Mio meets Marty meets „Money, Money, Money“

Mio meets Marty meets „Money, Money, Money“

Allein allein, wir sind allein

Mutter tot, Vater verschollen. Bosse (Stefan Rosenthal) ist ein ungeliebtes Pflegekind und bekommt dies auch täglich zu spüren. Wenn er mit schmutziger Hose nach Hause kommt und sich entschuldigen möchte, schreit ihn seine Tante Edla (Barbara Gassner) an, er solle doch nicht so schreien.

Theater der Jugend / MIO, MEIN MIO (c) Rita Newman

Theater der Jugend / MIO, MEIN MIO (c) Rita Newman

Das Glück am Boden der Flasche

Die Abba singende Würstchenverkäuferin (Suse Lichtenberger) im Park schenkt Bosse einen goldenen Apfel, der die Eintrittskarte ins Land der Ferne ist. Als der Neunjährige dann noch eine Flasche samt Flaschengeist (Clemens Matzka) findet, kann ihn nichts mehr aufhalten, in das ferne Land der Ferne zu reisen, wo er seinen Vater vermutet. Tatsächlich erkennt ihn der König (Michael Schusser) sofort als seinen Sohn Mio wieder.

Zu den Menschen aus Bosses Welt gibt es im Land der Ferne bunte, wohlgesinnte Pendants. Doch Mio muss erkennen, dass auch im Land der Ferne nicht alles perfekt ist: Vielen der Bewohnerinnen und Bewohnern wurden ihre Kinder vom bösartigen Ritter Kato (Frank Engelhardt) geraubt und ins Land „Außerhalb“ verschleppt. Auf seiner Befreiungsmission begegnen Mio und seinem Freund Jum Jum (Luka Dimic) unter anderen Gollum, einem römischen Darth Vader mit Segway und dem Zelt-Mensch Eno (Christoph Gummert).

Theater der Jugend / MIO, MEIN MIO (c) Rita Newman

Theater der Jugend / MIO, MEIN MIO (c) Rita Newman

Sprachlich orientiert sich die Inszenierung von Stefan Behrendt nahe am Text Astrid Lindgrens. Eine Veränderung wird gegen Ende doch vorgenommen, als sich Mio der Gedanke aufdrängt, es habe sich doch alles nur um einen Traum gehandelt.

Kostüme und Szenerie erfahren durch Mathias Rümmler eine Modernisierung. Der üppige Rosengarten des Königs fällt eher dürftig aus, besticht dafür aber mit tanzenden Blumen in Morphsuits, die „Can’t Stop the Rock“ schmettern. Eine kreative Lösung bietet der Bühnenvorhang, der durch eine Lichtprojektion zur Felswand wird.

Agnetha wäre stolz

Die Kostüme fallen moderner und bunter aus, als sie in Lindgrens Roman beschrieben sind. Jum Jums Stil könnte man als „galaktisch mit Aussicht auf Regenbogen“ beschreiben. Tante Lundin, die in dieser Adaption „Frau“ Lundin genannt wird, kann im Land der Ferne ihre Abba-Affinität im blau-weißen Abba-Gedächtnis-Overall inklusive Wallemähne ausleben. Ihre Neutextung von „Money Money Money“ ist ein musikalischer Höhepunkt der Aufführung.

Nicht nur die jungen Zuseher und Zuseherinnen hatten viel zu lachen, sondern auch die Erwachsenen werden auf eine amüsante Reise durch Musik und Filme der Popkultur mitgenommen. Bis zum 20. November gehen noch Papierflugzeugflüge vom Theater der Jugend aus ins Land der Ferne.

Termine und Infos auf der Homepage des Theater der Jugend.

Wir waren wie eine Person und irgendwie doch nicht

Wir waren wie eine Person und irgendwie doch nicht

Wir waren wie eine Person und irgendwie doch nicht

So könnte man die Freundschaft zwischen der wilden Baliami (Josepha Andras) und dem anfangs schüchternen Oliver (Simon Kubiena) beschreiben. Da sie ein Flüchtlingskind aus dem Kosovo ist, verbietet Olivers Mutter (Anna Zagler) ihm den Umgang mit dem „Zigeunermädchen“. Doch von Verboten lassen sich Jugendliche in den seltensten Fällen aufhalten.

Der Dschungel Wien bietet vom 12. – 28. Oktober mit „Baliami“ Drogen, Liebe und Freundschaft in mitreißender Dosis.

