Aus der Nervenheilanstalt zur Weltherrschaft

Aus der Nervenheilanstalt zur Weltherrschaft

Aus der Nervenheilanstalt zur Weltherrschaft

Aus der Nervenheilanstalt zur Weltherrschaft

„Die Physiker“ (Foto: Johanna Lamprecht/Schauspielhaus Graz)
Die Nerven müssen beruhigt werden, selbst auf die Gefahr hin, die Lungen mit Nikotin zu verpesten. Was der Seele guttut, muss nicht zwangsläufig auch dem Körper guttun. Das demonstrieren in trauter Dreieinigkeit Dr. Mathilde von Zahnd und ihre beiden besten Pflegerinnen während einer durchchoreografierten Rauchpause im rundum verglasten Raucherkammerl des Sanatoriums „Les Cerisiers“.
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„Die Physiker“ (Fotos: Johanna Lamprecht/Schauspielhaus Graz)
Grund genug, ihr Nervenkostüm zu beruhigen haben sie ja, nach den beiden Morden, die zwei Insassen an Schwestern begangen haben. Das eindrucksvolle Bild der umnebelten und suchtbesessenen Frauen stammt von Claudia Bossard. In ihrer Regie von „Die Physiker“ von Friedrich Dürrenmatt am Schauspielhaus in Graz gibt es neben jeder Menge gröberem Klamauk auch eine ganze Menge neu eingefügten Text. Das Ensemble spielt offenkundig mit viel Freude und erzeugt dabei eine positive Komödienstimmung, die rasch ins Publikum schwappt.

Dass sich das „Team“ um die Sanatoriumsbesitzerin Dr. Zahnd ausschließlich in türkisem Ärztehabit zeigt, mag nur auf den ersten Blick unverdächtig erscheinen. (Kostüme und Bühne Frank Holldack, Elisabeth Weiß). Spätestens als das Ende naht und die verrückte Ärztin von ihrem Imperium und jenen blauen Pferden, welche um das Sanatorium herum aufgestellt sind, schwadroniert, fällt der Groschen. Türkis ist in Österreich seit einigen Jahren politisch determiniert und die Querverbindung zwischen einer Nervenheilanstalt, in der die Absurdität fröhliche Urstände feiert, und jener Partei, die erneut im Begriff ist, den Kanzler in diesem Land zu stellen, darf in einer funktionierenden Demokratie am Theater zum Glück hergestellt werden.

Es ist aber nicht der einzige Twist, den die Regisseurin der ohnehin tiefschwarzen und tiefsinnigen Komödie des Schweizer Schriftstellers, verpasst. Dürrenmatts Foto und eines des Kultur- und Kunstwissenschaftlers Aby Warburg blicken von der Wand auf das Publikum herab, so als ob die beiden Antipoden das tolle Treiben auf der Bühne unter ihren wachsamen Augen nicht aus dem Ruder laufen lassen wollten. Und tatsächlich erweitert Bossard die Geschichte von den drei Physikern Sir Isaac Newton, Albert Einstein und Johann Wilhelm Möbius, die aus unterschiedlichen Motiven in einer Nervenheilanstalt gelandet sind, um eine ganz spezielle Erzählung von Warburg.

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„Die Physiker“ (Foto: Johanna Lamprecht/Schauspielhaus Graz)
Bei einem Amerika-Besuch lernte er die Hopi-Indianer kennen und beschrieb danach ein bestimmtes Ritual, das sie Schlangentanz nannten. Bei dramaturgischen Tiefschürfungsarbeiten dürfte wohl die Idee zur Verzahnung der Geschichte von Aby Warburg und jener von Dürrenmatt gekommen sein. Denn das indigene Volk lebte in jener Gegend, in welcher der Bau der Atombombe in Amerika vorangetrieben wurde. Im überraschenden Finish taucht jene Nebenfigur noch einmal auf, die als Polizeibeamter zuvor nur die Aufgabe hatte, jede Aussage minutiös mitzuschreiben. Er stellt in einer rhetorischen Raserei den Bezug zwischen der Untergangsprophezeiung der Hopi-Indianer und dem schamlosen Umgang mit der gefährlichen Technik her, die das Ende der Menschheit einleiten kann. Gerade jener Technik, deretwegen sich Möbius als geisteskrank ausgibt, nur um nicht in Freiheit seine todbringenden Entdeckungen preisgeben zu müssen.

Bis es aber so weit kommt, zeigt sich die Drehbühne des Schauspielhauses in Graz von vielen verschiedenen Seiten. Einmal zum Publikum hin geschlossen, wie eine Trutzburg aus der man weder hinein noch hinaus kann. Dann wieder von innen – mit bereits beschriebenem Raucherkabinett und einer live agierenden Band. Die durchgehende Besetzung der männlichen Rollen mit Frauen und umgekehrt rechtfertigt Bossard mit dem Aufbrechenwollen von sozial determinierten Rollen. Unbedingt notwendig wäre dies nicht, hat doch Dürrenmatt selbst mit der Figur von Frau Dr. Zahnd einen machtbesessenen Charakter geschaffen, der keine weiblichen Züge trägt.

