Der Mensch bewegt sich und kämpft von seinen ersten bis zu seinen letzten Tagen gegen die Schwerkraft. Dies ist eine der Kernaussagen von Aleksandar Acev, der von der wortwiege in die Kasematten von Wiener Neustadt eingeladen wurde. Im Rahmen des Festivals „Europa in Szene“, in der speziellen „Sea change“-Ausgabe, rockte er den Saal mit seiner Produktion „Lucy was not long ago“.
Acev ist „Körpersprachenlehrer“, Autor, Regisseur sowie Hochschullehrer an verschiedenen europäischen Universitäten und vermittelt sein Wissen dort an Schauspiel-Studierende. Sich auf der Bühne zu bewegen und dabei treffsicher jenen Ausdruck zu finden, der zum jeweiligen Charakter und der jeweiligen Situation passt, ist das eine. Im Alltag Menschen zu beobachten und in wenigen Augenblicken ihren emotionalen Zustand oder sogar ihren Charakter zu analysieren – auch das ist mit der Bodylanguage-Kenntnis von Acev möglich. Beide Vermittlungszugänge werden in seiner Performance thematisiert – jedoch nicht theoretisch trocken, sondern mit seinem grandiosen Körpereinsatz sichtbar gemacht.
Lucy was not long ago (Foto: Julia Kampichler)
Die Äffin Lucy gilt als eine jener Vorfahren des Menschen, die den aufrechten Gang praktizierten und somit unsere Lebensform auf zwei anstelle von vier Beinen begründeten. Acev geht mit viel Wissen, Körpergefühl und einer großen Portion Humor an dieses Thema heran und begeisterte mit seiner Geschichte über die tierische und menschliche Bewegungshistorie das Publikum quer durch alle Altersstufen.
Vom leichten Einstieg, der Erklärung und dem Aufzeigen vieler möglicher menschlicher Gangarten hin zu vier grandios performten, verschiedenen Schulterblicken und die daraus resultierenden unterschiedlichen Ausdrucksformen, reichte seine fulminante Show. Mit Lucy an der einen und Scully – einem miniaturhaften menschlichen Gerippe – auf der anderen Bühnenseite hatte er zwei künstliche Antipodinnen zu sich geholt, die von ihm mit Leben gefüllt wurden.
Lucy was not long ago (Foto: Julia Kampichler)
Lucy was not long ago (Foto: Julia Kampichler)
Besonders unterhaltsam gestaltete er jenen Part, in welchem er seine Beobachtungen von joggenden Menschen vorexerzierte: Dabei stellte er einen Typus, der sich durch seine Lockerheit und seinen hüpfenden Gang auszeichnet, einem anderen gegenüber, der, mit nach hinten gebeugtem Oberkörper in seiner Vergangenheit festzustecken schien. Wieder andere, die mit dem Kopf voraus, ohne Wenn und Aber, in die Zukunft stürmen oder solche, die sich gramgebeugt dennoch auf die Laufstrecke begeben – sie alle und noch viele mehr wurden beinahe im Sekundentakt abwechselnd von Acev imitiert. Dabei jonglierte der Performer genauso gut mit Worten, die seinen Auftritt begleiten.
Die unterschiedlichen Begrüßungsmöglichkeiten, unterwürfig, abwertend, ängstlich oder hoffnungsfroh lösten genauso heitere Stimmungen aus wie die Hinweise auf die direkte Lucy-Verwandtschaft im Bereich männlicher Sportsgrößen. Das sich mit geballter Faust auf die Brust Schlagen des Tennisspielers Djokovic, der berühmte, unvergessene Kopfstoß des Fußballers Zinédine Zidane – bei der WM gegen den Italiener Materazzi – oder der breitbeinig ausgeführte Torjubel seines Kollegen Ronaldo: All diese kurzen und dennoch so markanten Bewegungen, durch den Pantomimen vorgeführt, machten klar, dass Lucy und ihresgleichen noch gar nicht so lange ausgestorben sein können. Die Entwicklung der Verschmelzung des Menschen mit seinem Stuhl – auch das war ein Thema, das wie ein Augenöffner für die eigenen Bewegungsmuster diente. Wer lümmelte nicht schon mehrfach am Bürostuhl ohne Energie, wer hatte nicht bereits einmal das Gefühl, mit seiner Tastatur verschmolzen zu sein und wer fühlte sich nicht aufgefordert, seinen Körper öfter sportlichen Betätigungen auszusetzen?
