WENN DER SCHREI NACH RETTUNG UNMÖGLICH WIRD

WENN DER SCHREI NACH RETTUNG UNMÖGLICH WIRD

Der Dschungel Wien brachte mit dem KünstlerInnen-Kollektiv SILK Fluegge eine Performance auf die Bühne, die jede Altersklasse betrifft.

Rescue (c) Phil Lindner

Rescue (c) Phil Lindner

Ist das nicht Baywatch?

Vier junge Menschen kommen in swimsuits und mit Bojen ausgestattet auf die Bühne. Im Hintergrund wird ein monotones Geräusch abgespielt, das gemeinsam mit dem wellenförmigen Licht eine gewisse Ruhe ausstrahlt. Die Anspielung auf die amerikanische Serie Baywatch ist nicht nur unverkennbar, sondern von der Regisseurin auch aktiv gewollt. Im Gespräch mit Silke Grabinger betont sie die Wichtigkeit, ein Medienbewusstsein in ihre Arbeiten zu bringen. Das bedeutet nicht nur inhaltlich, sondern auch bei der visuellen Umsetzung. Sie bezieht sich auf die schnellen Bildschnitte am Ende der Serie, bei dem die Körper der Baywatch Crew in den Mittelpunkt gerückt werden und sich somit die Frage nach den Schönheitsidealen eröffnet. Durch die bedachtsamen Bewegungen, welche die vier Charaktere machen, wird parallel mit dem Gefühl der Verlangsamung gearbeitet. Die Aufmerksamkeit des Publikums liegt beim Körper, welcher jedoch entfremdet wirkt.
Das Motiv des Wassers wird über die ganze Performance hinweg verwendet. Wasser steht für eine Gewalt, die man nicht kontrollieren kann. Es initiiert aber auch zum Mut einer Selbstüberschreitung und knüpft gleichzeitig an grundsätzliche Ängste an. Für die Choreografin schafft dies nicht nur einen politischen Bezug, sondern bietet auch viele andere Assoziationen.

 

Ein Stück in Bildern – viele Assoziationen sind möglich

Silke Grabinger produziert durch das Spiel mit dem Körper Bilder, die sehr intensiv sind. Ein Beispiel dafür ist die Solo-Szene von Fabian Janicek. Seine Rufe „Help! Help me please! Save me please!“ erhalten durch den Lichtspot auf ihn eine Eindringlichkeit, die durch seine Parcours-Fähigkeiten noch untermalt werden. Die Message: Jeder ist irgendwo gefangen und braucht Hilfe. Hier lässt sich ein gewisses Paradoxon feststellen, da das Erklimmen und Erobern verschiedener Architekturen und Objekte im Parcours-Lauf die größtmögliche Freiheit bietet. In einem geschlossenen Theatergebäude wird jedoch deutlich, dass man trotzdem gefangen sein kann. Aber auch die zwischenmenschliche Hilfe und Verletzbarkeit ist in dem Stück ersichtlich. Jerca Roznik Novak nimmt die Schnur einer der Bojen und legt sie als Trennlinie auf den Boden, während die anderen Performer versuchen, hinter diese Absperrung zu gelangen. Die Choreografien ergänzt hier das Stück um die Facette des Eigenschutzes. Sie betonte im Publikumsgespräch öfter, dass es sich auch um Rettung handelt, wenn man einsieht, dass man der anderen Person nicht mehr helfen kann.

Performance-Charakter – Das Geschehen schwappt von der Bühne ins Publikum

Rescue (c) Phil Lindner

Rescue (c) Phil Lindner

Bei Performances spielt oft nicht nur das Geschehen auf der Bühne eine Rolle, sondern auch die Interaktion mit dem Publikum. Durch das Verteilen der Bojen im Bühnenraum wird das Stück erweitert, indem die Schranke zwischen fiktivem Bühnengeschehen und betrachtendem Publikum aufgelöst wird. Für Grabinger sind die Reaktionen des Publikums auch Statements, weil sich diese oft in verschiedenen Varianten zeigen. Anfangs denkt man, dass sich dieses Stück nur um die Performer dreht. Das Ende hingegen zeigt das Gegenteil auf: „I’m here“, beruhigen die vier Darsteller und Darstellerinnen die Leute, welche die Bojen halten. Plötzlich wird klar, dass nicht nur sie auf Rettung hoffen, sondern sie auch Rettung bieten.

