Der Fluch der Götter setzt sich fort

Der Fluch der Götter setzt sich fort

von | 8. Oktober 2019 | Theater

Michaela Preiner

„Thyestes Brüder! Kapital.“ (Foto: Eva Würdinger)

8.

Oktober 2019

Was haben die Mythen der alten Griechen mit uns zu tun? Können Jahrtausende alte Geschichten uns heute noch berühren, in uns ein Echo auslösen? Ist die Verschränkung des Schicksals von Tantalus und seiner Sippe mit den Ideen von Karl Marx sinnvoll?
All diese Fragen sind eindeutig mit „ja“ zu beantworten – hinterlegt man ihnen die neue Produktion von Claudia Bosse „Thyestes Brüder! Kapital.“ und ihrem Theatercombinat. Nach der Uraufführung in Düsseldorf wird diese jetzt in Wien – in einer für Bosse typischen Location – gezeigt. Im „Kasino am Kempelenpark“, der ehemaligen Kantine der Firma Siemens, wird ihr begehbares Theaterstück nicht nur als tragische Familiengeschichte erlebbar.
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„Thyestes Brüder! Kapital.“ (Foto: Elsa Okazaki)
Die Theatermacherin schafft in einer der letzten Szenen auch den Transfer ins Heute – und verpasst mit dem allerletzten Satz dem Publikum noch einen gedanklichen Keulenschlag. Da atmet von der Dramaturgie her nicht nur die Antike aus sich heraus, sondern das hat auch die Dimension eines der großen Stücke von Thomas Bernhardt.

Fünf Personen, die sich zu Beginn unter die Zusehenden mischen, ziehen sich ganz unerwartet aus, bis sie nackt und bloß ihre vorgeschriebenen Positionen im Raum einnehmen. Da stehen sie nun wehrlos, den Blicken des Publikums ausgeliefert und brüllen, aus ihrem tiefsten Inneren kommend, sich zu rhythmischen Percussion-Klängen und diffusen, unberechenbaren elektronischen Geräuschen ( Sound Günther Auer) ab und zu Schmerzensschreie aus dem Leib. Langsam verlassen sie nach und nach ihre Positionen, um sich zu kleinen Gruppen zusammenzufinden und für Augenblicke regungslos zu verharren.

Dabei erinnern sie an jene griechischen Skulpturenanordnungen, die größtenteils nur in Fragmenten oder römischen Nachbildungen erhalten sind, wie zum Beispiel die berühmte Laokoongruppe. Dennoch sind es im Stück von Bosse keine nachgestellten, emblematischen Bilder, die zu sehen sind. Vielmehr solche, die sich aus dem Stückkontext ergeben und sich erst im Nachhinein erschließen. Hätte man im Anschluss an die Vorstellung die Kombinationen der einzelnen Figuren noch im Gedächtnis, sei hinzugefügt. Zumindest aber kann man sich daran erinnern, dass die Kernaussage emotional nachvollziehbare Schmerzenszustände vermittelte. Und etwas Anderes wäre auch nicht passend. Denn die Tragik von Tantalos, der zur Strafe, dass er den Göttern Nektar und Ambrosia stahl, lebenslange Qualen erleiden musste und seine Nachkommen verflucht wurden, lässt sich auch nicht anders darstellen.

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„Thyestes Brüder! Kapital.“ (Foto: Claudia Bosse)
Gleich griechischen Skulpturen, die in der Überlieferung zwar das weiße Inkarnat des Marmors zeigen, ursprünglich aber bunt bemalt waren, erhalten auch Bosses Figuren nach und nach Farbe. So bekommt Rotraud Kern als Furie, die über Tantalos ihren wortgewaltigen und blutrünstigen Fluch ausspricht, einen schwefelgelben Anstrich. Mun Wai Lee als machtbesessener Familienschlächter und Kurzzeitimperator Artreus beschmiert sich mit dunkelviolettem Inkarnat, dem Kolorit von Herrschern. Alexandra Sommerfeld, die als Bote die blutige Nachkommensauslöschung zu erzählen hat, wird dementsprechend eingefärbt und auch Nic Lloyd, der als Thyestes unwissend seine eigenen Kinder verspeist, trieft es schließlich blutrot aus dem Mund. Lilly Prohaskas Haut und Haar wird weiß bestrichen und vermittelt so den Anschein von steinerner, ewiger Last über die Jahrtausende hinweg. Sie spielt jenen Tantalos, der durch seine anmaßende, frevelnde Tat Unglück über seine Sippe brachte. Und wie Claudia Bosse die Geschichte weiterlaufen lässt – hallt sein Fluch bis in unsere Zeit nach.