Das wohl Verblüffendste an Acevs Performance ist die Erkenntnis, dass man mit dieser Art von „Edutainment“ in kurzer Zeit einen Wissenszuwachs erhält, den man durch stundenlanges Bücherlesen nicht bekommen würde. Und das auf höchst lustvolle Art und Weise. Alle, die „Lucy was not long ago” gesehen haben, wurden vom Künstler an unterster Stelle mit einer neuen Beobachtunssensibilität ausgestattet. Welch großartiger Side-Effekt, ausgelöst durch ein Theaterereignis im Rahmen des wortwiege-Festivals.
Im Rahmen des Dramatiker:innenfestivals am Schauspielhaus in Graz lieferte die Regisseurin Kurdwin Ayub mit „Wunderland“ eine kleine, aber feine Arbeit ab. Dass man an ihr bezahlfrei teilnehmen konnte, sollte besonders hervorgehoben werden. Niederschwellig war der Zugang auch aufgrund der Location. Hinter dem Schauspielhaus, wo sich einst die ehemalige Landesdruckerei befand, wurde in einem Raum ein kleines Zelt installiert, in welchem zwei Leute auf Stühlen Platz nehmen konnten. Ausgestattet war es mit allerlei Plüschtieren, kindlich-heimelig arrangiert. Ayub schuf einen Virtual Reality Film von 15 Minuten mit mehreren Szenen, welchen man mit einer VR-Brille folgen konnte. Der Inhalt: Die Beziehung eines jungen Künstler-Paares mit einem kleinen 2-jähringen Kind. Das Besondere daran war nicht der Konflikt zwischen den beiden Jungeltern, sondern vielmehr, dass dieser Konflikt so in Szene gesetzt worden war, dass sich das Publikum in die Gedankenwelt und das Wahrnehmungsspektrum des Kindes versetzen konnte.
Dafür wurden viele Close-ups aufgenommen, bei welchen sich die Eltern (Maresi Riegner und Valentin Postlmayr) in knappem Abstand an die Kamera begaben und so bei den Zusehenden der Eindruck entstand, als Kind ganz nah bei ihnen zu sein. (Kamera Markus Zizenbacher) Die Spannungen, die sich zwischen den Erwachsenen entwickelte, lösten beim Kind Ängste aus, die sich in einem Traum-Clip manifestierten. Ausgelöst bei den Betrachtenden wurde dadurch eine Empathie dem kleinen Mädchen gegenüber, die vielen in dieser Art im Laufe des Lebens abhandengekommen ist. Etwas zu wissen – wie in diesem konkreten Fall, dass Kinder von Albträumen geplagt werden können – und es selbst wieder zu spüren – sind zweierlei Dinge. Tatsächlich ist es der Regisseurin gelungen, trotz der Kürze des Films, dieses „Wiederspüren“ auszulösen.
Darüber hinaus lieferte sie mit der Beziehungskonstellation jede Menge Stoff, sich über die tradierten Geschlechterrollen zu unterhalten und sich der Dilemmata, die sich dadurch ergeben, bewusst zu werden. Julia Libisellers Szenenbild – eine Altbauwohnung vollgeräumt mit alltäglichen Versatzstücken und Kinderspielzeug, sowie die zeitgemäße Kostümausstattung von Carola Pizzini trugen wesentlich zum Gelingen der Produktion bei.
In ihr vereint finden sich die Ensemble-Kapazunder Michaela Bilgeri, Thomas Kolle, Kirstin Schwab, Tamara Stern und Benjamin Vanyek. Bei jeder Produktion freut man sich auf ein Wiedersehen mit der einen oder dem anderen von ihnen. Dass sie aber so geballt auf das Publikum losgelassen werden, ist wie Ostern und Weihnachten zugleich. Denn bei diesen Fünf kommt man aus dem Schauen, Staunen, Lachen und Wundern nicht mehr heraus.