Die ganze Welt geht an dem zugrunde, was sie liebt

baliami (c) _rainer_berson

baliami (c) _rainer_berson

Momentaufnahmen aus dem Leben von ein paar Freunden werden über einen Zeitraum von 13 Jahren dargestellt. Tiefe Freundschaft, aufkeimende Liebe, dann abrupte Trennung und wütende Destruktion werden in dem Stück behandelt. Nachdem sich Baliami und Oliver in ihren Jugendjahren aus den Augen verlieren, treffen sie sich mit 15 in einem Klub wieder. Plötzlich sind die alten Gefühle wieder da, obwohl beide bereits in festen Händen sind. Oliver, der seit Baliamis Weggang mit Sophie (ebenfalls Anna Zagler) zusammen ist, lässt der Gedanke an seine erste Liebe jedoch nicht mehr los und so beginnen sie sich erneut, heimlich zu treffen. Während Oliver sich zwischen zwei Frauen sieht, meint sein Freund Raphy (Max Kodelej) nur einen Ausweg aus seiner Einsamkeit und familiären Misere zu kennen: Amoklauf.

Die Schauspieler sind zugleich Erzähler und Kommentatoren des Geschehens und geben Einblicke in die jugendliche Gefühlswelt. Das tun die Darsteller auf sehr überzeugende und authentische Weise. Autor Benedict Thill und Regisseur Richard Schmetterer vermeiden übertriebenen Jugendslang und Referenzen zur Popkultur. Hier sprechen Jugendliche zu Jugendlichen. Tatsächlich ist das Ensemble noch sehr jung, aber nicht minder überzeugend.

baliami (c) rainer_berson

baliami (c) rainer_berson

Zu jeder Zeit sind die vier Ensemblemitglieder auf der von Karoline Hogl ausgestatteten Bühne hinter den Bühnenkonstrukten entweder versteckt, zusehend oder kommentierend. Das Bühnenbild besteht aus Stangen, Seilen und Kisten, die jeweils Würfel bilden. Je nach Szene und emotionalem Zustand werden sie umgestellt und unterschiedlich beleuchtet (Hannes Röbisch). Im Streit werden diese Würfel verwüstet, zerlegt und systematisch demontiert, bis am Ende alles tatsächlich in Trümmern liegt.

Alles ist relativ

Extrem und endgültig fühlt sich das Leben für diese Jugendlichen an, obwohl sich in der Rückschau vieles relativiert. Die einzige Möglichkeit ist, alles zu zerstören und neu aufzubauen. In der letzten Momentaufnahme ist das Chaos der Jugendjahre von der Bühne beseitigt. Nüchtern und ruhig ist dagegen das Ende. Raphy bekommt Hilfe in einer psychiatrischen Einrichtung, Sophie und Baliami akzeptieren einander. Oliver und Baliami entdecken, dass ihre Freundschaft stärker als Liebe ist.

baliami (c) rainer_berson

baliami (c) rainer_berson

“Baliami” ist nur eines der Projekte des “Spiegelkabinetts” unter der Leitung von Richard  Schmetterer. Im Dezember wird er mit “Pinocchio” für 7 bis 12-Jährige in den Dschungel Wien zurückkehren.

Weitere Infos auf der Homepage des Dschungel Wien.

Musik, Tanz und jede Menge Humor

Musik, Tanz und jede Menge Humor

Tanztheater für Jugendliche kann so spannend sein, dass man vergisst, dass eigentlich junges Publikum angesprochen werden soll, wenn man in einer solchen Aufführung sitzt. Wenn das gelingt, dann darf man den Hut ziehen – wie vor der Compagnie Arcosm. Sie zeigte im Rahmen des Festivals „Szene bunte Wähne“ im brut, wie man eine spannende Performance mit Live-Musik und zeitgenössischem Tanz vom Feinsten auf die Bühne bringt.


Dabei gab es eine massive Schwierigkeit zu überwinden: Einen großen, übermannshohen Holzquader, der mitten auf der Bühne schon kurz nach Beginn für Irritationen sorgte. „Bounce! Spring!“ waren bald jene Aufforderungen, mit denen die beiden Männer und Frauen aus Frankreich das Monstrum vergeblich zu überwinden versuchten.