Auf der Bühne waren: Michaela Hulvejová, Fabian Janicek, Matej Kubus, Jerca Roznin Novak

Jeder Liebeskummer hat ein Ablaufdatum

Jeder Liebeskummer hat ein Ablaufdatum

Fragt man in Österreich nach den berühmtesten Kinderbuchautorinnen, so gibt es zwei Namen, die sofort genannt werden. Astrid Lindgren und Christine Nöstlinger.

Letztere, eine Generation jünger als Lindgren, feierte am 13. Oktober – Kinder wie die Zeit vergeht – ihren 80. Geburtstag. Ein Grund, sie mit einem Stück hochleben zu lassen, das erst vor sechs Jahren veröffentlicht wurde. Ihre „Lumpenloretta“ hatte im Kasino am Schwarzenbergplatz, der Dependance des Burgtheaters, in ihrem Beisein Premiere.

Glatze, Zahn, Zecke, Locke und Loretta

Florian Appelius (Zecke), Simon Jensen (Glatze), Sarah Viktoria Frick (Loretta), Aaron Friesz (Zahn), Nélida Martinez (Locke) (c) Marcella Ruiz Cruz Burgtheater

Florian Appelius (Zecke), Simon Jensen (Glatze), Sarah Viktoria Frick (Loretta), Aaron Friesz (Zahn), Nélida Martinez (Locke) (c) Marcella Ruiz Cruz Burgtheater

Ein Marienkäfer fliegt von Glatzes Finger geradewegs auf die große Leinwand hinter ihm und zerplatzt dort blutig, während sich die zarte Anfangsmusik in harte, rockige Klänge verwandelt. Glatze, das ist ein Junge, der in die Unterstufe des Gymnasiums geht, in einer Vorstadtsiedlung mit Einfamilienhäuschen wohnt und nach einem Läusebefall seine Haare abrasiert hat. Wachsen will er sie nicht mehr lassen, denn die Glatze ist seine Rebellion gegen seine pedante Mutter, bei der alles ihre Ordnung haben muss.

Schon der Beginn lässt ahnen, dass das Stück um die freche Nachbarin von Glatze, Loretta, alles andere als harmonisch verlaufen wird. Sie ist mit ihrer Familie frisch in die Siedlung zugezogen und wird sogleich von allen Erwachsenen schief beäugt. Die Unordnung in ihrem Vorgarten, die laute Rockmusik, ihre rotzfreche Art, sich zu nehmen, was sie braucht, alles stört die Mütter von Glatze und Locke, Glatzes Freundin mit dem schönen, blonden Lockenkopf.

Ein verwahrlostes Kind

Sarah Viktoria Frick (Loretta) (c) Marcella Ruiz Cruz Burgtheater

Sarah Viktoria Frick (Loretta) (c) Marcella Ruiz Cruz Burgtheater

Während Loretta im Garten Kunststücke übt, um später einmal in einem Zirkus arbeiten zu können und Glatze sich unsterblich in sie verliebt, übersehen die Erwachsenen das Elend, in dem das Kind aufwächst. Ihr Bruder muss von Lorettas Eltern als Säugling in eine Pflegefamilie weggegeben werden und ihr Vater, genannt Zopfers, weil er einen hüftlangen Zopf trägt, hat alle Hände voll zu tun, seine Familie mit dem Verkauf von Altwaren über Wasser zu halten. Die nur in Erzählungen präsente Mutter ist depressiv und lässt Loretta auf ihren Reisen mit ihrem Mann tagelang alleine. Dass da so etwas Ähnliches wie ein Pippi-Verschnitt anklingt, verwundert nicht. Aber leider ist die „Lumpenloretta“, von den noblen Damen der Nachbarschaft so genannt, weil sie nur getragenes Gewand ihr Eigen nennt, nicht mit übernatürlichen Kräften ausgestattet, hat kein Pferd und kein Äffchen und lernt im Selbststudium, weil ihre Eltern sie verwahrlosen lassen und in keine Schule schicken.