„Morbus hysteria. Wir haben alle Recht.“ (Foto: Gerhard Breitwieser)
Sie sorgen nicht nur für eine intensive, atemberaubende Bühnenpräsenz, sondern liefern gewöhnlich auch eigene Wortspenden für den Text ab. Daraus ergibt sich eine Wahrnehmungsmischung, die dem „aktionstheater ensemble“ eigen ist. Stimmt es, dass Thomas Kolle ein philosemitisches Erlebnis hatte? Macht Kirstin Schwab tatsächlich bei Lach-Seminaren mit? Ist Barbara Streisand DAS große Vorbild von Benjamin Vanyek? Meint es Michaela Bilgeri ernst, wenn sie Ü-40-Jährigen rät, den Nazi-Charakter eines Partners wegzustecken, wenn er sonst „eh so lieb ist?“ Und fühlt sich Tamara Stern tatsächlich mit ihrer komödiantischen Begabung missverstanden?
Voyeurismus als Publikumstriebfeder
Fragen über Fragen, auf die es keine Antworten, nur Vermutungen gibt, die aber die Lust am Voyeurismus des Publikums bestens bedienen. Das, was außerhalb des Theatersaals als völlig unpassend gilt, nämlich ein Aufdeckenwollen von psychischen Untiefen des jeweiligen Gegenübers, dem darf man im geschützten Raum des Theatersaals ungeniert nachgehen. Mehr noch: Das Ensemble fördert mit seinem Seelenstriptease diese Lust der Teilhabe an der charakterlichen Entblößung ganz bewusst. Dabei gibt es keine scharfe Trennung zwischen persönlich Erlebtem und philosophischen oder gesellschaftspolitisch aktuellen Fragen. Denn auch letztere werden immer in Geschichten eingebettet, die zumindest tatsächlich erlebt erscheinen.
„Morbus hysteria. Wir haben alle Recht.“ (Foto: Gerhard Breitwieser)
Die Frage nach der Hegemonialmacht der Aufmerksamkeit und Legitimität von Randgruppen wird heruntergebrochen auf Benjamins Ärgernis mit Wal- oder Froschmenschen, die er „so unsympathisch findet“. Da nützt es auch nichts, wenn Thomas ihn darauf aufmerksam macht, dass Benjamin selbst zu einer Randgruppe gehört, die wiederum andere Menschen stört. Die große Kunst in diesen Szenen ist aber nicht die Überspitzung von Situationen, die für gute Schauspielerinnen und Schauspieler ein wahres Fressen sind. Die große Kunst, die Martin Gruber unumwunden beherrscht, ist das Aufgreifen von Themen, die einerseits tagesaktuell sind, andererseits aber zu den Grundfragen unseres gedeihlichen Zusammenlebens gehören. Und dies ohne jeglichen erhobenen Zeigefinger und ohne letztlich ein abschließendes Urteil fällen zu wollen oder zu können.
Rebellion als Einzelunterfangen
So manches, oder besser, fast alles, was uns im Leben Kopfzerbrechen macht und uns vor Herausforderungen stellt, lässt sich nicht mit einfachen Erklärungen vom Tisch wischen.
Weder die schwierige Verständigung mit rumänischen Bauarbeitern, die Kirstin mittels einer Sprachapp zu überwinden versucht, noch Benjamins Gesangs-Faible, das er penetrant auf Tamara übertragen möchte. Schon gar nicht der aussichtslose Kampf gegen die globalisierte Industrialisierung, die uns alle zu Konsumdeppen macht, die sich dagegen jedoch nicht wehren können. Dieses Mal wird die musikalische Begleitung in der letzten Publikumsreihe versteckt, aber dennoch live, produziert. Es sind durchgängig harte Beats, zu welchen das Ensemble immer wieder auch Gruppenchoreografien abliefert, die Aggressionen zum Ausdruck bringen, die sich dort ihre Bahn brechen können. „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ – der Song der Gruppe „Ton Steine Scherben“ aus dem Jahr 1970, von Nadine Abado, Andreas Dauböck und Pete Simpson aus dem besagten Off intoniert, macht klar, welches der Kern von „Morbus Hysteria“ ist: Rebellion. Auch wenn diese von der neoliberalen Wirtschaftsdenke in den ganz persönlichen Bereich verschoben wurde.