Die Eingangssituation – eine Tanzprobe zu Livemusik – änderte sich bald drastisch. Aus den beiden Tanzenden und den beiden Musizierenden wurden rasch Rivalisierende, die alle ihre Kraft und Energie dazu verwendeten, um das hölzerne Monstrum zu erklimmen. In der Regie von Thomas Guerry und Camille Rocailleux durfte das Ensemble zeigen, dass man heute mehr braucht als nur eine gute Tanzausbildung, um das Publikum zu fesseln. Die Live-Musik, die mit einer Violine und einem Bass viel Lebendigkeit beisteuerte, war ein Zusatzplus. Die geschickte Lichtregie und das Einbauen einer Digitaluhr, die drei Mal während der Vorstellung eine Minute wie in einem Countdown rückwärtslaufen ließ, brachten Bewegung auch ins jugendliche Publikum, das jeweils laut mitzählend darauf wartete, was denn danach passieren würde.

 ARCOSM-Mitiki - Bounce @ Atelier de Paris Carolyn Carlson

ARCOSM-Mitiki – Bounce @ Atelier de Paris Carolyn Carlson

Ganz besonders fein, spannend und elegant ist die Choreografie, die ausdrucksstark das Geschehen unterstrich. Gruppenaktionen bei denen gerempelt wurde was das Zeug hielt wechselten mit akrobatischen Einlagen von nicht enden wollenden Purzelbaumkaskaden, Rädern und Rollen auf dem Boden ab. Innige Pas de deux, bei denen die Geigerin auch in den schwierigsten Hebefiguren nicht von ihrem Instrument abließ und humorige Einlagen, die Lachstürme bei den Kids im Publikum auslösten, gestalteten diese Performance so abwechslungsreich wie selten eine. Der schwierige Weg nach oben auf den Kubus gelingt dann doch einer der Frauen, um jedoch rasch in der Erkenntnis zu münden, dass die Luft oben besonders dünn ist und Einsamkeit sich rasch um jene verbreitet, welch die anderen unter sich lassen. Dass es zum Schluss dennoch ein Happy End gibt, ist fast selbstverständlich.

Eine herausragende Inszenierung, die leider nur zwei Mal im Rahmen des Festivals gezeigt werden konnte, die es aber verdient hätte, vor einem wesentlich zahlreicheren Publikum aufgeführt zu werden.

Ich bin besser als du!

Ich bin besser als du!

Das Festival „Szene bunte Wähne“ zeigte eine ganze Reihe von unterschiedlichen Inszenierungen mit dem Schwerpunkt Tanz für junges Publikum im Dschungel in Wien. Wobei längst klar ist, dass Tanz im zeitgenössischen Umfeld sich nicht mehr nur auf jene Bewegungsmuster beschränkt mit denen man sich zu einer rhythmischen Musik bewegt.

 

Drunter-und-drüber (c) tout-petit

Drunter-und-drüber (c) tout-petit

Bei „Drunter und Drüber“ der Gruppe „tout petit“ aus Belgien stand vielmehr jenes Bewegungsvokabular im Vordergrund, das man dazu braucht, wenn man hoch hinaus will oder sich verstecken muss. Die beiden jungen Frauen Liegt Cuyvers und Ciska Vanhoyland schufen ein Surrounding von Tischen mit unterschiedlich hohen Beinen. Während sie damit beschäftigt waren, diese zu einem Turm aufzustapeln um dann ganz hoch nach oben zu klettern, durchlebten sie jene Gefühle, die man tatsächlich schon im Kleinkindalter verspürt: Konkurrenzdruck, verbunden mit dem Willen, besser als die andere zu sein. Sich dabei gegenseitig rempeln und überrumpeln gehört bei diesem Spiel dazu. Dass die Beiden aber schließlich doch noch beste Freundinnen wurden, gab der Performance für die ganz kleinen einen sehr versöhnlichen Ausgang.

