Erarbeitet wurde dieses Multi-Kulti-Opern-Ethno-und-U-Musik-Spektakel von einem Kollektiv, deren Mitglieder aus dem Bereich Musik, Literatur, Schauspiel, Tanz sowie Regie kommen. Der Ansatz, der dabei sichtbar wurde: Auch eine Oper kann demokratisch auf die Bühne gebracht werden und ganz der Postmoderne verpflichtet, ohne eine große Geschichte auskommen. Obwohl die Erzählung der Gefangenname von Konstanze und ihrer Liebe zu Belmonte doch nicht außen vorgelassen wurde.
Opernpuristen jagte diese Inszenierung mit Sicherheit Schauer über den Rücken. All jene, die sich unvoreingenommen auf eine künstlerische Neuerkundung von Musiktheater einlassen konnten und Spaß an unverkrampften Bühnenfassungen von großen Opernstoffen haben, kamen auf ihre Kosten, denn: Die Verzahnung der klassischen Opernaufführung mit postdramatischen Ideen funktionierte unter diesen Prämissen aufs Prächtigste.
Mozart versus afrikanische Beats
Dabei durfte man neben jeder Menge musikalischer und tänzerischer Einlagen auch den Hauptplot und die Hauptfiguren aus Mozarts Entführung kennenlernen. Das radikal gekürzte Libretto wurde dramatisch von Eric Parfait Francis Taregue alias SKelly und Franck Edmond Yao alias Gadoukou la Star vorgetragen und von Hauke Heumann parallel dazu ebenso dramatisch und zugleich mit einer großen Portion Humor auf Deutsch wiedergegeben. Aber auch mit Bedacht ausgewählte Arien, Duette und Quartette gab es dabei zu hören. Bei weitem nicht alle, die Mozart für diese Oper komponiert hat. Die Streichungen verkündete Heumann lapidar mit dem Hinweis „gestrichen“ – was das Publikum jedes Mal aufs Neue höchst belustigte. Er selbst schlüpfte in die Rolle von Pedrillo, dem Geliebten der Zofe von Konstanze und gab sogar, trotz unausgebildeter Opernstimme, eine Arie zum Besten.
Les Robots ne connaissent pas le Blues (c) Knut Klassen
Man durfte aber auch Zeuge einer großen Kluft werden, die sich zwischen europäischer und afrikanischer Musiktradition offenbarte. „Die Oper, diese neue Erfindung Europas vor 250 Jahren, verkauft sich in die ganze Welt gut. Nur in Afrika nicht.“, ironisierte der ivorische Sänger SKelly jene Kunstgattung, die bei uns nach wie vor gemeinhin als die Krönung aller performativen Künste angesehen wird. Und im Handumdrehen präsentierte er dem Bassisten Patrick Zielke seine ureigene Interpretation der Arie „Hier soll ich dich denn sehen“. Mit jeder Menge Vitalität und kräftiger Stimme, den Text von einer großen Tafel ablesend, machte er dabei klar, dass er Mozart zwar schön findet, aber selbst eine gänzlich andere Auffassung von mitreißender Musik hat. Seine Interpretation war geprägt von afrikanischem Rap und ebensolchen Rhythmen und von einer extremen Vereinfachung der musikalischen Struktur.
Die Dekonstruktion einer Oper
Nicht nur einmal brachten SKelly, Gadoukoula Star und Gotta Depri das hochkarätig besetzte Opernensemble zum Schwitzen. So geschehen bei Nerita Pokvytyte, die während ihrer Arie den choreografischen Vorgaben ihres afrikanischen Kollegen folgen wollte und sich dabei vom einbeinigen Stehen bis hin zum Spagat körperlich betätigte. Nicole Chevalier wiederum erklärte dem Publikum, das auch aufgerufen worden war, sich direkt auf die Bühne zu begeben, welche Gedanken ihr beim Singen durch den Kopf gehen. Köstlichst, wie sie selbst die kleinsten Pausen ihrer Koloraturarie dazu nützte, um Hinweise wie „Stütze, Stütze!“ oder „leise, leise“ zu artikulieren und dabei zugleich die emotionale Unterfütterung ihres Gesanges konterkarierte.
Die beständige Infragestellung was, warum und wie auf einer Bühne zu Gehör gebracht wird und die dadurch erreichte sukzessive Dekonstruktion der Oper verlieh Mozarts „Entführung“ einen völlig neuen Dreh. Dabei stand, trotz aller kulturkritischer und theaterkritischer Hinterfragungen der Spaß im Vordergrund. Hauke Heumann ließ dabei mit der Feststellung aufhorchen, dass seine Rolle, in die er in dieser Inszenierung schlüpfen durfte, für ihn nicht nur eine neue Erfahrung abseits seiner ihm bekannten Performancedarbietungen im postdramatischen Theaterkontext darstellte. Vielmehr genoss er – laut eigener Aussage – dieses Verschwinden seiner eigenen Person hinter der Rolle. Das bedeutete für ihn aber zugleich auch, nicht krampfhaft aus dem eigenen Erlebnisfundus einen Bühnenbeitrag beisteuern zu müssen.
Les Robots ne connaissent pas le Blues (c) Knut Klassen
Monika Gintersdorfer und Benedikt von Peter (Regie), Knut Klaßen (Bühne und Kostüme mit „Experimentalkleidung“ von Marc Aschenbrenner) sowie Ted Gaier, der für das Sounddesign abseits von Mozart sorgte, wirbelten mit dem afrikanischen Ensemble die herkömmliche „Entführung aus dem Serail“ gehörig durcheinander. Dennoch blieb der Camerata Salzburg unter Markus Poschner noch genügend Raum, um der zeitgenössischen, musikalischen Bühnenvitalität aus Afrika einen adäquaten Gegenpol gegenüberzustellen.