„Morbus hysteria. Wir haben alle recht.“ (Foto: Gerhard Breitwieser)
„Morbus hysteria. Wir haben alle recht.“ (Foto: Gerhard Breitwieser)
„Morbus hysteria. Wir haben alle recht.“ (Foto: Gerhard Breitwieser)
„Morbus hysteria. Wir haben alle recht.“ (Foto: Gerhard Breitwieser)
„Morbus hysteria. Wir haben alle recht.“ (Foto: Gerhard Breitwieser)
„Morbus hysteria. Wir haben alle recht.“ (Foto: Gerhard Breitwieser)
„Homo homini lupus“ darf man nicht nur im alltäglichen Umgang miteinander erleben. Auch das Ensemble exerziert dies brachial vor. Diese Einstellung ist auch dafür verantwortlich, den wahren Wolf, kaum wieder in eine größere Population gebracht, so rasch wie möglich auszurotten. Dass auch diese Gedanken beim Publikum ankommen, dafür sorgen Valerie Lutz mit der Bühnen- und Kostümausstattung, sowie Resa Lut, die ein unaufdringliches, aber tierisches Video in diese Richtung beisteuert.
Die Verschränkung von Spaß und Alltagsgrauen, von Freude am Leben und einem scheinbar aussichtslosen Stemmen gegen Ignoranz und Machtgier, Dummheit und bewusstem Verbrechen, all das findet sich in dieser Produktion. Die Kreativität, die Lust am Spielen und am Theatermachen, das ästhetische Endergebnis – all das gibt es wiederum gratis obenauf. Mehr Rechtfertigung für dieses Theater gibt es nicht.
„Death and all his friends“ – eine Bürger:innenbühne über das Leben – widmete sich dem Tabuthema Tod in vielen Facetten. Mit Otto Just, Hermann Leiner, Charlotte Eissner-Eissenstein, Brigitte Pivoda, Renate Formanek, Andrea Kalloch und Albin Sampel durfte man Menschen auf der Bühne des Hauses 2 erleben, die entweder ganz persönliche Erfahrungen mit dem Tod teilten, oder berufsmäßig damit ständig konfrontiert sind. So unterschiedlich die einzelnen Persönlichkeiten, so unterschiedlich ihre Geschichten, so unterschiedlich erwies sich auch ihr Zugang zu diesem Thema, das viele gerne ständig aus ihrem Leben ausklammern. Anders das Ensemble dieser Inszenierung, welches die Regisseurin Anja M. Wohlfahrt in ihrem Projekt vereinte:
Zu Wort kamen ein Soldat, bekennender Christ, der keinen Grund hat, sich vor dem Tod zu fürchten, da er sich sicher ist, dass das, was danach kommt, noch viel schöner sein wird, als wir uns es vorstellen können. Eine Notfallärztin, die neben medizinischen Erklärungen einen tiefen, emotionalen Einblick in ihren tagtäglichen Kampf gegen den Tod aufzeigte. Eine junge Studentin, die völlig unerwartet ihren Vater verlor und sich nicht mit den allgemeinen Floskeln vermeintlicher Tröstungen zufriedengibt. Eine ältere Dame, die alljährlich am Tag der Wiederkehr ihres Fahrradunfalles, bei dem sie nur knapp dem Tod entkommen war, zum Unfallort zurückkehrt. Eine in der Palliativmedizin arbeitende Krankenschwester, die Sterbende und ihre Angehörigen begleitet. Ein junger Mann mit einer ausgeprägten Katzenliebe, der als Fahrer des Transportmittels, in dem sich die Menschengruppe befindet, via Lautsprecher Zahlen, Daten und Fakten zum Sterben auf dieser Welt beisteuerte. Ein Angestellter eines Bestattungsunternehmens, selbst Krebspatient, der in seinen musikalischen Einlagen zu Hochform auflief. An seiner Seite schufen Patrick Dunst & Grilli Pollheimer mit Saxofon- und Hohnerklängen einen unkomplizierten, aber stets passenden Soundlayer.
