Entscheidung zum eigenständigen, unabhängingen Weiterleben zu tun hat.
Regie und Videoeinspielungen greifen in die Vollen
Kirill Serebrennikov, russischer Starregisseur, war auch für das Bühnenbild und die Kostüme zuständig. Tatsächlich wirkte dies alles wie aus einem Guss. Edward Hoppers berühmtes Gemälde „nighthawks“ stand Pate bei seinem schwarz-weiß gehaltenen Bühnenbild, das er in vielerlei Abwandlungen an diesem Abend zum Einsatz brachte. Lulus Männerparade agierte dort meist in Gruppen auftretend, mit Trenchcoat und Hut. Wenngleich sich die einzelnen Personen so gut wie nie austauschten und näher kamen. Im letzten Aufzug sitzen Lulus ehemalige Liebhaber wie Vögel nebeneinander auf Barhockern und erscheinen ihr mit ihren teils offen zur Schau getragenen Macken wie ein Albtraum. Sozial aufgestiegen, mit Blick über ein großstädtisches Lichtermeer, hindert sie ihre Gefühlskälte und ihre Vergangenheit daran, ihren Luxus und ihr Leben genießen zu können.
Einen wesentlichen Beitrag zum Gelingen des Abends leistete auch Gonduras Jitmoirsky, der eindrucksvolle Videosequenzen beisteuerte. Ob bei den Umbauten der einzelnen Aufzüge, oder als große, eigenständige künstlerische Beiträge zwischen die gesanglichen Partien eingefügt. Seine Bilder sind eine starke Entsprechung zu Neuwirths Musik, die an keinem einzigen Punkt beliebig wirkt und immer wieder mit Überraschungen aufwartet. Das letzte brachiale Bild, das Lulu erstochen in ihrem eigenen Blut zeigt, bleibt zwar nur kurz sichtbar, ist aber umso einprägsamer.
Johannes Kalitze und das Orchester der Komischen Oper Berlin erlebten im Theater an der Wien ein freundliches bis nahezu enthusiastisches Publikum.
Askese und überbordende Lebenslust. Religiöser Fanatismus und ungläubiges Kopfschütteln darüber. Barockmusik und schräge, zeitgeistige Klänge. All das ist verpackt in der „Dschungeloper“ „San Ignazio“. Gespielt wird sie im Hundsturm unter der Regie von Markus Kupferblum und die Genese des Stückes ist an sich schon lesenswert.
Der umtriebige Regisseur, der mit den „Schlüterwerken“ in den letzten Jahren permanent rührig arbeitete, reiste 2013 in den Dschungel nach Bolivien, um sich dort auf die Spur von Barockopern zu machen. Wer meint, er respektive sie hätte sich hier verlesen, irrt. Tatsächlich wurde Pater Anton Sepp, geboren in Tirol, als junger Jesuitenpater im 17. Jahrhundert nach Südamerika entsandt, um den Eingeborenen vor Ort die damalige zeitgenössische Musik näher zu bringen. Mit ihr gestaltete er kleine Opern, in welchen das Leben von Heiligen erzählt wurde. Diese Opernproduktionen, die sozusagen „im Auftrag des Herrn“ entstanden, gerieten im Laufe der Jahrhunderte in Vergessenheit. Bis zu jenem Tag, als der polnische Priester Piotr Nawrot im Archiv in Bolivien auf sie stieß und Markus Kupferblum die Aufführungserlaubnis hierfür erteilte.
Aber Kupferblum wäre nicht er selbst gewesen, hätte er in diesem Fall nicht radikal umgedacht. Und so wurde Originales umgeschrieben, Neues von Renald Deppe dazu komponiert und der Text von niemand Geringerem als Bodo Hell verfasst. Herausgekommen ist ein Opernderivat, eine augenzwinkernde Satire, ein beinahe schon dadaistisches Kleinod mit historischen Wurzeln und jeder Menge ebensolcher Querverweise. Darin wird das Leben des Begründers des Jesuitenordens, des Hl. Ignazius von Loyola nachgezeichnet und mit asketischer Strenge und zerbrechlicher Figur glaubwürdig von Ingala Fortagne dargestellt. Er/sie durchleidet dabei alle geistesinspirierten Höhenflüge, hat aber auch heftig gegen die Verführungskunst der Fleisch gewordenen Dämonin Ulla Pilz zu kämpfen. Ingrid Leibeszeder sorgt als Kostümbildnerin dafür, dass diese, sowie Andrea Köhler und Julia Schranz als knallbunte und flippige Amazonen, teils mit bunten Federn behangen in ihren flippigen Outfits pralle Lebensfreude auf die Bühne bringen. Wunderbar jene Szene, in welcher die Frauen erstmals auf dem Missionar treffen und der weltentsagenden Lebensweise von Ignazius völlig verständnislos gegenüberstehen.
Béla Bufe und Florian Hackspiel wiederum dürfen pantomimisch hervorragend als christliche Boten allerlei Slapstick aufführen und das Publikum mit einer Geschichte unterhalten, in welcher ein Bootsruder zum Symbol von Macht, Freiheit und schließlich auch Entsendung wird. Mit Bernd Lambauer, der als Bruder Franz Xaver von Ignazius wider Willen schließlich nach Indien zur Missionierung entsandt wird und Theres Cafasso, welche die jungfräuliche Mutter Maria als prozessionserprobte China Diabla darstellt, ist das Ensemble der Schlüterwerke komplettiert.
Aber es ist keine reine historische Nacherzählung, die Kupferblum liefert. Das Spannende an dem Abend sind jene Hinweise, die aufzeigen, was eigentlich aus der Entsendung des Bruders Franz Xaver – der historischen Figur Francisco de Gassu y Javier, einem weiteren Ordensmitbegründer, geworden ist. Geboten wird dabei ein neuer Blick auf die Missionierung durch die Jesuiten, die ohne Weiteres mit den Zielen der Kolonialisierung konkurrieren konnte. Zielte letztere auf die Ausbeutung jeglicher Ressourcen, wollten die Jesuiten nicht weniger als die Bekenntnis Abertausender zu ihrem Glauben und damit die Stärkung der römisch-katholischen Kirche. Bodo Hells Sprachduktus mit vereinzelten herrlichen Wortkaskaden und Deppes geschickte Instrumentierung – zu den drei Streichern gesellt sich anstelle eines Cembalos für den Generalbass ein Hackbrett – bieten Verknüpfungen ins Hier und Jetzt, die den melodieösen Barockarien eine zeitgeistige Aura verpassen. Alles in allem ein kurzweiliger Abend mit „geistiger Erbauung“, der jedoch ganz ohne einschläfernde Belehrungen auskommt. Wer Lust auf „schräge“ Opernaufführungen hat wird hier bestens bedient.