Nöstlingers Figuren sind wie aus dem Alltag geschnitten. Einem Alltag, der eben all-täglich ist und ohne fantastische Ausflüchte auskommen muss. Der Großvater von Locke erzählt fast – eine lustige Geschichte von seinem Katheter, die er bei seinem letzten Reha-Aufenthalt erlebte. Zecke und Zahn – die Freunde von Glatze und Locke – sind permanent mit dem Fahrrad unterwegs oder hängen in der Sommerhitze auf der Hollywoodschaukel bei Locke rum. Glatzes Vater erträgt stoisch den Kochstreik und die Launen seiner Frau und Lockes Mutter wird von ihrem „Ernsti“ betrogen.

Eine tolle, einfühlsame Regie

Nöstlinger hat die Geschichten rund um ihre Heldinnen und Helden nicht erfunden, es scheint so, als ob sie das, was in unser aller Leben so oder so ähnlich vorkommt, lediglich zu Papier gebracht hätte. Dass daraus ein höchst vergnügliches und spannendes Theaterstück wurde, hat sie Martina Gredler zu verdanken. Die Regisseurin verfolgte eine höchst einfühlsame und zugleich für Kinder, Jugendliche und Erwachsene nachvollziehbare Personenführung. Ähnlich wie bei „Pünktchen und Anton“, das in der vorigen Saison im Kasino Premiere hatte, kann man in die Wohnsituation von Glatze und Loretta Einsicht nehmen. (Bühne Jura Gröschl, Kostüme Moana Stemberger) Während in dem einen Haus alles proper und auf Hochglanz poliert ist, stapeln sich im anderen die Umzugskisten und der Müll. Während die einen mit einem silbernen Löffel im Mund auf die Welt kamen, reichte es bei Loretta eben nur für einen aus Blech, wie sich Lockes Opa ausdrückte. Er ist es, der dafür sorgt, dass Loretta durch das Einschreiten einer Sozialarbeiterin in eine Pflegefamilie kommt. Zu ihrem Glück, aber Glatzes großem Leid.

Sarah Viktoria Frick (Loretta) (c) Marcella Ruiz Cruz Burgtheater

Sarah Viktoria Frick (Loretta) (c) Marcella Ruiz Cruz Burgtheater

Ganz wunderbar, wie Gredler die ersten Liebesfunken der jungen Menschen in Zeitlupe gießt und mit einem Liebessong untermalen lässt. Einfach nur poetisch und witzig zugleich, wie Loretta nachts grüne Glühwürmchen fängt und in ihr T-Shirt steckt, bis sie unter ihrer Short wieder zum Vorschein kommen. Köstlich, wie Christine Nöstlinger selbst als Buschauffeurin in einem Video kurz auftaucht und verschmitzt ins Publikum lacht. Ein wunderbarer Regieeinfall folgt dem nächsten, ohne marktschreierisch oder aufgesetzt daherzukommen. Gredler erzählt mit viel Kreativität und wie aus einem Guss Nöstlingers Geschichte ohne Pathos aber mit jeder Menge Humor.

Wie und ob es Glatze schließlich gelingt, seinen Liebeskummer abzulegen, wird hier nicht verraten. Nur so viel: Jeder Liebeskummer hat ein Ablaufdatum und es kann nicht schaden, für den Zirkus zu üben. Wer weiß, wen man dort einmal treffen wird!

Schauspielerische Glanzleistungen

Ein wunderbares Stück Jugendliteratur aus Österreich von einer Autorin, die bereits mehreren Generationen mit ihren Geschichten vom Franz und Mini Freude bereitet hat. Verpackt in eine tolle Inszenierung mit ebenso tollen Schauspielern. Allen voran Sarah Viktoria Frick, die an der Burg auch in der Onkel Wanja-Inszenierung zu sehen ist. Ihre Lumpenloretta in der bunt gemusterten Wolford-Strumpfhose sprüht nur so vor Lebensfreude und Ausgelassenheit, lässt aber auch die Einsamkeit und Angst des alleine gelassenen Mädchens erahnen. Simon Jensen als Glatze darf gekonnt alle Höhen und Tiefen einer jungen, verliebten Seele aufzeigen. Nélida Martinez, noch im 3. Jahrgang des Max Reinhard Seminars, genießt ihre neue Freundin, bis ihr durch die Dauerokkupation von Loretta schließlich die Nerven durchgehen. Florian Appelius (im 4. Jahrgang der Musik und Kunst Privatuniversität Wien) und Aaron Friesz, der schon in verschiedenen Rollen im Burgtheater, aber auch im Volkstheater und auf anderen wichtigen Bühnen zu sehen war, düsen gekonnt mit ihren Fahrrädern über die Bühne und treiben das Geschehen mit ihren Erzählungen zügig voran.

