Österreich sollte sich schämen

Österreich sollte sich schämen

Österreich sollte sich schämen

Österreich sollte sich schämen

„Schlammland Gewalt“ (Foto: Lupi Spuma / Schauspielhaus Graz)
Am Stammtisch, auf dem Bau, im Wettbüro, oder an anderen männerbesetzten Orten kann man die Ansage hören, dass man einen Mann mit nur drei Dingen zufrieden stellen könne: Mit Fressen, Saufen und Beischlaf. Ferdinand Schmalz, jener Autor, der in seinen Stücken wie mit einem Brennglas in die vorzugsweise männliche österreichische Seele schaut, attestiert den Alphatieren jedoch noch ein viertes Plaisir: Macht.
In seinem Stück „Schlammland Gewalt“, schon seit März 2019 am Schauspielhaus in Graz zu sehen, steht zu Beginn eine zeitgeistige Abhandlung über das Patriarchat rund um den „alten weißen Mann“.
schlammland clemens maria riegler eva mayer 089 c lupi spuma
„Schlammland Gewalt“ (Foto: Lupi Spuma / Schauspielhaus Graz)
Es stammt aus einem Buch von Sophie Passmann, in welchem sie die jetzige Rolle der Männer und die hereinbrechenden, gesellschaftlichen Veränderungen untersucht. Darin bezeichnet sie die Männer als jene Spezies, die es nicht glauben kann, dass sich das Blatt der Machtinhabe jemals wenden kann – schon gar nicht jetzt. Vorgetragen wird der Text von Eva Mayer und Clemens Maria Riegler, die danach in mehrere Rollen schlüpfen. Erst im Nachhinein wird man sich bewusst, dass dieses Manifest als Begründung für das herhalten kann, was in der einstündigen Aufführung erzählt wurde. Es ist die Geschichte eines Dorfes in den Alpen, in dem ein Dorfdiktator nicht nur die große Lippe schwingt, sondern alles, was sich gegen ihn aufbäumt, mit Gewalt niederringt. Dabei macht er nicht einmal vor seinem eigenen Sohn halt.

Das Publikum nimmt Platz in einem dunklen Bierzelt, das mit bunten Glühbirnen ausgestattet ist und lässt sich zu Beginn mithilfe der dort platzierten Blasmusik in Stimmung bringen. Es dauert nicht lange, bis diese angesichts der brutalen Ereignisse, die abrollen, kippt. Eine junge Frau, die im Bierzelt vor einer Naturkatastrophe warnt, wird rücksichtslos zum Schweigen gebracht. Der one-day-stand einer anderen bedeutet beinahe ihr Todesurteil und die Affäre des „Dorfprinzen“ kostet ihn letztlich tatsächlich sein Leben. Nicht, dass er von einem Nebenbuhler umgebracht worden wäre. Sein Vater erträgt es nicht, dass „sein eigen Fleisch und Blut“ sich seinem Diktat widersetzt und sich „eine von ganz unten“ genommen hat und bricht ihm in einem Wutausbruch das Genick.

schlammland gewalt eva mayer clemens maria riegler 096 c lupi spuma
„Schlammland Gewalt“ (Foto: Lupi Spuma / Schauspielhaus Graz)
schlammland eva mayer clemens maria riegler 048 c lupi spuma
schlammland clemens maria riegler eva mayer 089 c lupi spuma
schlammland clemens maria riegler eva mayer 019 c lupi spuma
„Schlammland Gewalt“ (Foto: Lupi Spuma / Schauspielhaus Graz)
Und schon hat Schmalz den Finger in eine aktuelle Gesellschaftswunde gelegt. „Mann“ verhält sich so, als wäre er dazu ermächtigt, die Welt und ihre Menschen darin nach seinem Gutdünken zu be- und verurteilen. Liest man die Statistik der ermordeten Frauen in Österreich, erfährt man, dass die Zahl von 19 im Jahr 2014 über die letzten 5 Jahre hinweg kontinuierlich auf die Rekordzahl von 41 im vergangenen Jahr anstieg. Österreich führt außerdem in Europa den traurigen Rekord an, dass der Anteil der weiblichen Getöteten wesentlich höher ist als der männlichen. Schmalz hat sich mit diesem Phänomen intensiv auseinandergesetzt und geht davon aus, dass diese gewalttätigen Ausbrüche viel mit der „Labilität unserer Zeit“ zu tun haben. Mit einer Verunsicherung also, der so mancher Mann nur in Gewaltausbrüchen begegnen kann.