Die Erzählung, die von einer Krimikomödie zu einem Politthriller mutiert, kippt in der Inszenierung in eine War-game-Szenerie mit gefährlichen Schusswechseln. Da darf dann geballert werden, was das Zeug hält, bis Vernunft einkehrt und die „Guys“ ihre Waffen wieder ablegen. Neben tempo- und gagreichen Szenen gelingt Bossard mit der Vorstellung des genialen Physikers Möbius auch ein emotionales Highlight. Begleitet zu wilden Bandklängen verausgabt sich Sarah Sophia Meyer in dieser Rolle in einem Anfall von wissenschaftlicher Raserei und schreibt dabei permanent Formeln an die Innen- und Außenwände des gläsernen Raumes. Das Getriebensein eines rastlosen Geistes wird durch die kluge Choreografie anschaulich gemacht, in welcher Möbius` Körper auch von Zuckungen heimgesucht wird und mehrfach auf dem Boden Verrenkungen macht. Eine außerordentliche Szene, die stark im Gedächtnis haften bleibt.

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„Die Physiker“ (Fotos: Johanna Lamprecht/Schauspielhaus Graz)
Dürrenmatt hat sicherlich sein Sanatorium „Les Cerisiers“ – zu Deutsch „Die Kirschbäume“ in Anlehnung an Anton Tschechows „Der Kirschgarten“ benannt. Tschechows Figuren nehmen in dem Stück Abschied von einem alten Gesellschaftssystem. Sie opfern den prächtigen Kirschgarten ihres alten Anwesens, um aus ihm durch parzellierten Verkauf letztlich finanziell überleben zu können. Dennoch klingt bei Tschechow nicht nur Wehmut mit, sondern auch ein positiver Ausblick in die Zukunft. In eine, in der nicht mehr nur einige wenige vom vorhandenen Wohlstand profitieren werden.

Bei Dürrenmatt hingegen wendet sich das Blatt wieder und der Ort seiner „Kirschbäume“ mutiert zum Sinnbild eines diktatorischen Weltherrschaftssystems, das seine brillanten Köpfe ausbeutet und wegsperrt. Die globale Wirtschaftsmacht, die sich Dr. Zahnd mithilfe von gestohlenem Know-how aufgebaut hat, zieht wiederum eine Kapitalkonzentration nach sich, der man zu Beginn des 20. Jahrhunderts eigentlich entkommen wollte.

Sind „Die Physiker“ an und für sich schon ein Stück mit mehreren Ebenen, wird es in der Bossard-Version mit noch weiteren ausgestattet. Mit ihm erlebt man einen spritzig-witzigen Theaterabend, erhält aber auch ein ganzes Paket an zeitgeistigen Input, über den es sich lange nachzudenken lohnt.

Zu Recht viel Applaus am Premierenabend für:
Andri Schenardi, Matthias Ohner, Frieder Langenberger, Julia Franz Richter,
Tamara Semzov, Sarah Sophia Meyer, Alice Peterhans, Anna Troper-Lener, Paul Öllinger,
Oliver Chomik, Beatrix Doderer, Susanne Konstanze Weber

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Der Fluch der Götter setzt sich fort

Der Fluch der Götter setzt sich fort

Der Fluch der Götter setzt sich fort

Der Fluch der Götter setzt sich fort

„Thyestes Brüder! Kapital.“ (Foto: Eva Würdinger)
Was haben die Mythen der alten Griechen mit uns zu tun? Können Jahrtausende alte Geschichten uns heute noch berühren, in uns ein Echo auslösen? Ist die Verschränkung des Schicksals von Tantalus und seiner Sippe mit den Ideen von Karl Marx sinnvoll?
All diese Fragen sind eindeutig mit „ja“ zu beantworten – hinterlegt man ihnen die neue Produktion von Claudia Bosse „Thyestes Brüder! Kapital.“ und ihrem Theatercombinat. Nach der Uraufführung in Düsseldorf wird diese jetzt in Wien – in einer für Bosse typischen Location – gezeigt. Im „Kasino am Kempelenpark“, der ehemaligen Kantine der Firma Siemens, wird ihr begehbares Theaterstück nicht nur als tragische Familiengeschichte erlebbar.
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„Thyestes Brüder! Kapital.“ (Foto: Elsa Okazaki)
Die Theatermacherin schafft in einer der letzten Szenen auch den Transfer ins Heute – und verpasst mit dem allerletzten Satz dem Publikum noch einen gedanklichen Keulenschlag. Da atmet von der Dramaturgie her nicht nur die Antike aus sich heraus, sondern das hat auch die Dimension eines der großen Stücke von Thomas Bernhardt.

