Aus der Nervenheilanstalt zur Weltherrschaft

Aus der Nervenheilanstalt zur Weltherrschaft

von | 20. Oktober 2019 | Theater

Michaela Preiner

„Die Physiker“ (Foto: Johanna Lamprecht/Schauspielhaus Graz)

20.

Oktober 2019

Die Nerven müssen beruhigt werden, selbst auf die Gefahr hin, die Lungen mit Nikotin zu verpesten. Was der Seele guttut, muss nicht zwangsläufig auch dem Körper guttun. Das demonstrieren in trauter Dreieinigkeit Dr. Mathilde von Zahnd und ihre beiden besten Pflegerinnen während einer durchchoreografierten Rauchpause im rundum verglasten Raucherkammerl des Sanatoriums „Les Cerisiers“.
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„Die Physiker“ (Fotos: Johanna Lamprecht/Schauspielhaus Graz)
Grund genug, ihr Nervenkostüm zu beruhigen haben sie ja, nach den beiden Morden, die zwei Insassen an Schwestern begangen haben. Das eindrucksvolle Bild der umnebelten und suchtbesessenen Frauen stammt von Claudia Bossard. In ihrer Regie von „Die Physiker“ von Friedrich Dürrenmatt am Schauspielhaus in Graz gibt es neben jeder Menge gröberem Klamauk auch eine ganze Menge neu eingefügten Text. Das Ensemble spielt offenkundig mit viel Freude und erzeugt dabei eine positive Komödienstimmung, die rasch ins Publikum schwappt.

Dass sich das „Team“ um die Sanatoriumsbesitzerin Dr. Zahnd ausschließlich in türkisem Ärztehabit zeigt, mag nur auf den ersten Blick unverdächtig erscheinen. (Kostüme und Bühne Frank Holldack, Elisabeth Weiß). Spätestens als das Ende naht und die verrückte Ärztin von ihrem Imperium und jenen blauen Pferden, welche um das Sanatorium herum aufgestellt sind, schwadroniert, fällt der Groschen. Türkis ist in Österreich seit einigen Jahren politisch determiniert und die Querverbindung zwischen einer Nervenheilanstalt, in der die Absurdität fröhliche Urstände feiert, und jener Partei, die erneut im Begriff ist, den Kanzler in diesem Land zu stellen, darf in einer funktionierenden Demokratie am Theater zum Glück hergestellt werden.

Es ist aber nicht der einzige Twist, den die Regisseurin der ohnehin tiefschwarzen und tiefsinnigen Komödie des Schweizer Schriftstellers, verpasst. Dürrenmatts Foto und eines des Kultur- und Kunstwissenschaftlers Aby Warburg blicken von der Wand auf das Publikum herab, so als ob die beiden Antipoden das tolle Treiben auf der Bühne unter ihren wachsamen Augen nicht aus dem Ruder laufen lassen wollten. Und tatsächlich erweitert Bossard die Geschichte von den drei Physikern Sir Isaac Newton, Albert Einstein und Johann Wilhelm Möbius, die aus unterschiedlichen Motiven in einer Nervenheilanstalt gelandet sind, um eine ganz spezielle Erzählung von Warburg.

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„Die Physiker“ (Foto: Johanna Lamprecht/Schauspielhaus Graz)
Bei einem Amerika-Besuch lernte er die Hopi-Indianer kennen und beschrieb danach ein bestimmtes Ritual, das sie Schlangentanz nannten. Bei dramaturgischen Tiefschürfungsarbeiten dürfte wohl die Idee zur Verzahnung der Geschichte von Aby Warburg und jener von Dürrenmatt gekommen sein. Denn das indigene Volk lebte in jener Gegend, in welcher der Bau der Atombombe in Amerika vorangetrieben wurde. Im überraschenden Finish taucht jene Nebenfigur noch einmal auf, die als Polizeibeamter zuvor nur die Aufgabe hatte, jede Aussage minutiös mitzuschreiben. Er stellt in einer rhetorischen Raserei den Bezug zwischen der Untergangsprophezeiung der Hopi-Indianer und dem schamlosen Umgang mit der gefährlichen Technik her, die das Ende der Menschheit einleiten kann. Gerade jener Technik, deretwegen sich Möbius als geisteskrank ausgibt, nur um nicht in Freiheit seine todbringenden Entdeckungen preisgeben zu müssen.