Eine höchst gelungene Inszenierung, die es vorzüglich schaffte, Kulturkritik mit Humor über die Bühne zu transportieren und europäische Musikgeschichte mit afrikanischer Gegenwartsmusik zu verzahnen.
Ivo Dimchev, Multitalent auf der Bühne, widmete sich in seiner Inszenierung „Operville“ einen Abend lang diesem Thema. Auf seine ganz eigene, spezifische Art. Mit einer großen Menge Humor, mit viel Augenzwinkern, aber auch mit großen Emotionen und einer höchst gelungenen Musikmischung.
ImpulsTanz, das in diesem Jahr einen Ivo Dimchev-Schwerpunkt mit insgesamt 5 Produktionen anbietet, zeigte das Stück im Akademietheater vor viel jungem Publikum. Die Zutaten, die Dimchev für seine Oper verwendete, sind die herkömmlichen. Verschiedene Charaktere, eine Mann-Frau-Mann-Beziehung, Gesang, aber ein Bewegungsvokabular der außergewöhnlichen Art. Dabei schlüpfte der Performer in die Rolle eines höchst unattraktiven Werbers, der gegen einen Bassbariton um die Liebe einer Sängerin buhlt. Die Bühne bleibt kahl bis auf einen Stuhl. Die intensive Bühnenpräsenz von Dimchev, so hat man den Eindruck, verträgt sich nicht mit illusionistischen Räumen.
Die Geschichte ist rasch erzählt – ein Hin und Her bestimmt das Geschehen, das mit einem Happyend aufhören könnte, würde Dimchev sich diesem nicht wider jede Vernunft entgegenstemmen. Bevor es aber so weit ist, müssen noch allerhand Hürden genommen werden. Nickolay Voynov hat zwar eine stimmliche Überlegenheit aufzuweisen, gegen den intriganten und beherrschenden Dimchev ist er jedoch beinahe machtlos. Da hilft es ihm auch nicht, dass er bei Gelegenheit einmal versucht, mit ausgestrecktem Finger Dimchevs Auge zu ramponieren. Dieser, ausgestattet mit einer weizenblonden Perücke und einem Straßenoutfit, das Geschmack zu wünschen übriglässt, wechselt seine Gefühlslage beinahe im Minutentakt. Zwischen ärgern, freuen, sich unterwerfen, zwischen liebender Zuneigung, Abschätzigkeit und hündischer Ergebenheit ist so ziemlich alles an emotionalem Ausdruck anzutreffen, was in etwas mehr als einer Stunde auf der Bühne Platz finden kann.
16_IvoDimchev_Operville_36(c)IvoDimchev
Plamena Girginova gibt eine unantastbare Schönheit in dunkelrotem Samt, lässt alles über sich ergehen und mit ihr geschehen, was Dimchevs Regie von ihr verlangt. Dabei muss sie einmal sogar auf dem Kopf singen.
Der Text, der auf der Bühne gesprochen, respektive gesungen wird, bleibt unverständlich. Ein krudes Kauderwelsch, dessen Bedeutung sich nur durch vereinzelte Betonungen sinngemäß erahnen lässt, bietet die Basis des Geschehens. Es sind vielmehr die nonverbalen Ausdrucksmöglichkeiten, die klarmachen, was sich in den einzelnen Szenen abspielt. Lautgedichte und rhythmische Sprachinterventionen wie jenes Duett, in dem Dimchev mit Voynov „what the fuck“ intoniert, geben der Vorstellung weitere Würze.
Herrlich, wie Dimchev die Beziehungsfäden spinnt und an einer Stelle seinen Widersacher wie eine Kuh muhend an die Rampe nach vorne schickt. Wunderbar, wie er sich kniend an dessen Hand klammert, um ihn zu beschwören und um Verzeihung zu bitten. Köstlich, wie er ihn mit herrischer Geste von der Bühne abgehen lässt um freie Bahn für sein Liebeswerben zu haben. Zugleich läuft eine Übertitelung, in der das Absurde zur Höchstform aufläuft, aber einzelne Sätze wiederum höchst philosophisch und passgenau das Geschehen bezeichnen.
Die Headbanging-Nummer, die Dimchev zu Chopins Klängen zeigt, unterstreicht in unglaublich witziger Manier den Charakter jenes Mannes, der das Glück anderer nicht akzeptieren kann.
Die Musik selbst wandert einmal quer durch verschiedene Genres des 19. und 20. Jahrhunderts. Von atonal bis hin zu einem wunderbaren Duett, das Girginova und Voynov zu eine Chopin-Etüde zum Besten geben, in der klar wird, warum Oper auch heute immer noch Bestand hat, von einer von Dimchev im Falsett vorgetragenen Melodie, die an die Bee-Gees der 80er Jahre erinnert bis hin zu Country-and-Western-Klängen spannt sich der Bogen.
Vom Anziehen und Verstoßenwerden, von Rivalität und Einsamkeit handelt dieses Stück, aber vor allem seziert es wie kaum ein anderes das Operngenre an sich. Es deckt die Banalitäten der zwischenmenschlichen Beziehungen, die darin oft abgehandelt werden, schonungslos auf. Es zeigt, und dazu reicht Dimchev auch nur ein einziges Beispiel, dass perfekt eingesetzte Musik die Emotionen übergehen lässt und macht damit überdeutlich, warum diese Kunstgattung so viele Menschen anzieht. Zusätzlich aber versehen die Texte, die Dimchev mit den Übertiteln in das Geschehen einbringt, die Produktion mit einer weiteren Ebene. Nicht nur darum wäre es falsch, „Operville“ als reine Klamaukkiste abzustempeln.