Fünf Personen, die sich zu Beginn unter die Zusehenden mischen, ziehen sich ganz unerwartet aus, bis sie nackt und bloß ihre vorgeschriebenen Positionen im Raum einnehmen. Da stehen sie nun wehrlos, den Blicken des Publikums ausgeliefert und brüllen, aus ihrem tiefsten Inneren kommend, sich zu rhythmischen Percussion-Klängen und diffusen, unberechenbaren elektronischen Geräuschen ( Sound Günther Auer) ab und zu Schmerzensschreie aus dem Leib. Langsam verlassen sie nach und nach ihre Positionen, um sich zu kleinen Gruppen zusammenzufinden und für Augenblicke regungslos zu verharren.

Dabei erinnern sie an jene griechischen Skulpturenanordnungen, die größtenteils nur in Fragmenten oder römischen Nachbildungen erhalten sind, wie zum Beispiel die berühmte Laokoongruppe. Dennoch sind es im Stück von Bosse keine nachgestellten, emblematischen Bilder, die zu sehen sind. Vielmehr solche, die sich aus dem Stückkontext ergeben und sich erst im Nachhinein erschließen. Hätte man im Anschluss an die Vorstellung die Kombinationen der einzelnen Figuren noch im Gedächtnis, sei hinzugefügt. Zumindest aber kann man sich daran erinnern, dass die Kernaussage emotional nachvollziehbare Schmerzenszustände vermittelte. Und etwas Anderes wäre auch nicht passend. Denn die Tragik von Tantalos, der zur Strafe, dass er den Göttern Nektar und Ambrosia stahl, lebenslange Qualen erleiden musste und seine Nachkommen verflucht wurden, lässt sich auch nicht anders darstellen.

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„Thyestes Brüder! Kapital.“ (Foto: Claudia Bosse)
Gleich griechischen Skulpturen, die in der Überlieferung zwar das weiße Inkarnat des Marmors zeigen, ursprünglich aber bunt bemalt waren, erhalten auch Bosses Figuren nach und nach Farbe. So bekommt Rotraud Kern als Furie, die über Tantalos ihren wortgewaltigen und blutrünstigen Fluch ausspricht, einen schwefelgelben Anstrich. Mun Wai Lee als machtbesessener Familienschlächter und Kurzzeitimperator Artreus beschmiert sich mit dunkelviolettem Inkarnat, dem Kolorit von Herrschern. Alexandra Sommerfeld, die als Bote die blutige Nachkommensauslöschung zu erzählen hat, wird dementsprechend eingefärbt und auch Nic Lloyd, der als Thyestes unwissend seine eigenen Kinder verspeist, trieft es schließlich blutrot aus dem Mund. Lilly Prohaskas Haut und Haar wird weiß bestrichen und vermittelt so den Anschein von steinerner, ewiger Last über die Jahrtausende hinweg. Sie spielt jenen Tantalos, der durch seine anmaßende, frevelnde Tat Unglück über seine Sippe brachte. Und wie Claudia Bosse die Geschichte weiterlaufen lässt – hallt sein Fluch bis in unsere Zeit nach.

Die von Seneca erzählte Tragödie, die ursprünglich von Euripides stammt, erhält in der Übersetzung von Durs Grünbein so manch zeitgenössisches Sprachbild. Vom Ensemble wird es extrem verständlich deklamiert. Zuweilen in Monologen, dann auch wieder gemeinsam im Chor, dem sich gegen Stückende auch ein weiterer hinzugesellt. In einer Koproduktion mit dem jungen Volkstheater verstärken junge Menschen das Geschehen auf der Bühne gerade in jenem Moment, in dem erzählt wird, dass selbst die Sterne nach den grausigen Taten aus dem Himmel fielen und die Nacht kein Ende mehr nehmen wollte.

Juri Zanger klettert währenddessen auf eine Leiter, um von dort aus dem „Kapital“ von Marx vorzutragen. Dabei verweist er immer wieder auf die Dualität von Produktion und Konsumption, mit Gesten so unterstützt, dass man die beiden Begriffe als Auferstehung des sich hassenden Brüderpaares Thyestes und Artreus verstehen könnte. Das eindringliche Bild von Thyestes, der blutrotes Fleisch in sich hineinschlingt und dabei eine rote Flüssigkeit trinkt, währenddessen sein Bruder große, frische Rinderherzen präpariert, verschränkt diese Idee optisch und erzeugt Grauen. Grauen vor der Menschenverachtung des Artreus genauso wie Grauen vor jenem Kapitalismus, der – so hat es den Eindruck – gerade in unserer Zeit seine eigenen Kinder verschlingt. Hier ist das Szenario der Zerstörung unserer Erde nicht weit hergeholt. Ausgebeutet wird bis zu einem Ausmaß, das jegliche Reversibilität übersteigt und den Planet Erde an den Rand der Unbewohnbarkeit treibt.

