Wie ist es, ein Israeli zu sein?

Wie ist es, ein Israeli zu sein?

Pappkartons mit groß darauf vermerkten Datumsangaben, ein Fußball, zwei Sessel und ein Pferd – letzteres ein Requisit aus einem anderen Stück – mehr brauchen Ido Shaked und Hannan Ishay nicht, um ein außergewöhnliches Bühnenfeuerwerk zu zünden.

Die beiden Schauspieler und Regisseure präsentierten beim ‚wortwiege‘-Festival in den Kasematten in Wiener Neustadt unter dem Label ‚Théâtre Majâz‘ ihr neuestes Stück „A Handbook FOR THE ISRAELI THEATRE DIRECTOR IN EUROPE“. Beide stammen aus Israel und verließen ihr Land vor einigen Jahren – Ido Shaked, um in Paris Fuß zu fassen und Hannan Ishay um in Österreich zu studieren und zu arbeiten. Nun lebt er jedoch mit seiner Familie wieder in Tel Aviv und kann aus erster Hand über die Situation vor Ort berichten.

A HANDBOOK FOR THE ISRAELI THEATRE DIRECTOR IN EUROPE (Foto: Julia Kampichler)

A HANDBOOK FOR THE ISRAELI THEATRE DIRECTOR IN EUROPE (Foto: Julia Kampichler)

Entstanden ist die Show, die ganz im Stil einer Doppelconférence geführt wird, aus der Idee, auf der Bühne über Israel und das Geschehen dort zu sprechen, da die beiden Männer auf ihren Reisen immer gefragt werden, was sich dort so abspiele. So nutzten sie den Informationsnotstand, um mit ihrer Sicht auf die Entwicklungen einen Beitrag zum besseren Verstehen der Geschehnisse zu leisten. Und das mit dem Mittel, welches sie am besten beherrschen: dem Theater.

Schon nach wenigen Bühnenaugenblicken wird klar: Ido und Hannan werfen sich ihre Argumentationsbälle, gespickt mit jeder Menge Humor und Seitenhieben in einer derartigen Rasanz zu, dass man froh ob ihres gut verständlichen Englisch ist. Über- oder Untertitel wären in dieser Konstellation vollkommen sinnlos, ihre Konversation ist aber so gut getaktet, dass auch Publikum, das nicht tagtäglich Englisch spricht, keine Schwierigkeiten hat, den beiden zu folgen.

Sie sprechen über Politik genauso wie über Fußball oder Essen, sie sprechen über Israel als Besatzungsmacht genauso wie über die Tatsache, dass sie über vieles nicht sprechen dürfen oder können. Zum Teil, weil es der Staatsraison widerspricht, zum Teil, weil sie selbst nicht wissen, wie mit einer Entwicklung umzugehen ist, deren Gewaltspiralen unausweichlich nach oben getrieben werden.

A HANDBOOK FOR THE ISRAELI THEATRE DIRECTOR IN EUROPE (Foto: Julia Kampichler)

A HANDBOOK FOR THE ISRAELI THEATRE DIRECTOR IN EUROPE (Foto: Julia Kampichler)

So schwierig die Situation in ihrem Heimatland auch ist und man kaum glauben mag, dass ein Abend über Israel pfeffrig gewürzt so inszeniert werden kann, dass dem Publikum höchste Unterhaltung geboten wird, so einleuchtend ist das Unterfangen. Auf die Frage, ob sie sich denn angesichts der derzeitig tobenden Gewaltausbrüche sowohl von israelischer als auch palästinensischer Seite überhaupt in der Lage sähen, ihr Stück in Europa aufzuführen, kommt von beiden ein eindeutiges „Ja! Wie sollen wir denn sonst mit dieser Situation fertig werden, wenn nicht durch Reflexion auf der Bühne!“

Die antisemitische Strömung in Europa wird genauso thematisiert wie das Gefühl, zerrissen zu sein. Zerrissen zwischen dem Luxus im Ausland zu leben, zugleich aber nicht die Möglichkeit zu haben, bei Anti-Regierungsdemos in Israel dabei zu sein. Ido und Hannan sind sich bewusst, dass ihr Unterfangen auf der Bühne in jedem Augenblick zum Scheitern verurteilt sein kann, aber Profis genug, dass dies nicht passiert. Ihr geistreiches Pas de deux fesselt, macht betroffen und lädt gleichzeitig zum Lachen ein und hinterlässt beim Publikum viele Gefühle und noch viel mehr Stoff, um nachzudenken.