Eine wunderbare Satire, die einmal mehr Ivo Dimchev als Künstler zeigt, der, wie kaum ein zweiter, die Kunst der Selbstpersiflage bis zur Perfektion beherrscht.
Die Gräuel des Naziterrors auf die Bühne zu bringen, auf eine Opernbühne noch dazu, ist eine spezielle Herausforderung. Nicht nur, dass die Musik dafür erst in einer adäquaten Form erklingen muss, auch die Geschichte selbst muss authentisch sein und zutiefst berühren. Und das ohne Kitsch oder falsches Pathos. „Die Passagierin“ ist ein viel zu wenig bekanntes Meisterwerk, welches in den 60er Jahren von Mieczyslaw Weinberg vertont wurde.
Die Passagierin Foto Oper Frankfurt (c) Barbara Aumüller
Das Libretto von Alexander Medwedew wurde nach einem Roman von Zofia Posmysz verfasst. Posmysz, die als politische Gefangene selbst in Auschwitz und Ravensbrück interniert war, erinnert in ihrem Buch aus dem Jahr 1962 an reale Personen. Das Liebespaar Marta und Tadeusz, die darin vorkommen, hat es tatsächlich gegeben. Weinberg beendete seine Partitur 1968 in der Sowjetunion, in die er während des Krieges geflohen war. Die Oper, die im Rahmen der Wiener Festwochen im Theater an der Wien leider nur zwei Mal gezeigt wurde, war eine Übernahme einer Aufführung der Frankfurter Oper. Inszeniert wurde sie von Anselm Weber, der sich der Herausforderung zu stellen hatte, dem Publikum zumindest eine Ahnung davon zu vermitteln, was in einem Lager wie Auschwitz geschehen war und welche Nachwirkungen das Grauen noch Jahrzehnte später in den Menschen hervorrief. Katja Haß setzte in ihrem herausragenden Bühnenbild die beiden schwierigen, räumlichen Situationen, zwischen denen zwei Erzählstränge permanent wechseln, plausibel um. Sowohl der Passagierdampfer als auch die Situation im Lager in Auschwitz konnten durch die Drehbühne innerhalb weniger Augenblicke visualisiert werden.
Die Geschichte zeigt, wie sich das deutsche Wach- und Aufsichtspersonal von Auschwitz noch während seines Dienstes in dem Lager von jeder Schuld freispricht. „Wir führen ja nur Befehle aus“ ist an einer Stelle zu hören. Darüber hinaus wir aber auch die Solidarität unter den gefangenen Frauen deutlich, sowie die Ausnahmen dieses Zusammenhaltes durch eine Denunziantin. Die Erlebnisse der Häftlinge haben in Lisa, einer ehemaligen KZ-Wärterin tiefe Spuren hinterlassen. Das Zusammentreffen mit Marta, einer ihrer ehemaligen Gefangenen, auf einem Schiff, mit dem sie gemeinsam nach Brasilien fahren, entlarvt schließlich ihre Vergangenheit, die sie vor ihrem Mann verbergen wollte.
Mieczyslaw Weinberg, der seine jüdische Familie ebenfalls im Krieg verlor, verwendete nicht nur ein Libretto mit mehreren Sprachen – Deutsch, Polnisch, Englisch, Jüdisch, sondern auch unterschiedliche musikalische Stilmittel. Steht er in einigen Passagen der zweiten Wiener Schule nahe, besonders in jenen, in welchen sich das deutsche Ehepaar Walter und Lisa über das Geschehen in Auschwitz unterhalten, lässt er an anderen Stellen das Dur und Mollgefüge durchblitzen.
Während die Bläser und Schlagwerker den Streit zwischen Walter und seiner Frau zu Beginn heftig unterstützen und damit scharfe, laute Klänge erzeugen, wird Marta in ihren Arien meist nur mit leisen Geigenmelodien begleitet. Als Lisa, die mit ihrem Mädchennamen Franz hieß, das erste Mal auf dem KZ-Hof auftritt, spielt das Orchester eine höchst schräge Fassung des Volksliedes „O du lieber Augustin“, eine direkte Anspielung auf jene sagenumwobene Wiener Gestalt, die betrunken eine Nacht in einem Massengrab verbrachte, dem er ohne Schaden genommen zu haben, lebend entstieg.
Das Gebet einer Christin im Lager lehnt sich wiederum stark an orthodoxe Gesänge an. Weinberg scheute sich auch nicht, die Melodie des bekannten Chansons „padam, padam, padam“ von Edith Piaf zu verwenden. Er verwendet sie für jenen Walzer, den der Lagerkommandant von Tadeusz, der Musiker ist, unbedingt hören möchte. Dass diese Melodie von Norbert Glanzberg stammt, ist sicher kein Zufall. Glanzberg, jüdischer Abstammung, musste von den Nazis nach Frankreich fliehen und überlebte den Krieg als U-Boot untergebracht, auch bei Piaf selbst. In vielen Momenten illustriert die Musik das Geschehen direkt – so unterstreichen laute Percussion-Schläge und scharfe Bläser auch jene Momente, in welchen jüdische Häftlinge von ihren Kameradinnen getrennt und ins Gas geschickt werden. Bei einer Soiree auf dem Dampfer tanzen die Passagiere zu Jazz, der von einer kleinen Combo direkt auf der Bühne gespielt wird.
