Es war kein Unfall, sondern ein Verbrechen
21. Oktober 2023
Senfgas, eine giftige Chemikalie, die das erste Mal 1916 von den Deutschen im belgischen Ypern gegen die Soldaten der Entente eingesetzt wurde, spielt eine Hauptrolle in Maria Lazars Stück „Der Nebel von Dybern“. Zu sehen war das wiederentdeckte Stück in Österreich nun erstmals im Theater Nestroyhof Hamakom.
Michaela Preiner
Foto: (Marcel Köhler)

Wie schützt man sich vor etwas, das tödlich ist, aber von dem man nicht weiß, dass es tödlich ist? Die erst 2014 durch eine Neuauflage ihrer Werke wieder entdeckte Schriftstellerin Maria Lazar (22. November 1895 in Wien, † 30. März 1948 in Stockholm) , schrieb 1933 das Drama „Der Nebel von Dybern“ und erreichte damit internationales Ansehen. Doch schon kurz nach den ersten Aufführungen in Stettin wurde es von den Nationalsozialisten abgesetzt und war danach nur mehr im Ausland zu sehen. Die gebürtige Wiener Jüdin hatte durch Heirat die schwedische Staatsbürgerschaft erhalten, weswegen sie von Österreich nach Dänemark auswandern konnte. Sie verschob in ihrem Stück geschickt die Perspektive weg von einem Kriegsgeschehen, hin zu einer von Menschen gemachten Umweltkatastrophe. Dieser dramaturgische Schachzug macht den „Nebel von Dybern“ auch heute – 90 Jahre nach seiner Uraufführung – genauso brisant wie damals.

In einem „Gasthaus am Rande“ macht man sich Sorgen um einen Nebel, der Menschen und Tiere zu töten scheint. Auf der Hand liegt der Verdacht, dass der Verursacher der Katastrophe die nahe gelegene Chemiefabrik ist, in welcher aber der Direktor und seine Untergebenen die Verantwortung strikt von sich weisen. Der Plot ist wie ein Krimi aufgebaut, in dem sich nach und nach die einzelnen Handlungs-Puzzle-Stücke so zusammenfügen, dass sich erst gegen Ende eine plausible Erklärung des Geschehens ergibt.

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Der Nebel von Dybern im Theater Hamakom (Foto: Marcel Köhler)

Unter der Regie von Bérénice Hebenstreit, die mit nur drei Personen auf der Bühne auskommt und einer fulminanten Musikdramaturgie von Michael Isenberg wird das Publikum mithilfe von Requisiten und Gesten von Beginn an teilhaftig an der mysteriösen Grundstimmung, welche auch alle Figuren im Stück erfasst. Was bedeuten die eindrücklichen Gesten mit den Händen, stumm präsentiert, ohne weitere Erklärung? Warum werden ein Telefon oder ein alter Radio explizit an verschiedene, kleine Stehtischchen platziert?

Aline-Sarah Kunisch, Sebastian Klein und Johanna Wolff schlüpfen in unterschiedliche Rollen, die jedoch dank der – wenngleich auch nur spartanischen – Kostümwechsel klar zu erkennen sind. (Bühne und Kostüm Mira König) Die schwangere Barbara, die alte, abgeklärte Kathrine, Luise, eine Freundin, der Doktor der nahen gelegenen Stadt, ein Zeitungsreporter oder eine geistliche Schwester, aber auch die Fabrikeigentümer und -mitarbeiter, sie alle erleben das mysteriöse Geschehen von unterschiedlichen psychologischen Positionen aus.

Verantwortliche, Opfer, Widerständige, Befehlsempfänger und -ausführer, das gesamte menschliche Kompendium, das sich in jedem Unglücksszenario findet, kommt ohne jegliche moralische Wertung zu Wort. Das tragische Ende, nicht nur jenes der Stadtbewohner, die Zuflucht in einem unterirdischen Kino suchten, sondern auch jenes der schwangeren Barbara, zeigt sich, trotz aller vorhersehbaren Katastrophen, dennoch unerwartet. Der Scharfsinn der jungen Frau, aber auch ihre Kompromisslosigkeit und ihr Mut auszusprechen, was sich keiner zu sagen traut, machen klar, dass der Austritt des Giftgases aus der Fabrik nicht als Unfall, sondern als Verbrechen bezeichnet werden muss.

Hebenstreit gelingt das Kunststück, unter Zuhilfenahme von cineastischen Stilmitteln immer wieder auch humorvolle Momente einzubauen. Diese werden jedoch nie auf Kosten der Opfer eingesetzt, sondern machen vielmehr klar: Im Theater wie auch abseits der Bühne ist es oft das Absurde, das der Tragik ihre Spitze nimmt und diese dennoch erträglich macht.

Es ist die brillante Performance aller Beteiligter – dem Ensemble, der Regie, dem effektvollen musikalischen Einsatz und der Ausstattung – welche diese Inszenierung so besonders gelungen macht und zeigt, dass das Theater als Unterhaltungs- und Bildungsmedium nach wie vor locker neben TV-Formaten und Kino-Großproduktionen Stand halten kann.

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