Death an all his friends (Foto: Lex Karelly)
Death an all his friends (Foto: Lex Karelly)
Death an all his friends (Foto: Lex Karelly)
Death an all his friends (Foto: Lex Karelly)
Death an all his friends (Foto: Lex Karelly)
Aufgrund eines unglaublich intelligenten Bühnenbildes von Kathrin Eingang befand man sich entweder im Waggon einer Schnell- oder U-Bahn. Manches Mal auch außerhalb, mit dem Kopf wortwörtlich genommen, hoch in den Wolken. Das Verkehrsmittel als Metapher sowohl für unsere Lebensreise als auch als Übergang zum Tod bot mannigfache Möglichkeiten von unkomplizierten Szenenwechseln. Katia Bottegal schuf mit ihren Kostümen feinfühlige, charakterunterstützende Outfits, die jedoch auch immer das theatrale Geschehen betonten und nicht verleugneten. Momente, voll mit Humor, wechselten mit solchen ab, die eine ganze Menge an Informationen bereithielten. Wie verhält man sich, wenn man eine Todesnachricht überbringen muss? Wie spricht man adäquat über den Tod? In keinem Augenblick glitten die Texte ins Pietätlose. Nie gewann Dozierendes Überhand. Immer wohnte man dem Geschehen im Bewusstsein einer Theateraufführung bei, deren Thema sich jedoch so nah an unserer Lebensrealität befindet, dass die Grenzen zwischen Realität und Schauspiel zwangsläufig verschwimmen.
Wer sich vor dem Tod fürchtet, dem sei dieser Abend besonders empfohlen. Vermittelt er doch auch eine große Menge an Zuversicht und Menschlichkeit.
Besonders betont werden soll die Tatsache, dass im Programmfolder auch alle Musiknummern angeführt sind. Ein Umstand, der hoffentlich bald in jedes Programmheft der Bühnen unseres Landes und darüber hinaus Aufnahme finden wird, bis dato jedoch noch viel zu selten anzutreffen ist.
„Tür auf, Tür zu“, ein humorvoll-gesellschaftskritisches Stück der deutschen Autorin Ingrid Lausund, erzählt anhand der Geschichte einer Frau um die Fünfzig ein Schicksal nach, das wohl millionenfach vorkommt und dennoch von jeder einzelnen Person ganz individuell wahrgenommen wird. Im Theater Spielraum, bekannt für seine intelligente, stimmige und zeitgemäße Programmierung, hat Peter Pausz die Regie dafür übernommen und eine gekonnte Mischung zwischen starken Emotionen und hoch reflexiven Momenten erschaffen.
Fotos: Barbara Pálffy
Lausund kickt in ihrem Stück ihre Hauptprotagonistin, Anneliz, ohne Vorwarnung aus dem Arbeitsprozess in die Erwerbslosigkeit. Nicole Metzger ist mit dieser Rolle typgerecht besetzt. In den ersten Szenen noch im Businesskostüm agierend, verwandelt sie sich im Lauf des Spiels letztlich in eine desillusionierte Arbeitslose, eingemummelt in Sternchenfleece, der ihr in ihrem Zuhause noch jene Restwärme vermittelt, die sie bei ihren Mitmenschen komplett vermissen muss. Der Text, der noch zwei weiteren Personen Raum gibt, dreht sich einzig um die Gefühlslage von Anneliz, welche sich im Laufe der Zeit umstandsbedingt verändert. Zu Beginn noch ungläubig, aufmüpfig und kämpferisch, tritt bald eine Panikreaktion ein, in der jedes zielgerichtete Denken unmöglich wird. Unterstützt wird sie kräftig von einem einstimmigen Chor – Johannes Sautner, sowie der „Türe“ – Christopher Korkisch. Letzterer erklärt unablässig, in welchem Zustand sich „die Türe“ gerade befindet: offen oder geschlossen.