Anselm Weber stellt in den Schiffs-Szenen die ehemalige Wärterin Lisa, gekleidet in bunten 60er-Jahre Kleidern, Marta ganz in Schwarz gegenüber. Walter bekommt die Seelenpein seiner Frau nur am Rande mit – er ist damit beschäftigt, sich mittels Lektüre seine Informationen über den Krieg zu holen und schreitet mit einem Buch in der Hand durch Zeit und Raum. Vergessen ist weder für die Opfer noch für die Täter möglich. Für die einen wird es zur Pflicht, das Gedenken an die Leidensgenossinnen und –genossen aufrecht zu erhalten, für die anderen wird ihre Mithilfe im unmenschlichen System zur lebenslangen Gewissensplage.
Das Ensemble, allen voran Tanja Ariane Baumgartner (Lisa), Peter Marsh (Walter), Sara Jakubiak (Marta) und Tadeusz (Brian Mulligan) war bestens disponiert. Christoph Gedschold am Dirigentenpult leitete das Frankfurter Opern- und Museumsorchester sicher und einfühlsam zugleich durch die vielen schwierigen musikalischen Passagen. Ein Abend, den Wien dem scheidenden Intendanten Markus Hinterhäuser zu verdanken hat, der dieses Werk zu Recht als ein zentrales in der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts ansieht.
Regisseur Robert Carsen, der zuletzt an diesem Haus „Platee“ von Jean-Philippe Rameau mit großem Erfolg inszenierte, traf auch dieses Mal wieder ins Schwarze. Ihm gelang eine Deutung des antiken Stoffes, die es in sich hat.
Agrippina (c) Werner Kmetitsch
Händels Oper rund um die Machtspiele von Claudios Frau Agrippina ist nicht nur ein Augenschmaus und ein Fest für die Ohren. Carsen sorgt mit seiner Regie dafür, dass man meint, die Geschichte hätte sich gerade erst zugetragen. Es ist nicht die Kaiserposition im Römischen Reich, um die gestritten wird, sondern der Chefsessel eines Konzerns im heutigen Italien. Dieser „Thron“, um dessen Besetzung sich alles dreht, ist gleich zu Beginn inmitten eines pompösen Büros zu sehen. Agrippina unterschreibt Akten, die ihr vorgelegt werden. Ihr Sohn Nerone, ein noch schwacher Jüngling ohne große Ambitionen, erscheint im gestreiften Pyjama und schaut sich zuallererst einmal die Nachrichten auf dem Großbildschirm an. Nachrichten, die aus dem eigenen Konzern produziert wurden, wie sich noch herausstellen wird.
Die Besetzung ist dank der heutigen Quantität an jungen Countertenören am Original ausgerichtet. Nerone, Ottone und Narciso sind keine Hosenrollen, sondern werden von jungen Männern, die stimmlich für die Rollen sehr klug ausgesucht wurden, gesungen: Nerone von Jake Arditti, sein Gegenspieler Ottone von Filippo Mineccia. Beide zeigen ihre absolute Stärke im oberen Bereich ihrer Stimmlage. Beide werden, je länger der Abend dauert, umso ausdrucksstärker und voluminöser. Tom Verney, der Narciso, einen der jungen Getreuen von Agrippina gibt, wird von Thomas Hengelbrock im Dirigat sehr subtil unterstützt. Er drosselt bei seinen Arien die Dynamik, um Verneys Gesang nicht zu übertönen. Hengelbrock zeichnet sich darüber hinaus in jeder einzelnen Minute als höchst subtiler Dirigent aus, der sein Orchester unglaublich feinnervig unterstützt. Wie er einzelne Stimmen herauszugeben vermag, andere zu forcieren, wie er jede einzelne Arie im Geist, die Lippen bewegend, mitsingt, oder sich ab und zu zurücklegt, um bei Rezitativen nur dem Klang zu lauschen, hat wirklich große Klasse. Diese überträgt sich eins zu eins auf die Musikerinnen und Musiker des Balthasar Neumann Ensembles, das damit sein zu Recht viel bejubeltes Debüt am Haus gab. Die Originalinstrumente, bzw. historischen Nachbauten, glänzen mit einer tonalen Farbigkeit, die höchst organisch wirkt. Die Tempi gut gewählt, die Dynamik, wie schon angedeutet, extrem differenziert – all das trug zu einem wunderbaren musikalischen Ereignis bei, das von Lebendigkeit nur so sprühte.
Wie immer ist die Besetzung im Theater an der Wien äußerst gelungen, nicht nur was die Countertenöre betrifft. Pallante, neben Narciso einer der beiden von Agrippina Manipulierten, wird von Damien Pass besetzt, der mit einem schönen und klaren Bassbariton überzeugt. Auch Agrippina und Poppea wurden ideal ausgesucht. Patricia Bardon schenkt mit ihrem warmen und kräftigen Mezzosopran der Ränke schmiedenden Agrippina glaubwürdige Konturen. Danielle de Niese ist in ihrer Rolle als Poppea der absolute Star des Abends. Einfach toll, dass sie immer wieder in Wien Auftrittsmöglichkeiten bekommt und diese auch wahrnimmt. Der mittlerweile international gefragte Opernstar ist auch, was ihre schauspielerischen Ausdrucksmöglichkeiten betrifft, ein Ereignis. Jede Geste, aber auch jede Mimik sitzt, macht Spaß, überzeugt. Ganz abgesehen von ihrer wunderbaren, klaren, kräftigen, niemals aber überstrapazierten Stimme. Die Geschmeidigkeit, die sie auch bei den allerkompliziertesten Koloraturen zu Gehör bringt, ist unglaublich.