Wie häufig in seinen Stücken, wählt Schmalz aus dem Reich der Kulinarik ein bestimmtes Lebensmittel, das er in seinem Text von mehreren Blickwinkeln her ausgiebig untersucht. In „Schlammland Gewalt“ dreht sich alles um gegrillte Hühner. In seiner ihm eigenen, kunstvollen Sprache, die zwischen Gestrigem und Heutigem changiert, umkreist er dieses Mal das Brathuhn, angefangen von der Marinade, der Abnahme von Spieß bis hin zu dessen Verwesung. Das tut er in so eindringlichen Sätzen, dass man den Grillhendelduft riechen, aber auch das Knacken der Gebeine hören kann. Selbst den Gestank einer Hühner-Verwesung fährt so ein, als würde sich dieser Vorgang direkt vor einem abspielen. Schmalz wäre sicher ein guter Gourmetkritiker, hätte er nicht weitreichendere Botschaften zu verbreiten als rein lukullische. Aber auch sein rhythmischer Textfluss wäre in einem Kulinarik-Hochglanzmagazin wahrscheinlich fehl am Platze.

Natürlich kann die Geschichte des Dorfes, das letztlich unter einer Schlammlawine zur Hälfte begraben wird, im Moment gut in der aktuellen Klimadebatte verortet werden. Man kann die Schlammlawine aber auch als Metapher deuten, welche die jetzigen Gesellschaftsverhältnisse durch äußere Gewalteinwirkung beendet. Einer brachialen Gewalt, die all jenen das „Maul stopft“, die nicht gewillt sind, sich zu verändern. Dass dabei jede Menge menschlicher Kollateralschaden entsteht, muss wohl in Kauf genommen werden.

schlammland gewalt ensemble 118 c lupi spuma
schlammland eva mayer clemens maria riegler 041 c lupi spuma
„Schlammland Gewalt“ (Foto: Lupi Spuma / Schauspielhaus Graz)
Die Besetzung der verschiedenen Rollen mit nur zwei Personen, funktioniert extrem gut. Dadurch bleibt auch das Schmalz-Diktum bestens erhalten. Die Regisseurin Christina Tscharyiski lässt ihre Protagonistinnen und Protagonisten im kleinen Raum im „Haus 3“ in ständiger Bewegung agieren – mittig, hinter oder direkt neben dem Publikum. Eva Mayer agiert dabei auch als seinem Chef höriger Schnüffler und bringt dies mehrfach in gekonnter Hunde-Imitation zum Ausdruck. Clemens Maria Riegler verwandelt sich durch unterschiedliche Kopfbedeckungen vom scheuen Studierenden hin zu einem testosteronbefeuerten, wutentbrannten Patriarchen. Dass all die unterschiedlichen Charaktere trotz der künstlichen Erzählsprache, in der sie meist zum Leben erweckt werden, so plausibel erscheinen, zeigt die schauspielerische Qualität der beiden Agierenden.

Österreich sollte sich schämen, dass es Autoren wie Ferdinand Schmalz bedarf, die Stücke wie „Schlammland Gewalt“ schreiben müssen. Und es darf sich glücklich schätzen, dass es solche Autoren hat.

Sie machen uns eine Freude, wenn Sie den Artikel mit Ihren Bekannten, Freundinnen und Freunden teilen.