Wie-heiße-ich- (c)DENTRO-DEL-SILLON

Wie-heiße-ich- (c)DENTRO-DEL-SILLON

Auch DA.TE DANZA aus Spanien waren in ihrem 2-Personen-Stück bis fast ganz zum Schluss damit beschäftigt, sich gegenseitig zu übertrumpfen. Greta Jonsson und Iván Montardit agierten zur Choreografie von Omar Meza und der Regie von Rosa Diaz als Mann und Frau, die erst am Ende erkannten, dass es im Leben gemeinsam besser geht, als wenn man sich ständig übertrumpfen möchte. Zwei Fauteuils, zwei Hängelampen und zwei Florteppiche boten jede Menge Gelegenheit darin oder darunter zu verschwinden, sich in rauschende, rote Ballkleider zu gewanden oder sich gar von den Sitzgelegenheiten verschlucken zu lassen. Die abwechslungsreiche Performance wartete mit Slapstick-Einlagen genauso auf wie mit illusionistischen Szenen wie aus einer Unterhaltungsrevue. „Wie heiße ich?“, so der Titel des Stückes, diese Frage gestaltete sich letzten Endes als unwichtig. Einfach da sein und gemeinsam etwas machen, das war die Grundaussage, die mit viel Witz und einer feinen, teils akrobatischen Choreografie präsentiert wurde.

Die Angst, etwas zu verpassen

Die Angst, etwas zu verpassen

Wie ist das, wenn man sich einmal zwei Tage aus seinen Social-Media-Anschlüssen ausklinkt? Fehlt etwas, wenn man das Handy einfach Handy sein lässt oder gewinnt man vielleicht sogar etwas von dieser neuen Erfahrung? Machen Videospiele abhängig? Ist das in der Hosentasche getragene Smartphone ein treuerer Begleiter als Freunde in Fleisch und Blut?

#FOMO the fear of missing out (c) Dusana Baltic

Hungry sharks #FOMO the fear of missing out (c) Dusana Baltic

Bereits zum zweiten Mal gastierten „Hungry Sharks“ im Dschungel in Wien. Nach Anthropozän, in dem sie dem Phänomen der Erdzerstörung durch den Menschen nachspürten, kamen sie diesmal auf Einladung des Festivals „Szene bunte Wähne“ wieder nach Wien. In „#FOMO The fear of missing out“ unter der Choreografie von Valentin (Knuffelbunt) Alfery, der auch selbst in der Gruppe mittanzt, behandelt die urbane Tanzkompanie ein brandaktuelles Thema: Den exzessiven Medienkonsum, der sich längst von den Fernsehschirmen hin zu den Smartphones verlagert hat. Neben Alfery zeigen Moritz Steinwender, Patrick Gutensohn, Frague Moser-Kindler und Farah Deen als einzige Frau in der Truppe, dass es möglich ist, mit Mitteln der urbanen Tanzstile zeitgeistige Themen auch bühnenwirksam für ein größeres Publikum zu behandeln. Breaking, Locking, Popping, House und HipHop-Freestyle werden von ihnen so gekonnt in einer 55-minütigen Show eingesetzt, als handle es sich dabei um ein längst etabliertes zeitgenössisches Tanzgenre.

Tatsächlich betreiben „Hungry Sharks“ in Österreich jedoch noch Pionierarbeit. Normalerweise batteln sie gegeneinander, aber vor einem kleinen, überschaubaren Publikum. „Es sind immer dieselben 100 Hanseln, die sich das anschauen“, beschrieb einer der Tänzer beim Publikumsgespräch die eingefleischte Fangemeinde. Eine Förderung des Bundeskanzleramtes macht es nun möglich, ihre Auftritte in einer Tour vor viel mehr jungen Menschen zu absolvieren als bisher.

Alfery präsentiert gleich zu Beginn ein kraftvolles, aber zugleich höchst ästhetisches Intro, in dem seine verschiedenen Moves fließend ineinander übergehen. Damit macht er auch klar, dass Urban Dance mit ihm und seiner Kompanie auf einem künstlerischen Level angekommen ist, auf dem er sich als eigenständige Spielart des zeitgenössischen Tanzes zu etablieren beginnt.

Das Zusammenspiel der Truppe ist perfekt getimt und folgt einer stringenten Dramaturgie. Nach und nach entwickelt sich auf einer dunklen Bühne – eine Art CI der Hungry Sharks – ein Tanz um das Goldene Kalb, das heute den Namen Smartphone trägt. Dabei kann man auch zusehen, wie aus einem Selfie eine durch Photoshop nachbearbeitete Datei wird, die man nach Belieben auf seinen PC up- und downloaden kann. Ein Schwerpunkt der Inszenierung ist Videospielen gewidmet, wobei das junge Publikum eindeutig erkennt, welche Spiele in die Choreografie aufgenommen wurden. Die Range dabei ist breit – von Super Mario bis zu Kampfspielen wird alles tänzerisch visualisiert, was sich auf den PlayStations rund um den Globus so findet. Was noch vor gar nicht allzu langer Zeit als unhöflich galt – Handys auf der Straße zu verwenden – ist heute gang und gäbe. Diese Allgegenwärtigkeit zeigt sich nicht nur in einem verdunkelten Bühnenmoment, in dem lediglich die hellen Bildschirme der Smartphones zu sehen sind. Auch die Crew beschäftigt sich zeitweise nicht mit sich selbst, sondern jeder für sich mit seinen elektronischen Devices.