Mika Kares, auch er gastierte schon mehrfach am Haus, überzeugte nicht nur mit seinem Bass, sondern auch seiner Darstellung Claudios. Groß gewachsen und stimmächtig ist er der Inbegriff eines achtungsgebietenden Herrschers. Dass zugleich aber auch jene Charaktereigenschaften sichtbar werden, die ihn zu einem lächerlichen und leicht zu übertölpelnden Mann machten, verdankt er der gewitzten Regieführung. Wunderbar, wie er mit herabgelassener Hose seiner angebeteten Agrippina hinterherläuft, angsteinflößend, wie er ihr wenige Momente später zeigt, dass er es ist, der gottgleich über jeden und jede herrschen kann. Dass Lesbo, sein Sekretär, ebenso unbeholfene Züge an den Tag legt wie sein Chef Claudio, wird durch die Darstellung von Christoph Seidl – Mitglied des Jungen Ensembles des Theater an der Wien – unterstrichen. Bebrillt und mit Pullunder ausstaffiert, ist er ein geschäftiger Nachrichtenüberbringer, der weder eine Gefahr für seinen Herrscher, noch für die diversen Liebhaber der beiden Frauen darstellt.
Agrippina (c) Werner Kmetitsch
Die Regie ist dort besonders eindrucksvoll, wo sie die Aktionen der Beteiligten bewusst übertreibt. Nerone verschenkt seine angeblichen Almosen nicht an richtige Bedürftige, sondern an Statisten aus seinem Unternehmen, die während seiner Geldverteilaktion von den TV-Kameras in Großbild eingefangen werden. Poppea wird von Agrippina von Kopf bis Fuß mit Nobelmarken wie Armani, Prada oder Gucci eingekleidet, wobei ihr die Intrigen schmiedende Agrippina mit schwarzen Ballerinas keine Freude bereitet. Die um eine Generation jüngere Poppea hat die männerbetörende Ausstrahlung von High Heels längst erkannt und würde lieber barfuß gehen, als das brave Mädchen in absatzlosen Schuhen mimen. Carsen scheut sich auch nicht, Agrippina in einer Szene am Pool als Nymphomanin darzustellen, die auf einer Sonnenliege zum Mittelpunkt einer Gangbang-Nummer wird. Naiv, wer diese Szene nicht so interpretiert.
Der absolute, humorige Höhepunkt findet schließlich in Poppeas Schlafzimmer statt, in welchem Nerone und Ottone sich vor Claudius verstecken und im Eiltempo auf allen Vieren vor seinen Blicken über die Bühne hoppeln. Was für ein herrlicher Spaß, der schon im Libretto dieser Szene angelegt ist. Es sind jedoch die allerletzten Sekunden, die einem in der Inszenierung den Atem rauben. Robert Carsen schafft es, mit einer geschickten Lichtregie und wenigen, raschen Aktionen auf der Bühne, in die Zukunft von Agrippina, Claudio und Poppea zu blicken. Dass Nerone dabei in ein hysterisches Lachen verfällt, ist nur folgerichtig und macht zugleich all das, was zuvor als Happy End angelegt war, mit einem Schlag zunichte. Die Ermordung der Personen geschieht während der Feier zur Ernennung Nerones zum Nachfolger von Claudio. Die jungen Bodyguards, ausstaffiert mit Springerstiefeln, Muscle-Shirts und Pistolenhalftern, entpuppen sich als gedungene Schergen, die ihr Handwerk verstehen.
Gideon Davey, für die Ausstattung verantwortlich, schafft mit seinen hohen, kühlen, zugleich aber auch edlen Räumen für das passende Surrounding. Die pompöse Architektur der 30er bzw. 40er Jahre in Italien feiert hier eine Wiederauferstehung. Fragmente des klassizistischen „Palazzo della Civiltà“ in Rom, für Mussolini nach dem Vorbild des Kolosseum erbaut, verwandeln sich auch hier in das Zentrum der Machtelite. Eine Wand, die in die Bühnentiefe fährt, während dahinter ein projiziertes Haus herangezoomt wird, schafft Bewegung, während das Ensemble auf seinen Plätzen verharrt. Der Swimmingpool ist mit seinen Wasserspiegelungen so naturalistisch angelegt, dass darin auch vermeintlich auf- und abgetaucht werden kann. Höchst ironisch, wie sich dieses Bild mit Ottones innigem und zartem Lamento vermischt, in dem er zu Beginn die lieblichen Quellen besingt, die sich durch die Gräser winden. Poppeas Schlafzimmer wird von einer riesigen Bettlandschaft beherrscht, die meterhohen Vorhänge im richtigen Moment via Fernbedienung zugezogen. Die Umbauten finden allesamt hinter dem Vorhang statt, was den Sängerinnen und Sängern währenddessen die Möglichkeit gibt, auf dem Proszenium nah am Publikum ihre Arien vorzutragen und kleine Tänzchen zu wagen, in welchen sich barocke mit zeitgeistigen Schrittkombinationen vermischen.
Es ist nicht ein bestimmtes Merkmal, das diese Inszenierung so lustvoll und denkwürdig macht. Ungezählte, originelle Regieeinfälle, ein beeindruckendes Bühnenbild, die gute Besetzung, sowie die herausragende musikalische Gestaltung ergeben ein Gesamtpaket, das man unbedingt noch rasch buchen sollte: Wenn man überhaupt noch Restkarten bekommt.
Am 29. März gibt es die Möglichkeit, die Agrippina via Live-Stream aus dem Theater an der Wien zu verfolgen. Nähere Infos hier.