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„Thyestes Brüder! Kapital.“ (Fotos: Eva Würdinger)
Es ist nicht nur Bosses intelligenter Faden, den sie von der Antike ins 21. Jahrhundert weiterspinnt, der diese Produktion so spannend macht. Es ist auch die herausragende, schauspielerische Leistung des gesamten Ensembles, die so unglaublich unter die Haut geht. Die Schutzlosigkeit, der die Männer und Frauen nackt ausgeliefert sind, der schwierige Text, den sie so nachvollziehbar sprechen, dass man sich fühlt, als wäre man Zeuge eines aktuellen Geschehens – die so unbeschreiblich grausame Geschichte, all das vermengt sich zu einem Theateramalgam der seltenen Art. Der Hass und der Machthunger, die Verschlagenheit und der Blutrausch, über die erzählt werden, aber auch das unbeschreibliche Leid, das dadurch ausgelöst wird, berührt sehr.

Jene Stelle, in welcher Thyestes von seinem verbannten Bruder unerwartet, aber mit Hinterlist dazu aufgefordert wird, Frieden zu schließen, bleibt wohl lange im Gedächtnis. Benutzen die beiden Männer doch jeweils den geöffneten Mund des anderen als Verstärker der eigenen Sätze. So nah, so verschlingend, so besitzergreifend ist ihr Sprechen dabei, dass es einem selbst die Kehle zuschnürt.

In seinen letzten Sätzen weist der Kindsmörder Artreus seinen Bruder, der nicht verstehen kann, warum seine Söhne von ihm getötet wurden, darauf hin, dass Thyestes selbst zu feig zu so einer Tat gewesen ist. „Du wolltest meine Kinder, warst aber nicht sicher. Was, wenn es die eigene Brut trifft?“ Die Aussage kommt wie ein Hammerschlag und verbindet Thyestes Schicksal mit unseren im highspeed Zeitraffertempo.

„Thyestes Brüder! Kapital.“ ist ein Stück auf der Höhe der aktuellen, internationalen Theateravantgarde mit einer archaischen Wucht, der man sich nicht entziehen kann. Sehenswert.

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Tanzend in den Abgrund

Tanzend in den Abgrund

Das Publikum macht sich bereit für einen langen Theaterabend. Fünf Stunden inklusive Pause steht im Programmheft. Dass fünf Stunden dermaßen schnell vergehen können, ist ein Theatererlebnis der neuen Art.

„Vernon Subutex“ ist der Titel jenes Stückes, das derzeit am Schauspielhaus in Graz die Geister scheidet. Nach einer Romanvorlage der Französin Virginie Despentes, die für das Theater adaptiert wurde, heißt es schon zur Halbzeit: Entweder es gefällt, oder das Theater wird in der Pause kurzerhand verlassen. Alle, die dies tun, fallen um einige eindrucksvolle Bilder um. Und um einen dystopischen Schluss, der mit einem humorigen Epilog doch noch erträglich wird.

Die Geschichte, mit Nebenverästelungen, erzählt vom Leben Vernons Subutex, gespielt von Norbert Wally, der dazu kräftig seine E-Gitarre bedient und rockige Melodien singt. (Komposition Benedikt Brachtel) Subutex wird als Drogensubstitut für Heroin eingesetzt und tatsächlich spielen Drogen eine zentrale Rolle in dem Stück. Vernon war einmal Besitzer eines Plattenladens und wurde vom Popstar Alex Bleach (Clemens Maria Riegler) über viele Jahre mit Geld versorgt. Davon konnte er seine Miete bezahlen. Als Alex stirbt – auf der Bühne bildlich dargestellt in Anlehnung an „Der Tod des Marat“ von Jacques-Louis David, sitzt Vernon bald auf der Straße und wird zum Obdachlosen im Einmann-Zelt. Die Marat-Metapher stimmt insofern, als die Musik von Alex später als subversiv verboten gilt, er aber Kassetten hinterlassen hat, die sein Vermächtnis tragen. Marat – später als Revolutionsmärtyrer gefeiert – veröffentlichte inmitten der Revolutionsphase widerständige Aufrufe bis hin zum Sturz des Königs.

Alex lebte in einer Hassliebe mit einer jungen Frau zusammen, der er jede Menge Stoff besorgte. Diese arbeitete als Pornodarstellerin für einen verkommenen, aber reichen Filmproduzenten mit mafiösem Umfeld, der sie drogenabhängig machte. Die Erziehung ihrer kleinen Tochter überließ die Schauspielerin ihrem Mann, einem Universitätsangestellten mit arabischen Wurzeln. Kurz darauf verstarb die „Porneuse“ – wie sie sich selbst bezeichnete, eines gewaltsamen Todes durch Schergen ihres Produzenten, dem sie mit Enthüllungen einer Pornoringes mit Politikern drohte. Die Geschichte nimmt Fahrt auf, als ihre Tochter nach vielen Jahren vom wahren Leben ihrer Mutter erfährt und ihren Tod rächen will. Zum Entsetzen ihres Vaters ist sie ausübende Muslimin. Katrija Lehmann changiert zwischen aufmüpfiger Jugendlicher und gläubiger Jung-Muslimin, die sogar bereit ist, sich einem patriarchalischen Diktat zu unterwerfen, was ihren Vater (Franz Solar) zur Verzweiflung treibt.