„Was wirst du tun? Weggehen? Bleiben?“ fragt Ido seinen Kollegen Hannan am Schluss, der keine schlüssige Antwort darauf weiß. Vielmehr betten sie ihre letzten Überlegungen ein in die großen europäischen Mythen wie jene von Odysseus und Troja, jener Stadt, die in Asche gelegt wurde und verorten damit das Grauen und das Leid, aber auch die Wiederauferstehung aus dem Staub in jene jahrtausendealten Erzählungen, die heute noch genauso Gültigkeit haben wie in der Antike.

Welch wunderbare Referenz auch an die gastgebende „wortwiege“, welche in ihren Festivals ebenfalls immer wieder antike Stoffe aufgreift, um exakt dasselbe zu verdeutlichen. Prädikat: Absolut sehenswert!

Medea fesselt nach 2500 Jahren immer noch

Medea fesselt nach 2500 Jahren immer noch

Beim „wortwiege – Festival“, das noch bis 24. März unter dem Motto „fragil/fragile“ geballte Theaterpower nach Wiener Neustadt bringt, ist diese Inszenierung gut aufgehoben. Nicht nur, dass sie sich mit einem eleganten und passgenauen Bühnenbild von Andreas Lungenschmid perfekt in den historischen Wehrbau aus der Renaissance einfügt. Auch die Programmatik, über die Festspieljahre hinweg die großen europäischen Mythen zu erzählen, die die abendländische Kultur maßgeblich geprägt haben, macht gerade an diesem Ort Sinn.

"Medea - Alles Gegenwart" in Wiener Neustadt (Foto: Julia Kampichler)

„Medea – Alles Gegenwart“ in Wiener Neustadt (Foto: Julia Kampichler)

Die Geschichte rund um die „Zauberin“ Medea lässt in der Krassnigg-Inszenierung kein einziges Mal einen antiquierten Mief aufkommen. Ganz im Gegenteil: Tatsächlich ist das Drama um die betrogene Frau, die sich ihrer Söhne und Lebensgrundlage beraubt, dazu entschließt, Rache an ihren Peinigern zu nehmen, emotional hochaktuell. Und fulminantest vom Ensemble gespielt. Nina C. Gabriel agiert als Medea so, dass sie in keinem einzelnen Augenblick ein outriertes, theatrales Gehabe aufkommen lässt. Vielmehr taucht sie in jede einzelne Emotion mit unglaublicher Verve ein, lässt dunkle Schatten in ihren Gedanken spürbar werden, oder legt ihre Verzweiflung offen, die sie letztlich zur Ermordung ihrer Kinder treibt. Schon als „Danton“ brillant, zeigt sie auch in dieser Rolle, dass sie der Titulierung „Grande Dame der Emotionen“ mehr als gerecht wird.

An ihrer Seite spielt Jens Ole Schmieder atemberaubend Jason, jenen verachtenswerten Charakter, der in höchster Not lieber sich selbst als seine Frau rettet. Seine Charakterdarstellung changiert zwischen Verzweiflung, Herrschsucht, Begehren, Verachtung und grandioser Selbstüberschätzung und lässt keinen Zweifel aufkommen, dass Medea seinen Handlungen einen Gegenpol setzen muss. Er braust auf, unterwirft sich, ist voller Berechnung und dann wieder kleinlaut – eine schauspielerische Leistung, vor der man den Hut ziehen muss.

Mit Peter Scholz konnte Krassnigg ein langjähriges Mitglied der Josefstadt verpflichten und landete damit einen weiteren Volltreffer. Sein König Kreon ist ein hinterlistiger, machtbesessener und über Leichen gehender Typ, der die Chuzpe hat, Medea noch in der allertiefsten Erniedrigung, die er ihr antut, höhnisch ins Gesicht zu lachen. Sein Spiel ist so provokant, dass man ihn am liebsten in jeder einzelnen Szene barsch zur Rede stellen möchte, ob er sich seines unmöglichen Benehmens nicht in Grund und Boden schämen möge.