Stefan Wieland als Zopfers ist eine Idealbesetzung für einen unangepassten Gesellschaftsrebellen. Robert Reinagl als Glatze-Vater verputzt rasch noch vor Betreten seines eigenen Hauses seine unautorisiert gekauften Jausenbrote. Hans-Dieter Knebel werkelt als Opa unter der Spüle in Lorettas Haus und versteht als einziger, für das Kindswohl aktiv zu werden, während Petra Morzé als Glatze Mutter und Dunja Sowinetz als Locke Mutter alle Hände voll zu tun haben, um den Schein von funktionierenden Familien aufrecht zu erhalten.

Eine Empfehlung nicht nur für Nöstlinger-Liebhaberinnen und Liebhaber, sondern für alle, die ein intelligentes und gut gemachtes Jugend-Theaterstück sehen möchten.

Informationen und Termine auf der Homepage des Burgtheater.

Wawa – dieses Wort verändert ein ganzes Leben

Wawa – dieses Wort verändert ein ganzes Leben

Wawa, wawa – das war das einzige Wort, das Hellen Keller 1887 sprechen konnte. Es war auch das einzige Wort, das sie schon als Baby sprach – bis sie nach einer Erkrankung im Säuglingsalter taubblind wurde.

Die 1880 geborene Helen Keller ist in Amerika eine Ikone. Sie gilt als Paradebeispiel, wie es trotz eines körperlichen Handicaps gelingen kann, sein Leben zu meistern und sogar großartige Leistungen zu vollbringen.

Ein Bühnenbild ohne Farbe und herrliche Kostüme wie anno dazumal

Das Theater der Jugend im Zentrum hat sich dieses Stoffes in umwerfender Art und Weise angenommen und bietet unter dem Titel „The Miracle Worker“ von William Gibson einen Einblick in die prägendste Lebensphase von Helen Keller. Sandra Cervik inszenierte psychologisch extrem feinfühlig den packenden Stoff, in dem die Begegnung der siebenjährigen Helen mit ihrer Lehrerin geschildert wird. Nathalie Lutz und Susanne Özpinar schufen sowohl ein abwechslungsreiches Bühnenbild als auch Kostüme, die sich an die Fotos, die es von Hellen Keller aus dem 19. Jahrhundert gibt, anlehnen. Mit der Entscheidung, die Bühne in Schwarzweiß zu halten und auch die Videoeinspielungen so zu gestalten, wird dem Publikum zumindest eine Dimension versucht zu vermitteln, die Helen Keller zeitlebens fehlte: Farben.

Das störrische, rebellierende Kind, das für seine Umgebung beinahe unerträglich wird, da es unfähig ist, sich adäquat auszudrücken, wandelt sich unter dem Einfluss der jungen Lehrerin Annie Sullivan in einen Menschen, für den die Erkenntnis der Sprache zum alles bestimmenden Lebenskriterium wird. „Wie erzähle ich, was ich war? Abgeschnitten von allen. Wie ein Schiff im Nebel. Ein Phantom in einer Nicht-Welt“, hört man zu Beginn eine weibliche Stimme vom Band und weiß, dass es Helen Keller selbst ist, die hier ihre Geschichte erzählen wird.

Maresi Riegner hat ein unglaubliches Schauspieltalent

THEATER DER JUGEND • THE MIRACLE WORKER • VON WILLIAM GIBSON (c) Rita Newman

THEATER DER JUGEND • THE MIRACLE WORKER • VON WILLIAM GIBSON (c) Rita Newman

Wunderbare schauspielerische Leistungen, herausragend dabei Maresi Riegner in der Rolle von Helen, machen die Vorführung zu etwas ganz Besonderem. Die 25-Jährige, die gerade in der Rolle der Gerti Schiele im Kinofilm „Egon Schiele: Tod und Mädchen“ zu sehen ist, studiert im letzten Jahrgang an der Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien. Bereits seit 2012 steht sie vor der Kamera, im Theater der Jugend mit dieser Rolle aber das erste Mal in einer Hauptrolle auf der Bühne. Nicht nur, dass man ihr in ihrer Rolleninterpretation das 7-jährige Mädchen abnimmt, sie erweckt auch den Anschein, derart in den Zustand der Taubblindheit eingetaucht zu sein, dass es keinen einzigen Augenblick gibt, in dem sie das Gefühl vermittelt, hier als Schauspielerin zu agieren. Wer ein herausragendes, junges schauspielerisches Talent am Beginn seiner Theaterkarriere sehen möchte, soll sich diese Inszenierung ansehen.