Neben den genannten werden noch viele andere Charaktere vorgestellt und in die Handlung verwoben. Einen höchst eindrücklichen, furios angelegten Monolog hält Florian Köhler als Börsenmakler Kiko. Getrieben von seiner Geldgier und aufputschenden Drogen kommt es zu darin auch zu einer veritablen Publikumsbeschimpfung. In seiner Wutansprache macht er klar, dass das Börsengeschehen der wahre Motivator des Turbokapitalismus ist, dem alles andere untergeordnet ist. Köhler trägt seinen Text mit derartiger Verve vor, dass er – trotz Hilferuf nach der Souffleuse – zu Recht mit Zwischenapplaus bedacht wurde.

Ebenso aufwühlend und herausragend gespielt ist jene Szene, in der sich eine junge Obdachlose (Julia Gräfner) und ein rassistischer Arbeiter (Fredrik Jan Hofmann) bis aufs Blut befetzen – um letztlich gemeinsam, im Verstehen des Verlustes, über den Tod ihrer geliebten Hunde zu weinen.

Die Regie von Alexander Eisenach stellt der Geschichte einen Prolog voran, den Despentes ans Ende ihrer Romantrilogie gesetzt hat. Darin erklärt ein gealtertes Paar aus der Zukunft in Marsbewohnerverkleidung, was es mit der Subutex-Bewegung auf sich hat. Beatrice Frey und Rudi Widerhofer haben nicht nur hier, sondern in ihren zweiten Rollen als Pennerpaar die Sympathien auf ihrer Seite. Die Subutex-Gruppe muss sich versteckt halten, um nicht umgebracht zu werden. In einer Welt, in der alle und alles kontrolliert und beschränkt wird und dem Turbokapitalismus untergeordnet ist, hält sie an einem Lebensstil ohne Zwang und Konsum fest und feiert und tanzt im Wissen, eine verfolgte Randgruppe zu sein.

Dank einer grandiosen Bodenchoreografie von Alex Deutinger und Marta Navaridas – bei der alle Subutex-Mitglieder in Unterwäsche am glitschigen Boden rutschen und von einer Kamera dabei gefilmt und auf eine Leinwand projiziert werden, lässt Eisenach jenes ausgelassene Lebensgefühl nachvollziehbar machen, das der kapitalistischen Obrigkeit ein Dorn im Auge ist. Daniel Wollenzin setzt in seinem Bühnenbild am Ende noch die spannende und opulente Idee eines dreiteiligen, bunten Kathedralenfensters um. In diesem flimmern auf kleinteiligen Bildschirmen Videos von Subutex-Anhängern. Vernon selbst wird letztlich in der Pose des gekreuzigten Christus – inklusive Kreuzabnahme – vorgeführt und verweist damit auch ohne weitere Aufklärung das gewaltsame Ende der Gruppe.

Die komplexe Handlung mit ihren vielen Nebensträngen wird in der Inszenierung nach einem eher langatmigen Einstieg kurzweilig präsentiert. Um jedoch die Metabotschaft zu verstehen, muss man imstande sein, auch feine Untertöne wahrzunehmen und jene Metaphern zu erkennen, die trotz allem Trubel und trotz aller vermeintlicher Hippie-Glückseligkeit das Drama unseres aktuellen Zeitgeschehens in sich tragen. Der Blick in eine zukünftige Welt, in der Andersdenkende und Anderslebende geächtet werden und in welcher Musik verboten ist, scheint leider nur auf den ersten Blick übertrieben. Der scheinbar unstillbare Drang nach noch mehr Überwachung, sei es von Internetgiganten oder politischen Parteien selbst, lässt ein Szenario wie jenes von „Vernon Subutex“ letztlich aber nicht gänzlich illusorisch erscheinen. Leider. Ein sehenswerter und nachdenkenswerter Theaterabend.

Die Leiden der jungen Wärter

Die Leiden der jungen Wärter

„Der Wärter ist weg.“ Uff, uff, uff, ach ich bin so besonders.“ „Die Sexualisierung ist demokratisch – im Gegensatz zur Schönheit.“ Mit diesen drei kurzen Textfetzen steckt man schon tief in der „goetheschen Schmonzette von Nele Stuhler und Jan Koslowski“ mit dem Haupttitel „Die Leiden der jungen Wärter“.

Einem Stück, das sich jenes Klassikers annimmt, der nach seiner Veröffentlichung für reihenweise Skandale sorgte. Nicht nur, weil sich viele junge Männer ganz nach Werthers Vorbild ins Nirwana schickten. Die Uraufführung des zeitgeistigen Remakes erlebte das Schauspielhaus in Graz.