Das Schlosstheater in Laxenburg ist vielen Wienerinnen und Wienern nur von außen bekannt. Gibt es doch eine wunderbare Kulisse bei einem der herrlichen Spaziergänge in seinem Park ab, die in der warmen Jahreszeit dort so beliebt sind.
Jetzt hat man Gelegenheit, den historischen Ort anlässlich einer Opernaufführung auch im Inneren zu besuchen. Das Teatro Barocco zeigt dort genau 230 Jahre nach der Uraufführung der „Hochzeit des Figaro“ diese Mozartoper, und zwar so originalgetreu wie möglich. Im Konzertsaal kann man schon seit einem guten halben Jahrhundert Aufführungen erleben, die der historischen Musikpraxis verpflichtet sind. Im Bereich der Oper jedoch gibt es hier, wohl aufgrund der aufwendigen Recherchen und Vorbereitungen, noch Aufholbedarf. In Österreich stellte sich der Intendant und Regisseur in Personalunion, Bernd R. Bienert, der für die Produktionen seines Teatro Barocco stets auf historische Spurensuche geht, dieser Herausforderung. Als ob dies nicht genug wäre, auch für das Bühnenbild und die Kostüme zeichnet er selbst verantwortlich. Eine übrigens auch historisch gesehen nicht unübliche Praxis, die sich klarerweise nach den finanziellen Gegebenheiten richtete. Bienert recherchierte, dass das Schlosstheater in Laxenburg, nach der Uraufführung im Burgtheater in Wien, das Stück im Sommer 1786 übernahm. Dank einer Anordnung Joseph II., der an diesem Ort der erholungssuchenden, adeligen Gesellschaft diese und andere Produktionen aus Wien als musikalische Kurzweil anbieten wollte.
Die Bühne, ungefähr 10 Meter breit und 10 Meter hoch, für den kleinen Theatersaal eigentlich überdimensioniert, konnte die Bühnenbilder aus dem Burgtheater 1:1 fassen, was eine enorme Kostenreduktion bedeutete. Das Orchester ist nicht, wie erst in späterer Zeit, in einem Bühnengraben verborgen. Vielmehr kann das Publikum, das in der ersten Reihe sitzt, den Musikerinnen und Musikern in die Noten schauen. Die intime Umgebung erzeugt ein ganz besonderes Flair mit dem Gefühl, hautnah am Geschehen teilzunehmen. Die Besetzungsliste des kleinen Orchesters, das auf alten oder historisch nachempfundenen Instrumenten spielt, ist kurz. Einzig die Violine ist zweifach vorhanden, alle anderen Streich- und Blasinstrumente sowie die Pauke – sind nur einmal vertreten. Das Klangresultat ist verblüffend. Mozart light, könnte man dazu sagen, was zugleich aber bedeutet, dass die einzelnen Instrumentalstimmen besonders gut wahrnehmbar werden. Wenn Cherubino in seiner Arie über seine ersten Liebeserfahrungen berichtet, dann empfindet man plötzlich das Pizzicato der Streicher wie den raschen Herzschlag eines jungen Mannes und nicht nur als kompositorisch gelungene Idee. Wenn der musikalische Leiter, David Aronson, die Rezitative am Hammerklavier begleitet, ertönt so manche kleine, musikalische Verzierung schalkhaft witzig. Er ist sichtlich mit großer Freude am Arbeiten und erhebt sich zwischendurch immer wieder kurz von seiner Klavierbank, um sichtbarer Einsätze geben zu können.
Die Kostüme, die Bienert bis auf wenige Ausnahmen aus einem Fundus zusammenstellte, geben in wunderbarer Weise auch das Gefälle zwischen Adeligen und Bediensteten wieder. Federn und viel Stoff, aufwendigst mit Schnürungen, Plissierungen und hohem Schneiderhandwerk auf der einen, grobes Leinen, Schürzen und Strohhüte auf der anderen Seite. Das Bühnenbild besteht aus unterschiedlichen, verschiebbaren Wänden, die sowohl das Innere von Almavivas Schloss als auch den nächtlichen Garten in sichtlich naiv-barockem Malgestus stilisieren. Die Kerzen, die an der Bühnenrampe aufgestellt sind, und deren flackenders Licht zart an den Wänden der Bühnendekoration sichtbar wird, lassen einen kleinen Eindruck zu, wie die Beleuchtung in der Zeit Mozarts gewesen sein könnte. Besonderes Augenmerk aber legt die Regie auf die Mimik und Gestik des Ensembles. Dabei kommt dem ehemaligen Tänzer an der Wiener Staatsoper sicherlich seine eigene Erfahrung auf diesem Gebiet zugute.
So entsteht eine äußerst lebhafte Interpretation, in der die Charaktere und ihre Empfindungen nicht nur durch die Musik hörbar, sondern auch sicht- und dadurch stärker fühlbar werden. Susanna – herausragend mit Megan Kahts besetzt, deren sowohl stimmliche als auch schauspielerische Leistung eine wahre Freude ist – ist oft händeringend zu sehen. Ihre Not, als Objekt der gräflichen Begierde zu gelten, kommt besonders gut auch in jener Szene zum Ausdruck, in der ihr der Graf unmissverständlich Avancen macht. Gezim Berisha führt in dieser Rolle an einer Stelle dabei sogar einmal ihre Hand zwischen seinen Schritt, deutlicher kann sein Verlangen wohl nicht zum Ausdruck gebracht werden. Und angeekelter hat man wohl noch keine Susanna reagieren gesehen. Juan Carlos Petruzziello darf als affektiert-gezierter Musiklehrer aber auch als Richter alle komödiantischen Register ziehen, die diese Rollen hergeben. Wie er fächerwedelnd zwischen der Gesellschaft tanzt und seinem Grafen beständig das Riechfläschchen als kurzen, olfaktorischen Erholungsmoment gegen die offenbar strengen Körperausdünstungen der Bediensteten unter die Nase hält, ist unglaublich amüsant. Sein heller, strahlender Tenor ist eine der größten Überraschungen des Abends, neben der Entdeckung des Talents von Megan Kahts. Als Richter trippelt er in Minischritten über die Bühne und legt eine überraschte Mimik an den Tag, die das Publikum in eine unglaublich heitere Stimmung versetzt. Florian Pejrimovsky, in einer Doppelrolle sowohl als Gärtner als auch Bartolo zu sehen, agiert in den fast schon holzschnittartig angelegten Rollen ganz nah an der Commedia dell`arte.