Mit „Türe“ wird symbolhaft jener Zustand beschrieben, welcher den Eintritt und die Zugehörigkeit in die Gemeinschaft der Werktätigen ermöglicht oder auch verhindert. Lausunds Text, über viele Strecken im Telegrammstil gehalten, in welchem jene Menschen charakterisiert werden, die durch die Türe ein- und austreten, bietet Johannes Sautner viele Möglichkeiten, sein schauspielerisches Können zu demonstrieren. Innerhalb weniger Augenblicke schlüpft er in unterschiedlichste Rollen, als da exemplarisch wären ein Dr. Leutselig, ein Adi Adrenalin, eine Gerüchteliesl oder eine Frau Spinnefeind. Es macht unglaublich Spaß, ihm bei seinen verbalen Verwandlungskünsten zuzusehen, während Korkisch als Stichwortgeber fungiert und die überbordenden, humoristischen „Chor-Einlagen“ gekonnt kontrapunktisch in Zaum hält.
Herrlich auch jener Einschub, in welchem sich der Chor darüber beklagt, bei dieser Produktion ausgenutzt zu werden, müsse er doch wesentlich mehr Rollen und Agenden übernehmen, als ursprünglich vereinbart. Es sind Hinweise wie diese, welche das Gedankenpendel zwischen dem Theater und unserer alltäglichen Realität gekonnt hin und her schwingen lässt und klarmacht: Auch im künstlerischen Bereich feiert der Neoliberalismus mit seiner Selbstausbeutung nach wie vor fröhliche Urständ.
Fotos: Barbara Pálffy
Fotos: Barbara Pálffy
Fotos: Barbara Pálffy
Fotos: Barbara Pálffy
Fotos: Barbara Pálffy
Nicole Metzger gelingt es scheinbar mühelos, das Publikum auf die Reise ihrer Gefühlsachterbahn mitzunehmen. Dabei kommen bei so mancher Hinterfragung, ob sie denn an ihrer Kündigung nicht selbst schuld sei oder so manchem unausweichlichen Wutausbruch eigene Emotionen und Erinnerungen hoch – ein Verdienst sowohl des Textes als auch dessen Interpretation. Anna Pollack schuf ein reduziertes Bühnenbild mit einem beweglichen Türrahmen und Kostümen, die sowohl die anfängliche Zugehörigkeit zu einer Firmengemeinschaft als auch den sozialen und finanziellen Abstieg im Zustand der Arbeitslosigkeit unaufdringlich dokumentieren. Dass der Glücksmoment eines neuen Jobs nicht ihr, sondern ihrem Freund zuteilwird und es tatsächlich nur Männer sind, welche Anneliz durch die Türe eintreten sieht, verweist auf die Ungleichbehandlung am Arbeitsmarkt. Frauen, die schon viele Jahrzehnte Beschäftigung hinter sich haben und an einem gewissen Punkt erwerbslos werden, müssen sich einer ganzen Reihe von Fragen stellen, warum sie ausgemustert wurden, die Männer überhaupt nicht betreffen. Diesem Problemfeld widmet sich ausgiebig auch das Programmheft, in dem Julya Rabinowich, Christina Focken, Judith Fischer, Rosemarie Schwaiger, Anna Dunst, Nina Vogl und Robert Vallelunga einen Beitrag leisteten. Rosa Kornfeld-Matte ist ein Interview gewidmet, das sie der Wiener Zeitung im Rahmen ihrer Beschäftigung als UN-Expertin für die Wahrnehmung aller Menschenrechte älterer Menschen gab.
Die unerwartete Wende hin zu einem glücklichen Ende, das sich nicht an der Realität orientiert, unter der cineastischer Musikuntermalung von „Chariots of fire“ dramatisch in Szene gesetzt, rechtfertigt Anneliz folgendermaßen: „Das ist die einzige Realität, die ich auf dem Theater akzeptiere.“ Die emotionale Beruhigungspille, die dem Publikum damit verpasst wird, soll jedoch nicht daran hindern, sich Gedanken zu machen, ob und wie man dem inhumanen Arbeitsmarktwahnsinn entgegentreten kann. Die golden schimmernde asiatische Winke-Glücks-Katze, die mehrere prominente Auftritte hat, wird den betroffenen Frauen dabei leider nicht helfen.
Empfehlung: Freundinnen motivieren, Bekannte aus dem Hobby-Umfeld, Schwestern, Mütter, Tanten oder Cousinen, nicht zuletzt Arbeitskolleginnen und all jene Männer, die gerne mit dabei sein möchten und die Vorstellungen im Theater Spielraum besuchen. Gesprächsstoff für das Zusammensein danach wird reichlich geliefert.