Nur seine Tochter Kreusa – die von Saskia Klar höchst facettenreich dargestellt wird – kann ihm mit Rippenstößen Einhalt gebieten, wenn er rotzfrech beleidigend über die Stränge schlägt. Klars Kreusa lässt subtil erkennen, dass hinter ihrem naiven, kindlichen Gutmenschengehabe doch eine große Portion Eigennutz steckt – jedoch psychologisch klug verbrämt.

Die Inszenierung wartet, als USP von Krassnigg, wie immer mit einer Verschränkung des Bühnengeschehens mit Videoeinspielungen auf. In dieser Produktion gelingt ihr dadurch zugleich auch so mancher Rückblick in Medeas und Jasons Vergangenheit. Was Grillparzer in seinem ersten Teil der Trilogie „Das goldene Vlies“, dem „Gastfreund“, sowie dem zweiten Teil „Die Argonauten“, erzählte und für das Verständnis von Medeas Charakter wichtig ist, wird in kurzen filmischen Szenen sichtbar. Ebenso dachte die Regisseurin aber auch an die beiden Söhne von Medea, die ihre Mutter letztlich auch im Stich lassen. Auch hier sind es Filmszenen, die zeigen, dass ein lustiges, unbeschwertes Leben in Saus und Braus für sie wesentlich attraktiver ist als eines an Entbehrungen an der Seite von Medea. Sichtlichen Spaß bei den Filmaufnahmen hatten Flavio Schily und Nico Dorigatti als jugendliche Söhne. Die Verzahnung mit dem Geschehen auf der Bühne ist spannend und überraschend und erweitert die Produktion mehr als positiv. Christian Mair steuerte sowohl das Film- als auch das Musikmaterial bei. Letzteres mit einem emotional-sphärischen Touch, der die Gefühle beim Zusehen zusätzlich unterstützt.

Auch die Bühne – ein roher Altarstein inmitten von sandigem Boden, vor einem mehrere Meter hohen Vlies und einem dahinterliegenden, sichtbaren antiken Portikus, als auch umgestürzten, schwarzen Säulenstümpfen, oszilliert zwischen einem Gestern und Heute, zwischen Macht und Vergänglichkeit. Die österreichisch-griechische Künstlerin Evelyne Papadopoulos, steuerte mit ihrem beeindruckenden Kunstwerk aus Schafsfell ein Vlies bei, das verdeutlicht, dass es seine Macht ist, nach der im Grunde jeder der Männer in diesem Drama strebt. Gerade die Größe des Vlieses und die natürlich scheinende Behandlung – die Locken der Schafsfelle werden fast haptisch erfahrbar – ergeben eine wunderbare Analogie zu dessen wahrer Bedeutung.  Antoaneta Stereva, langjährige Kostümausstatterin der wortwiege, schuf Outfits, die archaisch wie modisch zugleich erscheinen. An einzelnen Stellen genügt das Umlegen eines Tuches oder eines Schales, um eine bestimmte Bedeutungsebene zu unterstützen. Dass Medea einen langen fingerlosen Handschuh in Dunkelrot trägt und ihr Mann Jason gegengleich einen schwarzen, sagt ebenfalls viel über ihre Gefühle zueinander aus.

„Medea – Alles Gegenwart“ wird Anna Maria Krassniggs Ruf gerecht, eine Regisseurin zu sein, die aus den Tiefen der Charaktere all das ans Tageslicht bringen kann, was ihr Tun, und sei es noch so monströs, erklärbar macht.