Felicitas Franz hat das Publikum auf ihrer Seite

THEATER DER JUGEND • THE MIRACLE WORKER • VON WILLIAM GIBSON (c) Rita Newman

THEATER DER JUGEND • THE MIRACLE WORKER • VON WILLIAM GIBSON (c) Rita Newman

Großartig an ihrer Seite auch Felicitas Franz als Annie Sullivan. Sie hat die meiste Zeit über mit den Wutausbrüchen von Helen zu kämpfen, was körperlich sichtlich anstrengend ist. Wer schon einmal ein tobendes Kind bändigen wollte, kann das nachvollziehen. Sullivan kämpft in der Inszenierung nicht nur mit den Herausforderungen, die ihr ihre Schülerin stellt, sondern auch gegen die Eltern. Diese (Stephanie K. Schreiter und Uwe Achilles) überbehüten ihr Kind und können nicht verstehen, dass Erziehung, selbst von behinderten Kindern, auch etwas mit Konsequenz zu tun hat. Ansteckend sind Annies Lachanfälle über ihre eigenen, trockenen Aussagen. Das Publikum darf mit Felicitas Franz eine kumpelhafte, junge Frau erleben, der es trotz ihrer schweren Jugend nicht an Humor, Geradlinigkeit und starkem Willen zum Erfolg fehlt. Dass korrekte Rechtschreibung nicht gerade ihr Ding ist, vermittelt sie mit der höchst witzigen Metapher: „Rechtschreibung ist wie eine Überraschungsparty. Da tauchen Typen auf, mit denen niemand gerechnet hat.“

Lynne Williams spielt Viney, das Dienstmädchen der Familie, das mit Witz den oft absurden Anweisungen von Captain Arthur Keller, ihrem Dienstherren, Paroli bietet.

Der Widerspänstigen Zähmung

THEATER DER JUGEND • THE MIRACLE WORKER • VON WILLIAM GIBSON (c) Rita Newman

THEATER DER JUGEND • THE MIRACLE WORKER • VON WILLIAM GIBSON (c) Rita Newman

Die anfängliche voyeuristische Haltung des Publikums wandelt sich mit Voranschreiten des Geschehens in eine empathische und man wünscht sich nichts mehr, als das Annie Sullivan endlich mit ihrer Fingeralphabetmethode bei ihrem Schützling Erfolg hat. Bis es soweit ist, durchlebt Helen aber ungezählte Wutausbrüche, räumt den Esstisch mehrfach ab, schmeißt mit Dingen um sich und verweigert den Löffel als Esswerkzeug. Nur die Puppe, die ihr Annie als Antrittsgeschenk mitbrachte, ist ihr wertvoll. Der Baum vor dem Haus ist ihr einziger Zufluchtsort, an dem sie sich beschützt fühlt.

Das Hin und Her zwischen der Liebe der Eltern und der Strenge der Lehrerin kann für die Erwachsenen im Publikum auch als Projektionsfläche für ihre eigenen Erziehungsmethoden herhalten. Heute haben sich die Methoden, taubblinde Kinder zu erziehen, Gott sei Dank radikal geändert. Die Frage zwischen Strenge und bedingungsloser Liebe, die Kindern alle Freiheiten lässt, stellt sich aber bei jeder Erziehungsaufgabe immer wieder von Neuem.