Bis es aber so weit kommt, zeigt sich die Drehbühne des Schauspielhauses in Graz von vielen verschiedenen Seiten. Einmal zum Publikum hin geschlossen, wie eine Trutzburg aus der man weder hinein noch hinaus kann. Dann wieder von innen – mit bereits beschriebenem Raucherkabinett und einer live agierenden Band. Die durchgehende Besetzung der männlichen Rollen mit Frauen und umgekehrt rechtfertigt Bossard mit dem Aufbrechenwollen von sozial determinierten Rollen. Unbedingt notwendig wäre dies nicht, hat doch Dürrenmatt selbst mit der Figur von Frau Dr. Zahnd einen machtbesessenen Charakter geschaffen, der keine weiblichen Züge trägt.

Die Erzählung, die von einer Krimikomödie zu einem Politthriller mutiert, kippt in der Inszenierung in eine War-game-Szenerie mit gefährlichen Schusswechseln. Da darf dann geballert werden, was das Zeug hält, bis Vernunft einkehrt und die „Guys“ ihre Waffen wieder ablegen. Neben tempo- und gagreichen Szenen gelingt Bossard mit der Vorstellung des genialen Physikers Möbius auch ein emotionales Highlight. Begleitet zu wilden Bandklängen verausgabt sich Sarah Sophia Meyer in dieser Rolle in einem Anfall von wissenschaftlicher Raserei und schreibt dabei permanent Formeln an die Innen- und Außenwände des gläsernen Raumes. Das Getriebensein eines rastlosen Geistes wird durch die kluge Choreografie anschaulich gemacht, in welcher Möbius` Körper auch von Zuckungen heimgesucht wird und mehrfach auf dem Boden Verrenkungen macht. Eine außerordentliche Szene, die stark im Gedächtnis haften bleibt.

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„Die Physiker“ (Fotos: Johanna Lamprecht/Schauspielhaus Graz)
Dürrenmatt hat sicherlich sein Sanatorium „Les Cerisiers“ – zu Deutsch „Die Kirschbäume“ in Anlehnung an Anton Tschechows „Der Kirschgarten“ benannt. Tschechows Figuren nehmen in dem Stück Abschied von einem alten Gesellschaftssystem. Sie opfern den prächtigen Kirschgarten ihres alten Anwesens, um aus ihm durch parzellierten Verkauf letztlich finanziell überleben zu können. Dennoch klingt bei Tschechow nicht nur Wehmut mit, sondern auch ein positiver Ausblick in die Zukunft. In eine, in der nicht mehr nur einige wenige vom vorhandenen Wohlstand profitieren werden.

Bei Dürrenmatt hingegen wendet sich das Blatt wieder und der Ort seiner „Kirschbäume“ mutiert zum Sinnbild eines diktatorischen Weltherrschaftssystems, das seine brillanten Köpfe ausbeutet und wegsperrt. Die globale Wirtschaftsmacht, die sich Dr. Zahnd mithilfe von gestohlenem Know-how aufgebaut hat, zieht wiederum eine Kapitalkonzentration nach sich, der man zu Beginn des 20. Jahrhunderts eigentlich entkommen wollte.

Sind „Die Physiker“ an und für sich schon ein Stück mit mehreren Ebenen, wird es in der Bossard-Version mit noch weiteren ausgestattet. Mit ihm erlebt man einen spritzig-witzigen Theaterabend, erhält aber auch ein ganzes Paket an zeitgeistigen Input, über den es sich lange nachzudenken lohnt.

Zu Recht viel Applaus am Premierenabend für:
Andri Schenardi, Matthias Ohner, Frieder Langenberger, Julia Franz Richter,
Tamara Semzov, Sarah Sophia Meyer, Alice Peterhans, Anna Troper-Lener, Paul Öllinger,
Oliver Chomik, Beatrix Doderer, Susanne Konstanze Weber

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