Was ist heute übrig geblieben von diesem romantischen Leiden, das sich aufgrund der Liebes-Nichterfüllung ins Unerträgliche steigerte? Stuhler und Koslowskis machen ihre Auslegung anhand von komplizierten, dialektischen Texten rund um Gefühle, Objekte und Taten deutlich. Oder vielmehr – sie verschleiern mehr als sie behaupten.

Ganz der Postmoderne verpflichtet, verweigern sie sich einer eindimensionalen Erzählung mit Einleitung, Klimax und Nachgesang. Vielmehr gibt es mehrere, lange, pseudophilosophische Texte, die in einem Hörsaal besser aufgehoben wären als im Theater. Vor allem, weil sie diese noch in Worte und Halbsätze zerstückeln und vom Ensemble in rascher Abfolge nacheinander aufsagen lassen.

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„Die Leiden der jungen Wärter“ – Schauspielhaus Graz (Foto: Lex Karelly)

Aber wahrscheinlich soll die Verwirrung, die das auslöst, beim Publikum auch so ankommen. Denn wer kennt sich heute im großen Feld der Liebe schon wirklich aus? Da hilft zumindest die Regie – ebenfalls von Stuhler und Koslowski – ein wenig weiter, in der die einzelnen Charaktere stärker leuchten als ihr Text. Das Institut für Schauspiel der Kunstuniversität Graz stellte dafür das Ensemble, das sich meisterlich in seinen Staccato-Einsätzen bewährte. Wie aus einem grellen Comic-Heft flimmern ihre Aussagen zu Beginn projiziert auf die vorgezogene Bühnenwand, die sich später auch als Spintreihe zeigen wird und eine Reihe von Auf- und Abgängen anbietet. (Bühne Lukas Kesler)

Nach der tantrischen Vergewisserung, etwas Besonders zu sein, denn sonst könne man ja nicht geliebt werden, wird Wilhelm in der Nicht-Erzählung in jenes Oyster-Valley geschickt, in dem er seinen Freund „Wärter“ oder „Werther“ vermutet, um ihm „analog“ den Kopf zu waschen. Denn dass dieser wieder einmal in Liebesverstrickungen steckt, weiß er aus dessen elektronischen Briefen. Die Outfits erinnern samt und sonders an die 70er-Jahre (Kostüme Marilena Büld), eine Zeit also, in der das Internet noch nicht erfunden war und die Dekonstruktion der Moderne noch nicht in den Köpfen aller Intellektueller angekommen war. Einer Zeit aber auch, in der dank der Erfindung der Pille die Frauen eine sexuelle Revolution erlebten und nicht zuletzt dadurch das Patriarchat ins Wanken kam. Von Letzterem ist aber ist im Stück nicht die Rede.

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„Die Leiden der jungen Wärter“ – Schauspielhaus Graz (Foto: Lex Karelly)

Wie sich zeigen wird, ist „Willi“ in einer „Institution“ gelandet, die nach strikten Regeln lebt. Nach außen zumindest. Schon bald wird deutlich, dass es unmöglich ist, die einzelnen Pärchen, die sich als solche definieren, auch wirklich einander zuzuordnen, zu groß ist ihre Fluktuation hin zu anderen Liebesattraktionen. Was noch klar wird ist, dass genannter „Werther“, der niemals in Erscheinung tritt – alle in Oyster-Valley Lebenden in Liebesschmerzen sitzen hat lassen. Am überzeugendsten bringt dies Fräulein C. zum Ausdruck – die sich an einer Stelle ihr Liebesleid mit einer „Scheiß“-Tirade aus dem Leib brüllen muss. Es ist eine der wenigen Stellen, in der die Emotion hochkochen darf und auch in den Publikumsrang überschwappt.

Untermalt wird das Geschehen mit Musik, begonnen von Wagner´schen Klängen über amerikanische 70er-Jahre Schnulzen bis hin zu französisch-afrikanischem Soft-Rap. In raschem Tempo wird nicht nur über die gesellschaftlichen Regeln verhandelt, die darin gipfeln, ausgerechnet an einem freien Nachmittag Sport machen zu müssen. Ein Großteil des Textes befasst sich mit der Ökonomisierung der Sexualität und den daraus resultierenden, entgrenzten Beziehungszuständen.

Patrick Firmin Bimazubute, Romain Clavareau, Paul Enev, Alina Haushammer, Fanny Holzer, Carmen Kirschner, Ioana Nitulescu, Nataya Sam und Mia Wiederstein dürfen bei zwei Nummern auch ihr Sangestalent unter Beweis stellen und einmal im Gänsemarsch gymnastische Übungen absolvieren, sodass der Eindruck einer genreübergreifenden Inszenierung mit Revue-Touch entsteht. Dass der Schauspielnachwuchs dabei Freude hat, ist spürbar. Dass er dabei aber selbst auch immer ernst bleiben kann, erstaunt.