Pure Emotionen in Moment der Erkenntnis

THEATER DER JUGEND • THE MIRACLE WORKER • VON WILLIAM GIBSON (c) Rita Newman

THEATER DER JUGEND • THE MIRACLE WORKER • VON WILLIAM GIBSON (c) Rita Newman

Helen hat die Schwierigkeit, nicht zu wissen, dass es so etwas wie Sprache gibt. Sie weiß nicht, dass jedes Ding einen Namen hat. Ihr das beizubringen, gleicht der Widerspenstigen Zähmung. Unglaublich berührend ist die Schlüsselszene gestaltet, in welcher das taubblinde Mädchen diesen Zusammenhang begreift. Wawa – das Wasser wird zu jenem Triggerwort, bei dem Helen den Zusammenhang zwischen den Fingerzeichen und der Sprache versteht. Wie es auch in der Biographie von Helen Keller nachzulesen ist, wird diese Erkenntnis zur absoluten Zäsur in ihrem Leben. Aus dem bockenden, störrischen Kind wird in einem einzigen Moment ein Mensch, der beginnt, das Leben und seine Umwelt zu verstehen. Der fähig wird, sich auszudrücken und mit seiner Familie und seinen Mitmenschen zu kommunizieren.

„Wawa – mit diesem kleinen Wort begann mein Leben. Das Geheimnis der Sprache lag nun vor mir. Von nun an hielt ich die Welt in meinen Händen. Meine Hände standen nie mehr still.“ Am Schluss ist es wieder die Stimme von Band, die Helen Keller erklären lässt, wie ihr besonderer Spracherwerb ihr Leben veränderte.

Sandra Cervik ist es zu verdanken, dass in ihrer Regie die Emotionen der Beteiligten so glaubhaft über die Bühne kommen, dass so manche Augen im Publikum feucht werden. Es ist kein nach Effekt heischendes Tränendrüsendrücken, das hier provoziert wird. Es ist echte Anteilnahme, die sich am Glück der Hauptfigur auf der Bühne und ihrer Familie erfreuen kann. Das muss Cervik erst einmal jemand nachmachen.

Ein wunderbares Stück, das nicht nur Kindern ab 11 zu empfehlen ist, sondern auch Erwachsenen. Selbst wenn sie sich alleine oder in Begleitung von Freunden die Vorstellung ansehen. Prädikat: SEHR SEHENSWERT.

Weitere Termine auf der Homepage des Theater der Jugend.

Mio meets Marty meets „Money, Money, Money“

Mio meets Marty meets „Money, Money, Money“

Allein allein, wir sind allein

Mutter tot, Vater verschollen. Bosse (Stefan Rosenthal) ist ein ungeliebtes Pflegekind und bekommt dies auch täglich zu spüren. Wenn er mit schmutziger Hose nach Hause kommt und sich entschuldigen möchte, schreit ihn seine Tante Edla (Barbara Gassner) an, er solle doch nicht so schreien.

Theater der Jugend / MIO, MEIN MIO (c) Rita Newman

Theater der Jugend / MIO, MEIN MIO (c) Rita Newman

Das Glück am Boden der Flasche

Die Abba singende Würstchenverkäuferin (Suse Lichtenberger) im Park schenkt Bosse einen goldenen Apfel, der die Eintrittskarte ins Land der Ferne ist. Als der Neunjährige dann noch eine Flasche samt Flaschengeist (Clemens Matzka) findet, kann ihn nichts mehr aufhalten, in das ferne Land der Ferne zu reisen, wo er seinen Vater vermutet. Tatsächlich erkennt ihn der König (Michael Schusser) sofort als seinen Sohn Mio wieder.

Zu den Menschen aus Bosses Welt gibt es im Land der Ferne bunte, wohlgesinnte Pendants. Doch Mio muss erkennen, dass auch im Land der Ferne nicht alles perfekt ist: Vielen der Bewohnerinnen und Bewohnern wurden ihre Kinder vom bösartigen Ritter Kato (Frank Engelhardt) geraubt und ins Land „Außerhalb“ verschleppt. Auf seiner Befreiungsmission begegnen Mio und seinem Freund Jum Jum (Luka Dimic) unter anderen Gollum, einem römischen Darth Vader mit Segway und dem Zelt-Mensch Eno (Christoph Gummert).

Theater der Jugend / MIO, MEIN MIO (c) Rita Newman

Theater der Jugend / MIO, MEIN MIO (c) Rita Newman

Sprachlich orientiert sich die Inszenierung von Stefan Behrendt nahe am Text Astrid Lindgrens. Eine Veränderung wird gegen Ende doch vorgenommen, als sich Mio der Gedanke aufdrängt, es habe sich doch alles nur um einen Traum gehandelt.