Meeresglitzern und Feuerknistern

Meeresglitzern und Feuerknistern

Laut der griechischen Mythologie war die aus phönizischem Königshaus stammende Dido die Gründerin von Karthago. Sie flüchtete vor ihrem Bruder aus ihrer Heimat und erhielt durch intelligentes Handeln im neuen Land, in dem sie mit Gefolgschaft und Schiffen angekommen war, so viel Grund und Boden, dass sie Karthago erbauen konnte. Die als große, schöne, kluge und unantastbare Königin beschriebene Frau verliebte sich durch Zutun der Götter in Aeneas, der, aus Troja geflohen, bei ihr um Bleiberecht ansuchte. Die Liebesgeschichte, die tragisch endet, wurde in der Literatur vielfach verarbeitet und fand Eingang in rund 90 Opern. Henry Purcell schuf „Dido und Aeneas“, aus welcher ‚Didos Lament‘ eine der bekanntesten und schönsten Trauerarien der Operngeschichte hervorging.

Der türkische Tänzer und Choreograf Korhan Basaran gastierte beim wortwiege-Festival „Europa in Szene“, das dieses Mal den Untertitel „Sea change“ trägt. Er präsentierte sein Tanzstück „Dido“ in welchem er selbst in die Rolle der von Aeneas geliebten und dann verlassenen Frau schlüpft. Die Götter verlangen von Aeneas, Dido allein in Karthago zurückzulassen, um mit seinem Volk über das Meer zu segeln, um selbst eine Stadt, nämlich Rom zu gründen. Das bricht der einst so stolzen Frau das Herz. Basaran verdichtet das Geschehen auf die letzten Momente in Didos Leben, nachdem sie von Aeneas verlassen wurde und macht sämtliche Emotionen sichtbar, die Liebesleid mit sich bringen kann.

Dabei konzentriert er sich in Didos innerem Monolog auf jene existenziellen Emotionen, die im Augenblick des Verlassenwerdens auftauchen. Kleine Papierschiffchen, vom Publikum unter seiner Anleitung zu Beginn der Performance gefaltet und auf dem Bühnenboden platziert, machen klar: Es ist das Meer, das die beiden Liebenden zusammengebracht hat, aber letztlich auch wieder trennt.

Unterfüttert mit musikalischen Layern des Komponisten Tolga Yayalar, schwingt von Beginn an Purcells Dido-Lament mit. Ist es zuerst nur die Harmonieabfolge, in elektronische Klänge umgesetzt, die zart zu vernehmen ist, wird am Ende Dido den Refrain dieses Lamentos selbst laut und emotional heftig bewegt, mitsingen. Yayalar kreierte auch die auditiven Wahrnehmungen des Horns eines großen Dampfers, das Zwitschern von Vögeln, bedrohlich klingende Dämonengeräusche und das Knacksen und Knistern von brennendem Holz. Ataman Girisken trägt mit seinen Visuals ebenfalls maßgeblich zum Erfolg der Produktion bei. Je nach Stimmung taucht er den Raum in glitzernde, blau-weiße Wellenbrechungen, versieht ihn mit einem funkelnden Sternenhimmel, verwandelt ihn in eine dunkle Höhle oder löst beängstigende Moment aus, als Dido am Scheiterhaufen ihren Tod findet. Rote Feuerzungen lodern so lange, bis sich die am Boden liegende Figur von Dido visuell auflöst. Die anschließende wabernde Feuersbrunst bleibt auch in ihren abstrakt gestalteten Wellenbewegungen spürbar, die zugleich unglaublich ästhetisch wirken.

Korhan Basarans Dido wird von schmerzhaften Zuckungen gebeutelt, lässt aber auch jene Abwehrhaltung erkennen, die aus verletztem Stolz resultiert. Ein ausdrucksvolles Mienenspiel macht jede einzelne emotionale Regung sichtbar. Sei es Verzweiflung, Angst, Hoffnung oder Abscheu. Die groß gewachsene Figur in einem langen Rock, den Oberkörper nur mit einem Shirt bekleidet, vermittelt auf zeitgenössische Art jenes Dido-Bild, das in der Überlieferung weitergegeben wurde. Basaran schlüpft aber auch in Aeneas, der mit einer Laterne in der Hand Dido beteuert, dass es nicht sein Wille, sondern jener der Götter sei, warum er sie verlassen müsse.

