Der schale Geschmack eines unendlichen Lebens

„Věc Makropulos“ von Leoš Janáček erlebte im Dezember unter der Regie von Peter Stein seine Erstaufführung an der Wiener Staatsoper.

Es gibt eine Frage, die man sich nach dem Besuch von „Věc Makropulos“ in der Staatsoper stellen muss. Warum hat es 80 Jahre gedauert, bis dieses Werk Einzug ins Haus am Ring gehalten hat? Eine vernünftige Antwort könnten nur die Direktionsverantwortlichen geben, denn sowohl die Musik als auch das Libretto der 1925 entstandenen Oper haben ihren unbestrittenen Charme. Die Geschichte erzählt von einer Frau, die von ihrem Vater ein Elixier erhalten hat, welches das Leben um 300 Jahre verlängert. Der spannende und zugleich sehr philosophische Text basiert auf einer Komödie von Karel Čapek, wobei der Oper das komödiantische Element gänzlich fehlt. Čapek war einer der ersten Science-fiction Autoren, noch bevor es diesen Begriff überhaupt gab. In seinem Plot wird vor allem die seelische Befindlichkeit der Hauptfigur Emilia Marty beleuchtet, die am Ende ihres jahrhundertelangen Lebens vor der Entscheidung steht, es mit dem „Makropulos-Elixier“ noch einmal zu verlängern, oder zu sterben.

Musikalisch bleibt Janáček in der Dur-Moll-Harmonik, verwendet aber in den Gesangspartien nur wenige ins Ohr gehende Arien. Die Hauptfiguren sind vielmehr damit beschäftigt, in Rezitativen das Geschehen voranzutreiben. Vielleicht ist das der Grund für die späte Aufnahme in die Staatsoper. So wenig greifbar der Gesang auf weite Strecken auch ist, so intensiver spiegeln sich die Emotionen der einzelnen Charaktere in den Instrumenten. Da werden Angst, Liebe, Kälte und Spannung eindeutig hörbar, auch wenn man kein einziges Wort des auf tschechisch gesungenen Textes versteht. Jakub Hrůša am Dirigentenpult meistert die schwierige Partitur mit einer unglaublichen Sicherheit, die sich auf die Musikerinnen und Musiker überträgt. Rhythmische Ungleichzeitigkeiten in den verschiedenen Instrumentengruppen sind dabei nur eine Herausforderung. Gleich zu Beginn ertönt im Vorspiel ein beinahe symphonischer Satz mit vollem Instrumentarium. So als solle damit unzweifelhaft klar gemacht werden, dass sich hier nun eine große Erzählung anschließen wird. Auch aus den angrenzenden Räumen hört man die Musik wie aus der Ferne, aber es ist nicht dieselbe, wie jene aus dem Orchestergraben. Vielmehr scheint es so, als ob der Komponist damit eine Zeitspanne und kein punktuelles Heute andeuten wollte. Singen die Geigen im Graben melodiös, mischen sich die auswärtigen Bläser beinahe jazzig ins Geschehen. Der Bogen vom 19. ins 20. Jahrhundert ist damit gleich zu Beginn gespannt.

Laura Aikin (Emilia Marty) (c) Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

Laura Aikin (Emilia Marty) (c) Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

In diesem Zeitrahmen lässt Peter Stein das Geschehen auch visuell umsetzen. (Bühne Ferdinand Wögerbauer) Es beginnt in einem Raum, der eine altdeutsche Bibliothek beherbergt, die von oben bis unten mit Aktenordnern vollgeräumt ist. Dort wartet Albert Gregor auf jene Verhandlung, die sein Wohl und Weh beschließen wird. Das Erbe, um das schon sein Vater einen Rechtsstreit begonnen hat, wird ihm an diesem Tag zugesprochen oder nicht. Emilia Marty kommt völlig unerwartet dazu und versucht, das Geschehen zu Alberts Gunsten zu beeinflussen. Von Beginn an ist klar, dass diese Frau mehr Geheimnisse mit sich trägt, als ein Mensch tragen kann. Wer sich nicht schon zuvor über den Inhalt der Oper schlau gemacht hat, muss noch ein Weilchen warten, bis das Rätsel um die charismatische Sängerin gelöst wird.