Wie im richtigen Leben, so agieren auch auf der Bühne die jungen Tanzenden immer wieder auch ohne Internetzugang, nehmen sich als Individuen wahr, interagieren miteinander face to face, body to body. Ein Einzelner bleibt am Ende dennoch auf der Strecke, dauerverbunden mit dem Netz, unfähig, sich davon noch einmal zu trennen.

Valentin Alferys Statement zur Inszenierung relativiert den reinen kritischen Aspekt: „Wir wollen mit der Inszenierung die neue Technologie nicht verteufeln. Sie gehört zu uns und jeder von uns nutzt sie auch“. Die Frage, ob sich die Crew nach der Erarbeitung des Stückes einen anderen Umgang mit der virtuellen Welt angewöhnt hat, wird von dieser schlicht mit einem allgemeinen Lächeln beantwortet. Sehr zur Freude des jungen Publikums, das jede andere Reaktion wahrscheinlich auch nicht ernst genommen hätte.

An einem neuen Stück wird bereits gearbeitet, Verhandlungen mit einem Veranstalter in Wien haben für eine Vorstellung im Herbst bereits begonnen. Infos gibt´s – wie sollte es anders sein – auf der Facebook-Seite von Hungry Sharks.

Von der Steinzeit in die Unendlichkeit des Weltalls

Von der Steinzeit in die Unendlichkeit des Weltalls

Es gibt kein Patentrezept für ein gelungenes Theaterstück. Auch keines für Kinder. Aber es gibt Leute, die haben ein richtig gutes Händchen dafür und auch das Glück, aus dem Vollen schöpfen zu können. In jeder Hinsicht – sowohl was die eigene Kreativität betrifft, als auch die Umstände in denen sie tätig sind.

Einer jener Glücklichen ist Thomas Birkmeir, bekannt als künstlerischer Direktor des TdJ, aber auch als Autor und Regisseur. Vor der Sommerpause brachte er nun das letzte Stück der Saison im Theater in der Neubaugasse auf die Bühne. „Der Pirat im Kleiderschrank“ lädt Kinder ab 6 Jahren dazu ein, sich mit Gunnar, einem Jungen, dessen Vater vor wenigen Monaten an einem Autounfall verstarb und Capitain B.L.O.O.D durch Zeit und Raum zu reisen und dabei allerhand Abenteuer zu erleben.

Gunnar, der unter dem Tod seines Vaters sehr leidet, wünscht sich nichts sehnlicher, als diesen noch einmal zu sehen. Und während er sein Wünschen schon aufgibt, geschieht das Unglaubliche: Aus seinem Kleiderschrank springt ein richtiger Pirat – mit allem, was so dazugehört: Piratenhut, Säbel, Piratenrock mit goldenen Knöpfen und einer großen Ledertasche. „Asyl, ich bitte um Asyl“, ruft er, nachdem er mitten im Kinderzimmer gelandet ist. Schon wenige Augenblicke später wird klar, der Schatz, den er mit Hilfe einer Schatzkarte zu finden versucht, kann von ihm nur gemeinsam mit Gunnar gehoben werden, denn dieser kann im Gegensatz zu ihm lesen.

Gunnar willigt ein, unter der Voraussetzung, dass er mit der Zeitkugel, die der Pirat zu bedienen weiß, seinen Vater wieder treffen kann. Und schon geht es los auf eine Reise quer durch Raum und  Zeit – angefangen in der Oberjura, in der sie einem Dinosaurier-Baby zuschauen können wie es aus einem Ei schlüpft, weiter über aufregende Erlebnisse in Indien oder Afrika. Nicht zuletzt landen sie wieder in Europa – aber zur Zeit Maria Theresias. Birkmeir, von dem sowohl der Text als auch die Inszenierung stammt, lässt sein Publikum in viele Genres eintauchen. Genres, die für gewöhnlich im Film und nicht auf der Bühne beheimatet sind.