Trotz vieler klamaukhafter Überzeichnungen bleibt dennoch ein bitterer Nachgeschmack. Wo ist sie hin, diese romantische Liebe, von der alle noch tief in ihrem Inneren einen Schmerz verspüren? Und ist es wirklich so, dass man am Beginn einer Leidenschaft schon zwangsläufig an ihr Ende denken muss, wie glaubhaft versichert wird?

Ein Theaterabend, der durch die Leistung der Studierenden beeindruckt und getragen wird. Ein Abend, der auch die Regie mit Lob bedenken darf. Aber auch ein Abend, der zeigt, wie gut dem Theater große Gefühle und Erzählungen tun. Gerade weil sie hier fehlten.

Ein Fest für alle Pyrotechniker

Ein Fest für alle Pyrotechniker

Ein Fest für alle Pyrotechniker

Ein Fest für alle Pyrotechniker

FAUST / Burgtheater Wien (Foto: Matthias Horn)

Im Burgtheater erlebt derzeit eine überarbeitete Fassung von Martin Kušejs „Faust“ – eine Übernahme aus dem Münchner Residenztheater – ihre Wiener Aufführungsserie. Ein Muss für all jene, die pyrotechnische Herausforderungen lieben. Ein ebensolches für all jene, die schauspielerische Glanzleistungen erleben wollen.

Die Regie, die Goethes Sinnsucher hier in einem kalten, existenzialistischen Environment darstellt, weist einige Höhepunkte auf, stellt aber auch Fragen, die heute vermeidbar sein sollten.
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FAUST / Burgtheater Wien (Foto: Matthias Horn)
Ein großer Lastenkran, unter dem sich eine Plattform befindet, auf der getanzt, geboxt und geliebt wird, sitzt über einem Waschraum und einer Industriehalle samt Treppe in den ersten Stock, die viel begangen wird. Eisen und Stahl sind die bestimmenden Bauelemente, wohl kann man sich in keinem der Räume fühlen. Egal ob unter Dach oder im Freien. (Bühne Heidi Hackl) Bibiana Beglau als Mephisto glänzt von der ersten Auftrittssekunde an. Dabei grinst sie aus einem Spiegel und beobachtet Faust, der dabei ist, über sein Schicksal zu hadern. Die großgewachsene Schauspielerin verbringt augenscheinlich viel Zeit an Fitnessgeräten. Selten war es einem vergönnt, das athletische Muskelspiel einer Frau auf der Bühne derart bewundern zu können. Mit ihrem androgynen Auftritt – verstärkt durch viele Kostümabwandlungen – ist sie eine absolute Idealbesetzung. Sie überragt Faust, gespielt von Werner Wölbern um einiges – nicht nur wenn sie hochhakiges Schuhwerk trägt. Sie windet sich in tierischem Gehabe, einer Schlange gleich, als sie Faust ihre Dienste anbietet. Sie spottet mit scharfer Zunge, leidet und fickt was das Zeug hält und ist sich dennoch schmerzlich bewusst, dass sie als gefallener Engel aus jenem paradiesischen Zustand vertrieben wurde, den es wahrscheinlich gar nicht gibt. Zumindest lässt der Regisseur dies offen.
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FAUST / Burgtheater Wien (Foto: Matthias Horn)
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FAUST / Burgtheater Wien (Foto: Matthias Horn)
Dabei sind es immer wieder auch heitere Momente, welche dem versinnbildlicht Bösen einen humorigen Touch verleihen. Dann zum Beispiel, wenn Mephisto blutüberströmt in einer Schlachterschürze Faust aus seiner linken Flanke eine tödliche Kugel herausmetzgert, die plötzlich in hohem Bogen aus dessen Leib springt. Egal, welcher Charakterzug gefragt ist, Beglau setzt alle Facetten des Verführers vorbildhaft um.

Kušejs Faust ist einer, der sich, nach einem gescheiterten Suizidversuch, selbstgefällig über Situationen und Menschen stellt. Völlig verblendet schiebt er jegliche Schuld von sich, die er durch sein Tun verursachte und treibt mit seinem rastlosen Verlangen nach mehr Live-Kicks sogar den Teufel zur Verzweiflung. Weder Gretchen, die er geschwängert ins Unglück stürzte, noch ihre Mutter und ihr Bruder, die er auf dem Gewissen hat, lösen in ihm Gewissensbisse aus. Den teuflischen Ränken und Kusejs Regieeinfall verdankt er auch, dass an ihm offenbar der halbe Weltfriede zu hängen scheint. Dass sich dieser notabene durch sein Zutun jedoch in sein Gegenteil verkehrt, liegt auf der Hand. Maskierte Freiheitskämpfer, Selbstmordattentäter in Form jugendlicher Körperbomben, oder Immobilienhaie begleiten sein Tun. Keiner von ihnen überlebt Fausts Machtspiele.