Eine Komödie, in der der Irrsinn fröhliche Urstände feiert

Eine Komödie, in der der Irrsinn fröhliche Urstände feiert

Eine Komödie, in der der Irrsinn fröhliche Urstände feiert

Eine Komödie, in der der Irrsinn fröhliche Urstände feiert

„Der nackte Wahnsinn (Noises Off)“ – Foto: (c) Matthias Horn / Burgtheater
„Du legst auf und nimmst die Sardinen mit!“ So schallt es stimmgewaltig vom Balkon in Richtung Burgtheaterbühne. Dort probt Sophie (von Kessel) ihren ersten Auftritt für das Stück „Der nackte Wahnsinn“ von Michael Frayn. Martin, den Regisseur, gespielt von Norman Hacker, hält es nicht länger auf seinem Beobachtungsposten. Schnellen Schrittes durchquert er die Gänge, während er immer wieder seine Regieanweisung brüllend wiederholt und landet schließlich im Parterre. Von dort aus dirigiert er nun das Geschehen des ersten Aktes nah an der Bühne.
Der nackte Wahnsinn c Horn 1347
„Der nackte Wahnsinn (Noises Off)“ – Foto: (c) Matthias Horn / Burgtheater
Martin Kušej inszenierte das Stück als sein letztes am Münchner Residenztheater und übernahm es zu Silvester 2019/20 an die Burg. Wer meint, bei dieser atemberaubenden Komödie könne man nichts falsch machen, irrt. Was der Text an vermeintlich wenig Tiefgründigem und Nonsensgespicktem hergibt, gilt es durch geschickte Regie und schauspielerische Leistung auszugleichen oder zu betonen. Beides ist Kušej gelungen.

Glaubt man zu Beginn beinahe, sich in einem falschen Theater zu befinden, so Burgtheater-untauglich und seicht beginnt die Farce, weiß man am Schluss, warum es hier doch gut aufgehoben ist. Michael Frayn lieferte damit ein Meisterstück mit mehreren Interpretationsebenen ab, die bis hin zur philosophischen Fragestellung rund um die Selbst- und Fremdbestimmung und den Schein und Sein des Lebens geht. Seine Charaktere, darauf bedacht, auf der Bühne eine gute Figur zu machen, gleiten im Laufe des Geschehens in ein Chaos, das sie nicht mehr beherrschen können und verlieren darin nicht nur die Kontrolle, sondern einige von ihnen auch ihr Gesicht. Frayn beherrscht dabei die Kunst des intellektuellen Understatements perfekt und überlässt erweiterte Deutungen den Zusehenden, so sie dazu willens sind. Abgesehen von diesem aufregenden Text und dem Bühnenbild, gestaltet von Annette Murschetz, das „sauteuer war, aber billig aussieht“, wie der Regisseur moniert, ist es das Ensemble, das den Abend zu einem Glücksfall macht.

Der nackte Wahnsinn c Horn 0497
„Der nackte Wahnsinn (Noises Off)“ – Foto: (c) Matthias Horn / Burgtheater
Der nackte Wahnsinn c Horn 0210
Der nackte Wahnsinn c Horn 0043
„Der nackte Wahnsinn (Noises Off)“ – Foto: (c) Matthias Horn / Burgtheater
Sophie von Kessel glänzt als Frau Klacker in einer charakterlichen Verwandlung, die sich über die drei Akte hinzieht. Darin entwickelt sie sich von einer mittelmäßig motivierten Schauspielerin hin zu einer psychisch angeschlagenen Trinkerin, der man nicht nur ihre seelischen, sondern auch körperlich zugefügten Blessuren ansehen kann. Ihr Kontrapart, Roger Trampelmann alias Till Firit versucht trotz aller Feindseligkeiten und Intrigen, die sich während des Stückes aufbauen und sich ins schier Unendliche steigern, auf der Bühne dennoch ein Profi zu bleiben. Schwer möglich, wenn es dahinter zugeht wie in einem Affenstall.

Frayns versah seine Charaktere mit tiefgründigen Seelen-Einblicken, in welchen es nur allzu sehr menschelt. Eifersucht, Hass, Neid bilden schon im zweiten Akt ein unheilige Mengenlage, die sich bis ins Finale noch furios steigert. Dass es dabei zu höchst witzigen Einlagen kommt, liegt bei diesem Genre auf der Hand.

Großartig, wie dabei Thomas Loibl als Franz Xaver-Hötz seine Hosen runterlässt und so die Treppe in den ersten Stock des Hauses nach oben hüpft. (Kostüme Heide Kastler) Als Steuerflüchtling darf er sich mit seiner Frau, dargestellt von Katharina Pichler, in seiner Immobilie eigentlich nicht blicken lassen und evoziert dadurch jede Menge Verstrickungen. Auch wie er sich immer wieder Taschentücher in die Nase stopfen muss, weil er vor lauter empathischer Anteilnahme an Grausamkeiten daraus zu bluten beginnt, ist einfach nur köstlich. Mit Loibl wurde diese Rolle ideal besetzt, steht doch seine stattliche Erscheinung, durch ein zusätzliches, großes Gebiss noch verstärkt, in direktem Widerspruch zu seiner zarten Seelenbesaitung.