Stein geht mit seiner Inszenierung kein Risiko ein. Er zeigt schöne Räume – im zweiten Akt ist es der leicht ironische Blick von der Bühne der Staatsoper in den Zuschauerraum, im dritten ein sehr elegantes Wohnzimmer im Stil der 20er Jahre. Und er lässt die Figuren in Kostümen (Annamaria Heinreich) auftreten, die sich dem jeweiligen Ausstattungsstil zeitlich anpassen. Damit wird viel Atmosphäre verbreitet und zugleich auch darauf hingewiesen, dass sich das Geschehen in unterschiedlichen Zeitebenen abspielt.

Als Idealbesetzung darf, und das ist bei „zeitgenössischen“ Opern nicht oft der Fall, das komplette Ensemble genannt werden. Allen voran Laura Aikin als Emilia. Sie hat als einzige am Schluss  zwei lange, melodiöse Arien, mit denen sie das Publikum fesselt. Ihr geschmeidiger und zugleich voluminöser Sopran und ihre schauspielerische Leistung ergeben ein künstlerisches Gesamtpaket, das beeindruckt. Sie, die eine Frau spielt, die 337 Jahre alt ist und für die das Wort Abgeklärtheit die pure Untertreibung darstellt, muss sich psychologisch zwangsläufig gänzlich anders verhalten, als alle Menschen um sie herum. Denn sie hat als 16-jähriges Mädchen vom Elixier ihres Vaters, eines Mannes namens Makropulos, getrunken, das dieser eigentlich für seinen Patienten, Kaiser Rudolf II, bereitet hatte. Bis im letzten Akt allerdings die Aufklärung stattfindet, warum Emilia, die unter vielen verschiedenen Namen die letzten Jahrhunderte überlebt hat, so alt werden konnte, darf sie zeigen, welche Schäden eine Unsterblichkeit im menschlichen Charakter anrichten kann. Ihre Seele ist erkaltet, weder eines Mitgefühls, geschweige denn der Liebe noch fähig.

Während rund um sie die Menschen mit den Alltäglichkeiten ihres Lebens beschäftigt sind, möchte sie nichts Anderes, als an jene Aufzeichnungen kommen, in denen ihr Vater das Rezept für das Elixier niedergeschrieben hat. Zwar gelingt ihr dies am Ende tatsächlich, aber die Erkenntnis, dass ein unendliches Leben nichts Verlockendes hat, hindert sie schließlich daran, noch einmal ein Elixier zuzubereiten und zu trinken. Die Handlung ist bis dahin nicht immer leicht nachzuvollziehen. Aber der Text in den letzten beiden Arien von Emilia sind ein philosophischer Höhenflug, der ausgiebig zum Denken anregt. „Ihr seid so nah an allem, für euch hat alles Sinn“ ist einer jener Sätze, die man gerne zum Nachdenken mit nach Hause nimmt.

Peter Stein lässt Laura Aikin in ihrem allerletzten Auftritt als gealterten Zombie, auf ihren Arzt gestützt, auf die Bühne treten. Als Untote, die mit ihrem Äußeren den endgültigen Beweis ihrer bis dahin unglaubwürdigen Lebensgeschichte abliefert. Das Licht (Joachim Barth) – der Raum erscheint zu diesem Zeitpunkt höllenrot – illustriert ebenso wie die Musik ihr infernales, intrinsisches Verhalten.

Ludovit Ludha, Thomas Ebenstein, Margarita Gritskowa, Markus Marquardt, Carlos Osuna, Wolfgang Bankl, Marcus Pelz, Aura Twarowska, Zeinz Zednik und Ilseyar Khayrullova waren in ihrem stimmlichen Ausdruck am 2. Aufführungsabend, dem 15. Dezember, allesamt bestens disponiert.

Dem Hausherrn Dominique Meyer darf für die Aufnahme der Oper gratuliert werden. Und auch mit der Berufung des jungen Jakub Hrůša gelangt ihm ein Volltreffer. Hrůša erhielt Anfang November als erster den Sir-Charles-Mackerras-Preis, der für besonders gelungene Interpretationen von Werken von Janáček vergeben wird. In einem Interview betonte der Dirigent zwar, dass er nicht nur als Spezialist für tschechische Musik gehandelt werden möchte. Dennoch darf er mit Stolz auf diese sehr gelungene Arbeit in Wien blicken.

Weitere Aufführungen auf der Website der Staatsoper.

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