Es ist die brillant gestaltete Melange aus seinem ausdrucksvollen Tanz, den ausgewählten Textpassagen nach Vergil und Christopher Marlowe, die er rezitiert, den stimmungsvollen Visuals sowie der Musik, die ein harmonisches, emotional packendes Bühnenereignis ergeben. Mit Basarans Dido-Interpretation schreibt er eine Überlieferung weiter, die unzählige Generationen bisher in ihren Bann gezogen hat und nach der Publikumsreaktion zu schließen auch heute noch emotional packt.

Vom äffischen Gang zum menschlichen Joggingwahn

Vom äffischen Gang zum menschlichen Joggingwahn

Der Mensch bewegt sich und kämpft von seinen ersten bis zu seinen letzten Tagen gegen die Schwerkraft. Dies ist eine der Kernaussagen von Aleksandar Acev, der von der wortwiege in die Kasematten von Wiener Neustadt eingeladen wurde. Im Rahmen des Festivals „Europa in Szene“, in der speziellen „Sea change“-Ausgabe, rockte er den Saal mit seiner Produktion „Lucy was not long ago“.

Acev ist „Körpersprachenlehrer“, Autor, Regisseur sowie Hochschullehrer an verschiedenen europäischen Universitäten und vermittelt sein Wissen dort an Schauspiel-Studierende. Sich auf der Bühne zu bewegen und dabei treffsicher jenen Ausdruck zu finden, der zum jeweiligen Charakter und der jeweiligen Situation passt, ist das eine. Im Alltag Menschen zu beobachten und in wenigen Augenblicken ihren emotionalen Zustand oder sogar ihren Charakter zu analysieren – auch das ist mit der Bodylanguage-Kenntnis von Acev möglich. Beide Vermittlungszugänge werden in seiner Performance thematisiert – jedoch nicht theoretisch trocken, sondern mit seinem grandiosen Körpereinsatz sichtbar gemacht.

C Julia Kampichler Lucy was not long ago ASC 0069

Lucy was not long ago (Foto: Julia Kampichler)

Die Äffin Lucy gilt als eine jener Vorfahren des Menschen, die den aufrechten Gang praktizierten und somit unsere Lebensform auf zwei anstelle von vier Beinen begründeten. Acev geht mit viel Wissen, Körpergefühl und einer großen Portion Humor an dieses Thema heran und begeisterte mit seiner Geschichte über die tierische und menschliche Bewegungshistorie das Publikum quer durch alle Altersstufen.

Vom leichten Einstieg, der Erklärung und dem Aufzeigen vieler möglicher menschlicher Gangarten hin zu vier grandios performten, verschiedenen Schulterblicken und die daraus resultierenden unterschiedlichen Ausdrucksformen, reichte seine fulminante Show. Mit Lucy an der einen und Scully – einem miniaturhaften menschlichen Gerippe – auf der anderen Bühnenseite hatte er zwei  künstliche Antipodinnen zu sich geholt, die von ihm mit Leben gefüllt wurden.

Besonders unterhaltsam gestaltete er jenen Part, in welchem er seine Beobachtungen von joggenden Menschen vorexerzierte: Dabei stellte er einen Typus, der sich durch seine Lockerheit und seinen hüpfenden Gang auszeichnet, einem anderen gegenüber, der, mit nach hinten gebeugtem Oberkörper in seiner Vergangenheit festzustecken schien. Wieder andere, die mit dem Kopf voraus, ohne Wenn und Aber, in die Zukunft stürmen oder solche, die sich gramgebeugt dennoch auf die Laufstrecke begeben – sie alle und noch viele mehr wurden beinahe im Sekundentakt abwechselnd von Acev imitiert. Dabei jonglierte der Performer genauso gut mit Worten, die seinen Auftritt begleiten.