Sarah Marie Kramer als Gräfin nimmt erst in jener Arie ihre beredte Körpersprache zurück, in der sie sich an die Vergangenheit erinnert, in der sie von ihrem Mann noch geliebt wurde. Innig und ruhig passt sich ihr geschmeidiger und zugleich voluminöser Sopran wunderbar dem introvertierten Geschehen der betrogenen Frau an. Gebhard Heegmann verkörpert einen kräftigen Figaro, stimmlich klar und gut verständlich, der sich gewitzt aus jeder verfahren geglaubten Situation retten kann. Barbara Angermaier (Cherubino), Anne Wieben (Marcellina) und die junge Penelope Makeig (Barbarina) sind wunderbar besetzt und stimmlich jede einzelne bestens ausgestattet.
Die Möglichkeit, diese Oper, die für das adelige Publikum an der Grenze zum Affront operierte, in diesem Ambiente zu sehen, lässt aber auch noch andere Gedankenexperimente zu. Nicht wie in einem großen Theater ist man dazu verführt, das Geschehen auf eine rein künstlerische Ebene zu abstrahieren. Es drängen sich Gefühle auf, die damit zusammenhängen, dass am selben Ort vor vor 230 Jahren Personen saßen, die alleine qua ihrer Geburt maßgeblich das Weltgeschehen beeinflussten und zur selben Zeit außerhalb der Schlossmauern das einfache Volk ein Leben fristete, das wir uns heute nicht mehr vorstellen können. Abhängigkeiten von Feudalherren, wie Susanna sie auf der Bühne erleben muss, gehörten zum Alltag des Volkes, Luxus wie Opernvorführungen konnten sich nur die mächtigen Adelsgeschlechter leisten. Dass man das anlässlich einer Produktion von „Figaros Hochzeit“ auch einmal spüren darf, ist ein weiteres Verdienst des Teatro Barocco.
Wir empfehlen: Wenn möglich, noch rasch für die restlichen Vorführungen Karten besorgen.
„Věc Makropulos“ von Leoš Janáček erlebte im Dezember unter der Regie von Peter Stein seine Erstaufführung an der Wiener Staatsoper.
Es gibt eine Frage, die man sich nach dem Besuch von „Věc Makropulos“ in der Staatsoper stellen muss. Warum hat es 80 Jahre gedauert, bis dieses Werk Einzug ins Haus am Ring gehalten hat? Eine vernünftige Antwort könnten nur die Direktionsverantwortlichen geben, denn sowohl die Musik als auch das Libretto der 1925 entstandenen Oper haben ihren unbestrittenen Charme. Die Geschichte erzählt von einer Frau, die von ihrem Vater ein Elixier erhalten hat, welches das Leben um 300 Jahre verlängert. Der spannende und zugleich sehr philosophische Text basiert auf einer Komödie von Karel Čapek, wobei der Oper das komödiantische Element gänzlich fehlt. Čapek war einer der ersten Science-fiction Autoren, noch bevor es diesen Begriff überhaupt gab. In seinem Plot wird vor allem die seelische Befindlichkeit der Hauptfigur Emilia Marty beleuchtet, die am Ende ihres jahrhundertelangen Lebens vor der Entscheidung steht, es mit dem „Makropulos-Elixier“ noch einmal zu verlängern, oder zu sterben.
Musikalisch bleibt Janáček in der Dur-Moll-Harmonik, verwendet aber in den Gesangspartien nur wenige ins Ohr gehende Arien. Die Hauptfiguren sind vielmehr damit beschäftigt, in Rezitativen das Geschehen voranzutreiben. Vielleicht ist das der Grund für die späte Aufnahme in die Staatsoper. So wenig greifbar der Gesang auf weite Strecken auch ist, so intensiver spiegeln sich die Emotionen der einzelnen Charaktere in den Instrumenten. Da werden Angst, Liebe, Kälte und Spannung eindeutig hörbar, auch wenn man kein einziges Wort des auf tschechisch gesungenen Textes versteht. Jakub Hrůša am Dirigentenpult meistert die schwierige Partitur mit einer unglaublichen Sicherheit, die sich auf die Musikerinnen und Musiker überträgt. Rhythmische Ungleichzeitigkeiten in den verschiedenen Instrumentengruppen sind dabei nur eine Herausforderung. Gleich zu Beginn ertönt im Vorspiel ein beinahe symphonischer Satz mit vollem Instrumentarium. So als solle damit unzweifelhaft klar gemacht werden, dass sich hier nun eine große Erzählung anschließen wird. Auch aus den angrenzenden Räumen hört man die Musik wie aus der Ferne, aber es ist nicht dieselbe, wie jene aus dem Orchestergraben. Vielmehr scheint es so, als ob der Komponist damit eine Zeitspanne und kein punktuelles Heute andeuten wollte. Singen die Geigen im Graben melodiös, mischen sich die auswärtigen Bläser beinahe jazzig ins Geschehen. Der Bogen vom 19. ins 20. Jahrhundert ist damit gleich zu Beginn gespannt.