Die von Seneca erzählte Tragödie, die ursprünglich von Euripides stammt, erhält in der Übersetzung von Durs Grünbein so manch zeitgenössisches Sprachbild. Vom Ensemble wird es extrem verständlich deklamiert. Zuweilen in Monologen, dann auch wieder gemeinsam im Chor, dem sich gegen Stückende auch ein weiterer hinzugesellt. In einer Koproduktion mit dem jungen Volkstheater verstärken junge Menschen das Geschehen auf der Bühne gerade in jenem Moment, in dem erzählt wird, dass selbst die Sterne nach den grausigen Taten aus dem Himmel fielen und die Nacht kein Ende mehr nehmen wollte.

Juri Zanger klettert währenddessen auf eine Leiter, um von dort aus dem „Kapital“ von Marx vorzutragen. Dabei verweist er immer wieder auf die Dualität von Produktion und Konsumption, mit Gesten so unterstützt, dass man die beiden Begriffe als Auferstehung des sich hassenden Brüderpaares Thyestes und Artreus verstehen könnte. Das eindringliche Bild von Thyestes, der blutrotes Fleisch in sich hineinschlingt und dabei eine rote Flüssigkeit trinkt, währenddessen sein Bruder große, frische Rinderherzen präpariert, verschränkt diese Idee optisch und erzeugt Grauen. Grauen vor der Menschenverachtung des Artreus genauso wie Grauen vor jenem Kapitalismus, der – so hat es den Eindruck – gerade in unserer Zeit seine eigenen Kinder verschlingt. Hier ist das Szenario der Zerstörung unserer Erde nicht weit hergeholt. Ausgebeutet wird bis zu einem Ausmaß, das jegliche Reversibilität übersteigt und den Planet Erde an den Rand der Unbewohnbarkeit treibt.

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„Thyestes Brüder! Kapital.“ (Fotos: Eva Würdinger)
Es ist nicht nur Bosses intelligenter Faden, den sie von der Antike ins 21. Jahrhundert weiterspinnt, der diese Produktion so spannend macht. Es ist auch die herausragende, schauspielerische Leistung des gesamten Ensembles, die so unglaublich unter die Haut geht. Die Schutzlosigkeit, der die Männer und Frauen nackt ausgeliefert sind, der schwierige Text, den sie so nachvollziehbar sprechen, dass man sich fühlt, als wäre man Zeuge eines aktuellen Geschehens – die so unbeschreiblich grausame Geschichte, all das vermengt sich zu einem Theateramalgam der seltenen Art. Der Hass und der Machthunger, die Verschlagenheit und der Blutrausch, über die erzählt werden, aber auch das unbeschreibliche Leid, das dadurch ausgelöst wird, berührt sehr.

Jene Stelle, in welcher Thyestes von seinem verbannten Bruder unerwartet, aber mit Hinterlist dazu aufgefordert wird, Frieden zu schließen, bleibt wohl lange im Gedächtnis. Benutzen die beiden Männer doch jeweils den geöffneten Mund des anderen als Verstärker der eigenen Sätze. So nah, so verschlingend, so besitzergreifend ist ihr Sprechen dabei, dass es einem selbst die Kehle zuschnürt.

In seinen letzten Sätzen weist der Kindsmörder Artreus seinen Bruder, der nicht verstehen kann, warum seine Söhne von ihm getötet wurden, darauf hin, dass Thyestes selbst zu feig zu so einer Tat gewesen ist. „Du wolltest meine Kinder, warst aber nicht sicher. Was, wenn es die eigene Brut trifft?“ Die Aussage kommt wie ein Hammerschlag und verbindet Thyestes Schicksal mit unseren im highspeed Zeitraffertempo.

„Thyestes Brüder! Kapital.“ ist ein Stück auf der Höhe der aktuellen, internationalen Theateravantgarde mit einer archaischen Wucht, der man sich nicht entziehen kann. Sehenswert.

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