Die unterschiedlichen Begrüßungsmöglichkeiten, unterwürfig, abwertend, ängstlich oder hoffnungsfroh lösten genauso heitere Stimmungen aus wie die Hinweise auf die direkte Lucy-Verwandtschaft im Bereich männlicher Sportsgrößen. Das sich mit geballter Faust auf die Brust Schlagen des Tennisspielers Djokovic, der berühmte, unvergessene Kopfstoß des Fußballers Zinédine Zidane – bei der WM gegen den Italiener Materazzi – oder der breitbeinig ausgeführte Torjubel seines Kollegen Ronaldo: All diese kurzen und dennoch so markanten Bewegungen, durch den Pantomimen vorgeführt, machten klar, dass Lucy und ihresgleichen noch gar nicht so lange ausgestorben sein können. Die Entwicklung der Verschmelzung des Menschen mit seinem Stuhl – auch das war ein Thema, das wie ein Augenöffner für die eigenen Bewegungsmuster diente. Wer lümmelte nicht schon mehrfach am Bürostuhl ohne Energie, wer hatte nicht bereits einmal das Gefühl, mit seiner Tastatur verschmolzen zu sein und wer fühlte sich nicht aufgefordert, seinen Körper öfter sportlichen Betätigungen auszusetzen?

Das wohl Verblüffendste an Acevs Performance ist die Erkenntnis, dass man mit dieser Art von „Edutainment“ in kurzer Zeit einen Wissenszuwachs erhält, den man durch stundenlanges Bücherlesen nicht bekommen würde. Und das auf höchst lustvolle Art und Weise. Alle, die „Lucy was not long ago” gesehen haben, wurden vom Künstler an unterster Stelle mit einer neuen Beobachtunssensibilität ausgestattet. Welch großartiger Side-Effekt, ausgelöst durch ein Theaterereignis im Rahmen des wortwiege-Festivals.

Mit den Augen eines Kindes

Mit den Augen eines Kindes

1

Wunderland (Foto: ECN)

Im Rahmen des Dramatiker:innenfestivals am Schauspielhaus in Graz lieferte die Regisseurin Kurdwin Ayub mit „Wunderland“ eine kleine, aber feine Arbeit ab. Dass man an ihr bezahlfrei teilnehmen konnte, sollte besonders hervorgehoben werden. Niederschwellig war der Zugang auch aufgrund der Location. Hinter dem Schauspielhaus, wo sich einst die ehemalige Landesdruckerei befand, wurde in einem Raum ein kleines Zelt installiert, in welchem zwei Leute auf Stühlen Platz nehmen konnten. Ausgestattet war es mit allerlei Plüschtieren, kindlich-heimelig arrangiert. Ayub schuf einen Virtual Reality Film von 15 Minuten mit mehreren Szenen, welchen man mit einer VR-Brille folgen konnte. Der Inhalt: Die Beziehung eines jungen Künstler-Paares mit einem kleinen 2-jähringen Kind. Das Besondere daran war nicht der Konflikt zwischen den beiden Jungeltern, sondern vielmehr, dass dieser Konflikt so in Szene gesetzt worden war, dass sich das Publikum in die Gedankenwelt und das Wahrnehmungsspektrum des Kindes versetzen konnte.

Dafür wurden viele Close-ups aufgenommen, bei welchen sich die Eltern (Maresi Riegner und Valentin Postlmayr) in knappem Abstand an die Kamera begaben und so bei den Zusehenden der Eindruck entstand, als Kind ganz nah bei ihnen zu sein. (Kamera Markus Zizenbacher) Die Spannungen, die sich zwischen den Erwachsenen entwickelte, lösten beim Kind Ängste aus, die sich in einem Traum-Clip manifestierten. Ausgelöst bei den Betrachtenden wurde dadurch eine Empathie dem kleinen Mädchen gegenüber, die vielen in dieser Art im Laufe des Lebens abhandengekommen ist. Etwas zu wissen – wie in diesem konkreten Fall, dass Kinder von Albträumen geplagt werden können – und es selbst wieder zu spüren – sind zweierlei Dinge. Tatsächlich ist es der Regisseurin gelungen, trotz der Kürze des Films, dieses „Wiederspüren“ auszulösen.

Darüber hinaus lieferte sie mit der Beziehungskonstellation jede Menge Stoff, sich über die tradierten Geschlechterrollen zu unterhalten und sich der Dilemmata, die sich dadurch ergeben, bewusst zu werden. Julia Libisellers Szenenbild – eine Altbauwohnung vollgeräumt mit alltäglichen Versatzstücken und Kinderspielzeug, sowie die zeitgemäße Kostümausstattung von Carola Pizzini trugen wesentlich zum Gelingen der Produktion bei.

Pin It on Pinterest