Kostüme und Szenerie erfahren durch Mathias Rümmler eine Modernisierung. Der üppige Rosengarten des Königs fällt eher dürftig aus, besticht dafür aber mit tanzenden Blumen in Morphsuits, die „Can’t Stop the Rock“ schmettern. Eine kreative Lösung bietet der Bühnenvorhang, der durch eine Lichtprojektion zur Felswand wird.

Agnetha wäre stolz

Die Kostüme fallen moderner und bunter aus, als sie in Lindgrens Roman beschrieben sind. Jum Jums Stil könnte man als „galaktisch mit Aussicht auf Regenbogen“ beschreiben. Tante Lundin, die in dieser Adaption „Frau“ Lundin genannt wird, kann im Land der Ferne ihre Abba-Affinität im blau-weißen Abba-Gedächtnis-Overall inklusive Wallemähne ausleben. Ihre Neutextung von „Money Money Money“ ist ein musikalischer Höhepunkt der Aufführung.

Nicht nur die jungen Zuseher und Zuseherinnen hatten viel zu lachen, sondern auch die Erwachsenen werden auf eine amüsante Reise durch Musik und Filme der Popkultur mitgenommen. Bis zum 20. November gehen noch Papierflugzeugflüge vom Theater der Jugend aus ins Land der Ferne.

Termine und Infos auf der Homepage des Theater der Jugend.

Wir waren wie eine Person und irgendwie doch nicht

Wir waren wie eine Person und irgendwie doch nicht

Wir waren wie eine Person und irgendwie doch nicht

So könnte man die Freundschaft zwischen der wilden Baliami (Josepha Andras) und dem anfangs schüchternen Oliver (Simon Kubiena) beschreiben. Da sie ein Flüchtlingskind aus dem Kosovo ist, verbietet Olivers Mutter (Anna Zagler) ihm den Umgang mit dem „Zigeunermädchen“. Doch von Verboten lassen sich Jugendliche in den seltensten Fällen aufhalten.

Der Dschungel Wien bietet vom 12. – 28. Oktober mit „Baliami“ Drogen, Liebe und Freundschaft in mitreißender Dosis.

Die ganze Welt geht an dem zugrunde, was sie liebt

baliami (c) _rainer_berson

baliami (c) _rainer_berson

Momentaufnahmen aus dem Leben von ein paar Freunden werden über einen Zeitraum von 13 Jahren dargestellt. Tiefe Freundschaft, aufkeimende Liebe, dann abrupte Trennung und wütende Destruktion werden in dem Stück behandelt. Nachdem sich Baliami und Oliver in ihren Jugendjahren aus den Augen verlieren, treffen sie sich mit 15 in einem Klub wieder. Plötzlich sind die alten Gefühle wieder da, obwohl beide bereits in festen Händen sind. Oliver, der seit Baliamis Weggang mit Sophie (ebenfalls Anna Zagler) zusammen ist, lässt der Gedanke an seine erste Liebe jedoch nicht mehr los und so beginnen sie sich erneut, heimlich zu treffen. Während Oliver sich zwischen zwei Frauen sieht, meint sein Freund Raphy (Max Kodelej) nur einen Ausweg aus seiner Einsamkeit und familiären Misere zu kennen: Amoklauf.

Die Schauspieler sind zugleich Erzähler und Kommentatoren des Geschehens und geben Einblicke in die jugendliche Gefühlswelt. Das tun die Darsteller auf sehr überzeugende und authentische Weise. Autor Benedict Thill und Regisseur Richard Schmetterer vermeiden übertriebenen Jugendslang und Referenzen zur Popkultur. Hier sprechen Jugendliche zu Jugendlichen. Tatsächlich ist das Ensemble noch sehr jung, aber nicht minder überzeugend.

baliami (c) rainer_berson

baliami (c) rainer_berson

Zu jeder Zeit sind die vier Ensemblemitglieder auf der von Karoline Hogl ausgestatteten Bühne hinter den Bühnenkonstrukten entweder versteckt, zusehend oder kommentierend. Das Bühnenbild besteht aus Stangen, Seilen und Kisten, die jeweils Würfel bilden. Je nach Szene und emotionalem Zustand werden sie umgestellt und unterschiedlich beleuchtet (Hannes Röbisch). Im Streit werden diese Würfel verwüstet, zerlegt und systematisch demontiert, bis am Ende alles tatsächlich in Trümmern liegt.