So mancher Bühnenauf- oder – abgang wird mit viel Rauch, Schüssen und Feuer begleitet, sodass man dabei geblendet die Augen zuhalten muss. Szene für Szene nehmen die Grausamkeiten und Frivolitäten zu – wobei sich hier einige seltsame, wohl geschlechterbedingte Blickwinkel auftun, die es zu hinterfragen gilt.

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FAUST / Burgtheater Wien (Foto: Matthias Horn)
Dass die Statisterie in Goethes Osterspaziergangszene kreuz und quer kopulieren muss, ist der künstlerischen Freiheit geschuldet und akzeptiert. Schließlich ergibt sich daraus die bereits angedeutete Szene, in welcher Faust tödlich angeschossen wird, durch teuflische Kunst jedoch wieder zum Leben erwacht. Warum das Ensemble während der Orgie jedoch gesittet Strumpfhosen und andere Beinkleider trägt, ist weniger erklärbar. Ist dies gewerkschaftlichen Vorgaben geschuldet oder, was schwerer wiegen würde, dem Mut an der eigenen Courage? Dass sich Gretchen nach ihrer Entjungferung nackt und Scham rasiert dem Publikum präsentiert, während Faust artig seine weiße Feinrippunterhose anbehalten darf, gilt es jedoch nicht nur aus feministischer Sicht anzuprangern. Die weiteren Kopulationsszenen, hauptsächlich zwischen Mephisto und Marthe (Alexandra Henkel), Gretchens Nachbarin, geben ebenfalls Kunde einer männlichen Sexualphantasie. Sie sind aber weder schockierend noch aufregend. Es kommt nicht oft vor, dass der männliche Regieblick sich so stark in einer Inszenierung offenbart. Aber schließlich ist Goethes Faust ja auch rund um einen Mann konstruiert – darf man entgegenhalten. Regietechnisch sollte aber mitbedacht werden, dass Sex und Gewalt – diese beiden emotional aufpeitschendsten Domänen im Bereich der darstellenden Kunst – sich unzensiert wesentlich schärfer und näher an der Wirklichkeit im Fernsehen und den Social-Media-Kanälen verfolgen lassen. Da wirkt so manche Sex-Szene auf der Bühne rasch gekünstelt.

Einen höchst gelungenen Widerpart zur mephistophelischen Schauspielleistung findet man in jenem von Andrea Wenzl als Gretchen. Ihr Monolog, in dem ihr Wahnsinn sichtbar wird, ist tatsächlich aufpeitschend und berührend und vor dem weiß gekachelten Raum auch gut in Szene gesetzt. Zuvor konnte dieser als Reinheitsmetapher des unschuldigen Mädchens verstanden werden, die von jenem Dunkel umgeben war, in dem sich alle anderen gewalt- und jederzeit lustbereit tummelten.

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FAUST / Burgtheater Wien (Foto: Matthias Horn)
Der Abend wartet mit zwei interessanten und spannenden Interpretationen auf: Das ist zum einen die Figur des Faust selbst, der sich als skrupelloser Machttyp zeigt. Zum anderen ist es Kušejs mehrfach zur Schau gestellte Religions-Dialektik. Sein Mephisto lässt eine tiefsitzende Gottesverachtung, zugleich aber auch Gottesfurcht erkennen. Letztere ist Faust hingegen gänzlich abhandengekommen. Am Stückende bekundet der Teufel – dank neu hinzugekommener Sätze – letztlich jedoch seinen Wunsch nach Leere. Jenem Zustand, in dem sich weder Gutes noch Böses je wiederholt, sondern à priori einfach nicht stattfindet. Die Leere ist ein Terminus, der sich ausgiebig in Sartres Werk nachlesen lässt. Eine intellektuelle Verschränkung findet man in dessen Text über den österreichisch-stämmigen André Gorz, über den er sagte: „… diese Stimme, die sucht und nicht weiß, was sie sucht, die will und nicht weiß, was sie will, die in der Leere spricht, im Dunkeln, vielleicht, um durch Worte den Worten einen Sinn zu geben… Oder vielleicht, um ihre Angst vor sich selbst zu verbergen…“ könnte als Ideengerüst für diesen Faust gedient haben.

Dennoch trifft den Teufel göttlicher Glanz oder zumindest ein göttlicher Lichtstrahl bei seinem Wunsch nacht dem Nichts. Sowohl er als auch Faust an seiner Seite müssen ihre Augen kurz bedecken, während sie bei ihren letzten Sätzen himmelwärts blicken. Die Mischung aus Faust Teil 1 und 2 wurde auch durch viele Striche möglich, dennoch dauert die Aufführung 3 Stunden, inklusive Pause. Das Publikum reagierte am Tag nach der Premiere mit höflichem Applaus. Ein Buhrufer meldete sich mit zwei kurzen Unmutsbekundungen ebenfalls zu Wort. Martin Kušej wird es verkraften.

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