Der Fluch der Götter setzt sich fort
Der Fluch der Götter setzt sich fort
Michaela Preiner
Fünf Personen, die sich zu Beginn unter die Zusehenden mischen, ziehen sich ganz unerwartet aus, bis sie nackt und bloß ihre vorgeschriebenen Positionen im Raum einnehmen. Da stehen sie nun wehrlos, den Blicken des Publikums ausgeliefert und brüllen, aus ihrem tiefsten Inneren kommend, sich zu rhythmischen Percussion-Klängen und diffusen, unberechenbaren elektronischen Geräuschen ( Sound Günther Auer) ab und zu Schmerzensschreie aus dem Leib. Langsam verlassen sie nach und nach ihre Positionen, um sich zu kleinen Gruppen zusammenzufinden und für Augenblicke regungslos zu verharren.
Dabei erinnern sie an jene griechischen Skulpturenanordnungen, die größtenteils nur in Fragmenten oder römischen Nachbildungen erhalten sind, wie zum Beispiel die berühmte Laokoongruppe. Dennoch sind es im Stück von Bosse keine nachgestellten, emblematischen Bilder, die zu sehen sind. Vielmehr solche, die sich aus dem Stückkontext ergeben und sich erst im Nachhinein erschließen. Hätte man im Anschluss an die Vorstellung die Kombinationen der einzelnen Figuren noch im Gedächtnis, sei hinzugefügt. Zumindest aber kann man sich daran erinnern, dass die Kernaussage emotional nachvollziehbare Schmerzenszustände vermittelte. Und etwas Anderes wäre auch nicht passend. Denn die Tragik von Tantalos, der zur Strafe, dass er den Göttern Nektar und Ambrosia stahl, lebenslange Qualen erleiden musste und seine Nachkommen verflucht wurden, lässt sich auch nicht anders darstellen.
Die von Seneca erzählte Tragödie, die ursprünglich von Euripides stammt, erhält in der Übersetzung von Durs Grünbein so manch zeitgenössisches Sprachbild. Vom Ensemble wird es extrem verständlich deklamiert. Zuweilen in Monologen, dann auch wieder gemeinsam im Chor, dem sich gegen Stückende auch ein weiterer hinzugesellt. In einer Koproduktion mit dem jungen Volkstheater verstärken junge Menschen das Geschehen auf der Bühne gerade in jenem Moment, in dem erzählt wird, dass selbst die Sterne nach den grausigen Taten aus dem Himmel fielen und die Nacht kein Ende mehr nehmen wollte.
Juri Zanger klettert währenddessen auf eine Leiter, um von dort aus dem „Kapital“ von Marx vorzutragen. Dabei verweist er immer wieder auf die Dualität von Produktion und Konsumption, mit Gesten so unterstützt, dass man die beiden Begriffe als Auferstehung des sich hassenden Brüderpaares Thyestes und Artreus verstehen könnte. Das eindringliche Bild von Thyestes, der blutrotes Fleisch in sich hineinschlingt und dabei eine rote Flüssigkeit trinkt, währenddessen sein Bruder große, frische Rinderherzen präpariert, verschränkt diese Idee optisch und erzeugt Grauen. Grauen vor der Menschenverachtung des Artreus genauso wie Grauen vor jenem Kapitalismus, der – so hat es den Eindruck – gerade in unserer Zeit seine eigenen Kinder verschlingt. Hier ist das Szenario der Zerstörung unserer Erde nicht weit hergeholt. Ausgebeutet wird bis zu einem Ausmaß, das jegliche Reversibilität übersteigt und den Planet Erde an den Rand der Unbewohnbarkeit treibt.
Jene Stelle, in welcher Thyestes von seinem verbannten Bruder unerwartet, aber mit Hinterlist dazu aufgefordert wird, Frieden zu schließen, bleibt wohl lange im Gedächtnis. Benutzen die beiden Männer doch jeweils den geöffneten Mund des anderen als Verstärker der eigenen Sätze. So nah, so verschlingend, so besitzergreifend ist ihr Sprechen dabei, dass es einem selbst die Kehle zuschnürt.
In seinen letzten Sätzen weist der Kindsmörder Artreus seinen Bruder, der nicht verstehen kann, warum seine Söhne von ihm getötet wurden, darauf hin, dass Thyestes selbst zu feig zu so einer Tat gewesen ist. „Du wolltest meine Kinder, warst aber nicht sicher. Was, wenn es die eigene Brut trifft?“ Die Aussage kommt wie ein Hammerschlag und verbindet Thyestes Schicksal mit unseren im highspeed Zeitraffertempo.
„Thyestes Brüder! Kapital.“ ist ein Stück auf der Höhe der aktuellen, internationalen Theateravantgarde mit einer archaischen Wucht, der man sich nicht entziehen kann. Sehenswert.