Alles ist relativ

Extrem und endgültig fühlt sich das Leben für diese Jugendlichen an, obwohl sich in der Rückschau vieles relativiert. Die einzige Möglichkeit ist, alles zu zerstören und neu aufzubauen. In der letzten Momentaufnahme ist das Chaos der Jugendjahre von der Bühne beseitigt. Nüchtern und ruhig ist dagegen das Ende. Raphy bekommt Hilfe in einer psychiatrischen Einrichtung, Sophie und Baliami akzeptieren einander. Oliver und Baliami entdecken, dass ihre Freundschaft stärker als Liebe ist.

baliami (c) rainer_berson

baliami (c) rainer_berson

“Baliami” ist nur eines der Projekte des “Spiegelkabinetts” unter der Leitung von Richard  Schmetterer. Im Dezember wird er mit “Pinocchio” für 7 bis 12-Jährige in den Dschungel Wien zurückkehren.

Weitere Infos auf der Homepage des Dschungel Wien.

Musik, Tanz und jede Menge Humor

Musik, Tanz und jede Menge Humor

Tanztheater für Jugendliche kann so spannend sein, dass man vergisst, dass eigentlich junges Publikum angesprochen werden soll, wenn man in einer solchen Aufführung sitzt. Wenn das gelingt, dann darf man den Hut ziehen – wie vor der Compagnie Arcosm. Sie zeigte im Rahmen des Festivals „Szene bunte Wähne“ im brut, wie man eine spannende Performance mit Live-Musik und zeitgenössischem Tanz vom Feinsten auf die Bühne bringt.


Dabei gab es eine massive Schwierigkeit zu überwinden: Einen großen, übermannshohen Holzquader, der mitten auf der Bühne schon kurz nach Beginn für Irritationen sorgte. „Bounce! Spring!“ waren bald jene Aufforderungen, mit denen die beiden Männer und Frauen aus Frankreich das Monstrum vergeblich zu überwinden versuchten.

Die Eingangssituation – eine Tanzprobe zu Livemusik – änderte sich bald drastisch. Aus den beiden Tanzenden und den beiden Musizierenden wurden rasch Rivalisierende, die alle ihre Kraft und Energie dazu verwendeten, um das hölzerne Monstrum zu erklimmen. In der Regie von Thomas Guerry und Camille Rocailleux durfte das Ensemble zeigen, dass man heute mehr braucht als nur eine gute Tanzausbildung, um das Publikum zu fesseln. Die Live-Musik, die mit einer Violine und einem Bass viel Lebendigkeit beisteuerte, war ein Zusatzplus. Die geschickte Lichtregie und das Einbauen einer Digitaluhr, die drei Mal während der Vorstellung eine Minute wie in einem Countdown rückwärtslaufen ließ, brachten Bewegung auch ins jugendliche Publikum, das jeweils laut mitzählend darauf wartete, was denn danach passieren würde.

 ARCOSM-Mitiki - Bounce @ Atelier de Paris Carolyn Carlson

ARCOSM-Mitiki – Bounce @ Atelier de Paris Carolyn Carlson

Ganz besonders fein, spannend und elegant ist die Choreografie, die ausdrucksstark das Geschehen unterstrich. Gruppenaktionen bei denen gerempelt wurde was das Zeug hielt wechselten mit akrobatischen Einlagen von nicht enden wollenden Purzelbaumkaskaden, Rädern und Rollen auf dem Boden ab. Innige Pas de deux, bei denen die Geigerin auch in den schwierigsten Hebefiguren nicht von ihrem Instrument abließ und humorige Einlagen, die Lachstürme bei den Kids im Publikum auslösten, gestalteten diese Performance so abwechslungsreich wie selten eine. Der schwierige Weg nach oben auf den Kubus gelingt dann doch einer der Frauen, um jedoch rasch in der Erkenntnis zu münden, dass die Luft oben besonders dünn ist und Einsamkeit sich rasch um jene verbreitet, welch die anderen unter sich lassen. Dass es zum Schluss dennoch ein Happy End gibt, ist fast selbstverständlich.

Eine herausragende Inszenierung, die leider nur zwei Mal im Rahmen des Festivals gezeigt werden konnte, die es aber verdient hätte, vor einem wesentlich zahlreicheren Publikum aufgeführt zu werden.

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