Kämpfe gegen einen Brontosaurus Rex aber auch gegen den Minotaurus im Labyrinth von Knossos müssen ebenso bewältig werden wie die List von Robin Hood, der dem Piraten seinen kompletten gehorteten Schatz abnimmt. Wunderbare Szenenwechsel, die wie Kino-Überblendungen gestaltet sind, machen es möglich, dass sich Gunnar und der Capitain, der schließlich nicht zu seinem Gegenspieler sondern zu seinem Freund wird, in wenigen Augenblicken in einer anderen Zeit und einem anderen Raum befinden können. Hans Kudlich ist für das abwechslungsreiche und zugleich fantasievolle Bühnenbild verantwortlich. Dass den beiden Helden aber auch eine gehörige Portion Angst ständig im Nacken sitzt, dafür sorgt der „Wächer der Zeit“ (Horst Eder), der sicher nicht unbeabsichtigt Ähnlichkeiten mit Obi-Wan Kenobi aus dem „Krieg der Sterne“ aufweist. Er wird über lange Strecken via Filmeinspielung in Großformat auf die Bühne projiziert, sodass dabei garantiert kein Kinderherz unbeeindruckt bleibt.


So spannend das Geschehen auch ist, es wartet zugleich auch an vielen Stellen mit einer unglaublichen Portion Witz auf. Vor allem in jener Szene, in der Frank Engelhardt als Maria Theresia auf die Bühne kommt und prompt Zwischenapplaus erhält. Seine / ihre 10jährige Tochter Marie Antoinette (Julia Edtmeier) hat zuvor versucht, Gunnar und seinen Piratenfreund im richtigen Benehmen von Untertanen zu unterrichten und das so humorvoll und mit einem bezaubernden Wiener Idiom, dass man sie vom Fleck weg von der Bühne holen und einen ganzen lieben langen Tag mit ihr verbringen möchte. Wahrscheinlich käme sie gerne mit, denn sie möchte nichts lieber, als weit weg vom Hof und ihrer Mutter fliehen – am liebsten bis nach Perchtoldsdorf! Der aktuelle Hinweis über die Kleiderfarbe, die Antoinette sich nach dem politischen Befinden in Österreich aussucht, erheiterte bei der Premiere vorzugsweise die Erwachsenen im Raum.

Die schauspielerischen Leistungen sind beeindruckend, noch dazu, wo fünf Ensemblemitglieder insgesamt 24! Charaktere darstellen. Florian Stohr wandelt sich dabei zum Gaudium aller vom heldenhaften Theseus in einen begnadeten Frisör. Jakob Elsenwenger beeindruckt als gerissener Robin Hood, bei dem man sich nicht mehr ganz sicher ist, ob das Wohl der Armen bei seinen Raubzügen wirklich im Vordergrund stand und Felicitas Franz verkörpert unter anderen Shakuntala, die in Indien unter ihrem despotischen Herrscher-Vater zu leiden hat. Der riesige, wippende Turban von Frank Engelhardt ist einfach atemberaubend.

Stefan Rosenthal schlüpft in die Rolle von Gunnar, der mit seinem Mut und seiner Intelligenz alle Herausforderungen meistert und dessen Fantasie „1000 Mal besser ist als die langweilige Wirklichkeit“. Uwe Achilles – der sich gleich zu Beginn als „hombre torro“  und als „Beswinger der Meere und Liebling der Frauen unter 53“bezeichnet, spielt Capitain B.L.O.O.D hinreißend, grandios und leidenschaftlich vom zerzausten Scheitel bis zur bestiefelten Sohle. Sein spanischer Akzent und seine Unwissenheit, was neuzeitliche Erfindungen wie die „Lampen-Tasche“ betrifft, geben immer wieder Anlass zu Heiterkeitsausbrüchen. Dass es am Ende ein Happyend gibt, versteht sich fast von selbst. Bis dahin aber darf mitgebangt werden, was das Zeug hält und en passant erhält man noch so manche mühelose Geschichtslektion mit so scharfsinnigen Zurechtrückungen bisheriger Geschichtskittungen.

Ein fulminantes Thertererlebnis für Kinder und nicht minder für deren Begleitungen, das man sich nicht entgehen lassen sollte.

Termine auf der Homepage des Theater der Jugend.