Laura Aikin (Emilia Marty) (c) Wiener Staatsoper / Michael Pöhn
In diesem Zeitrahmen lässt Peter Stein das Geschehen auch visuell umsetzen. (Bühne Ferdinand Wögerbauer) Es beginnt in einem Raum, der eine altdeutsche Bibliothek beherbergt, die von oben bis unten mit Aktenordnern vollgeräumt ist. Dort wartet Albert Gregor auf jene Verhandlung, die sein Wohl und Weh beschließen wird. Das Erbe, um das schon sein Vater einen Rechtsstreit begonnen hat, wird ihm an diesem Tag zugesprochen oder nicht. Emilia Marty kommt völlig unerwartet dazu und versucht, das Geschehen zu Alberts Gunsten zu beeinflussen. Von Beginn an ist klar, dass diese Frau mehr Geheimnisse mit sich trägt, als ein Mensch tragen kann. Wer sich nicht schon zuvor über den Inhalt der Oper schlau gemacht hat, muss noch ein Weilchen warten, bis das Rätsel um die charismatische Sängerin gelöst wird.
Stein geht mit seiner Inszenierung kein Risiko ein. Er zeigt schöne Räume – im zweiten Akt ist es der leicht ironische Blick von der Bühne der Staatsoper in den Zuschauerraum, im dritten ein sehr elegantes Wohnzimmer im Stil der 20er Jahre. Und er lässt die Figuren in Kostümen (Annamaria Heinreich) auftreten, die sich dem jeweiligen Ausstattungsstil zeitlich anpassen. Damit wird viel Atmosphäre verbreitet und zugleich auch darauf hingewiesen, dass sich das Geschehen in unterschiedlichen Zeitebenen abspielt.
Als Idealbesetzung darf, und das ist bei „zeitgenössischen“ Opern nicht oft der Fall, das komplette Ensemble genannt werden. Allen voran Laura Aikin als Emilia. Sie hat als einzige am Schluss zwei lange, melodiöse Arien, mit denen sie das Publikum fesselt. Ihr geschmeidiger und zugleich voluminöser Sopran und ihre schauspielerische Leistung ergeben ein künstlerisches Gesamtpaket, das beeindruckt. Sie, die eine Frau spielt, die 337 Jahre alt ist und für die das Wort Abgeklärtheit die pure Untertreibung darstellt, muss sich psychologisch zwangsläufig gänzlich anders verhalten, als alle Menschen um sie herum. Denn sie hat als 16-jähriges Mädchen vom Elixier ihres Vaters, eines Mannes namens Makropulos, getrunken, das dieser eigentlich für seinen Patienten, Kaiser Rudolf II, bereitet hatte. Bis im letzten Akt allerdings die Aufklärung stattfindet, warum Emilia, die unter vielen verschiedenen Namen die letzten Jahrhunderte überlebt hat, so alt werden konnte, darf sie zeigen, welche Schäden eine Unsterblichkeit im menschlichen Charakter anrichten kann. Ihre Seele ist erkaltet, weder eines Mitgefühls, geschweige denn der Liebe noch fähig.
Während rund um sie die Menschen mit den Alltäglichkeiten ihres Lebens beschäftigt sind, möchte sie nichts Anderes, als an jene Aufzeichnungen kommen, in denen ihr Vater das Rezept für das Elixier niedergeschrieben hat. Zwar gelingt ihr dies am Ende tatsächlich, aber die Erkenntnis, dass ein unendliches Leben nichts Verlockendes hat, hindert sie schließlich daran, noch einmal ein Elixier zuzubereiten und zu trinken. Die Handlung ist bis dahin nicht immer leicht nachzuvollziehen. Aber der Text in den letzten beiden Arien von Emilia sind ein philosophischer Höhenflug, der ausgiebig zum Denken anregt. „Ihr seid so nah an allem, für euch hat alles Sinn“ ist einer jener Sätze, die man gerne zum Nachdenken mit nach Hause nimmt.
Peter Stein lässt Laura Aikin in ihrem allerletzten Auftritt als gealterten Zombie, auf ihren Arzt gestützt, auf die Bühne treten. Als Untote, die mit ihrem Äußeren den endgültigen Beweis ihrer bis dahin unglaubwürdigen Lebensgeschichte abliefert. Das Licht (Joachim Barth) – der Raum erscheint zu diesem Zeitpunkt höllenrot – illustriert ebenso wie die Musik ihr infernales, intrinsisches Verhalten.
Ludovit Ludha, Thomas Ebenstein, Margarita Gritskowa, Markus Marquardt, Carlos Osuna, Wolfgang Bankl, Marcus Pelz, Aura Twarowska, Zeinz Zednik und Ilseyar Khayrullova waren in ihrem stimmlichen Ausdruck am 2. Aufführungsabend, dem 15. Dezember, allesamt bestens disponiert.
Dem Hausherrn Dominique Meyer darf für die Aufnahme der Oper gratuliert werden. Und auch mit der Berufung des jungen Jakub Hrůša gelangt ihm ein Volltreffer. Hrůša erhielt Anfang November als erster den Sir-Charles-Mackerras-Preis, der für besonders gelungene Interpretationen von Werken von Janáček vergeben wird. In einem Interview betonte der Dirigent zwar, dass er nicht nur als Spezialist für tschechische Musik gehandelt werden möchte. Dennoch darf er mit Stolz auf diese sehr gelungene Arbeit in Wien blicken.