Der nackte Wahnsinn c Horn 0783
„Der nackte Wahnsinn (Noises Off)“ – Foto: (c) Matthias Horn / Burgtheater
Der nackte Wahnsinn c Horn 0375
„Der nackte Wahnsinn (Noises Off)“ – Foto: (c) Matthias Horn / Burgtheater
Der nackte Wahnsinn c Horn 1299
Der nackte Wahnsinn c Horn 0677
„Der nackte Wahnsinn (Noises Off)“ – Foto: (c) Matthias Horn / Burgtheater
Genija Rykova, die als amouröses Abenteuer von Till die Szenerie in schwarzer Bikini-Unterwäsche belebt, hält man von Beginn bis zum Ende in jedem Augenblick wirklich für so dumm, wie es ihr die Rolle vorschreibt. Daran kann man erkennen, wie hoch ihre schauspielerische Leistung hier ist.

Paul Wolff-Plottegg erfüllt herzerwärmend den Part des Alkoholikers, der einen Einbrecher gibt und seine Kolleginnen und Kollegen bei jeder Vorstellung in Angst und Schrecken versetzt, wenn er nicht rechtzeitig gesichtet wurde. Dieser Mann, der seine seelische Verletzbarkeit offen zur Schau trägt, ist der einzige Charakter, der den Irrsinn, der sich ausbreitet, ohne weitere Blessuren übersteht. Ein wunderbarer, dramaturgischer Kniff, das Positive am Menschsein ausgerechnet an einem stillen Alkoholiker festzumachen, der den Wirren des Alltags komplett entrückt zu sein scheint.

Mit der Regieassistentin Mechthild (Deleila Piasko und Herrn Klemt, einem Inspizient, (Arthur Klemt) wird die Crew, die sich nach der Premiere auf Österreich-Tournee begeben muss, vervollständigt. Mit ihnen bietet Frayn einen kleinen Einblick hinter die Kulissen des Theateralltags und erklärt Berufsfelder, für die man ganz spezielle Persönlichkeitsprofile vorweisen sollte, um sie schad- und klaglos an der eigenen Psyche ausführen zu können.

„Der nackte Wahnsinn (noises off)“, so der gesamte Stücktitel, ist ein Glücksfall für die Burg und könnte sich zu einem Dauerbrenner entwickeln. Die kleinen Österreich-Adaptionen, welche Kušej vorgenommen hat, angefangen von Hinweisen auf das diesjährige Jubiläum der Salzburger Festspiele bis hin zu einem eleganten Seitenhieb auf die Wiener Festwochen oder der Verballhornung des Namens eines Wiener Feuilletonisten, trägt zusätzlich zur Publikumsakzeptanz bei, die sich in langem Applaus äußerte.

Nähere Informationen: Webseite Burgtheater

Sie machen uns eine Freude, wenn Sie den Artikel mit Ihren Bekannten, Freundinnen und Freunden teilen.

Eine Telefonzelle wird zum Angstfaktor

Eine Telefonzelle wird zum Angstfaktor

Eine Telefonzelle wird zum Angstfaktor

Eine Telefonzelle wird zum Angstfaktor

„This is what happened in the Telephone Booth“ (Foto: Barbara Palffy)
Bestimmend steht sie da. Nicht ganz mittig im Raum, aber einnehmend. Bedrohlich gelb und orangerot leuchtet sie aus ihrem Inneren. Die Lettern Telefono prangen an ihrem oberen Rand. Die Telefonzelle ist und bleibt das einzige Raumelement in der neuen Produktion des Off-Theaters von Ernst Kurt Weigel „This is what happened in the Telephone Booth“. (Ausstattung Devi Saha) Das „Tanz.Schau.Spiel“ berichtet über ein traumatisches Kindheitserlebnis und dessen Folgen für die Tänzerin Leonie Wahl.
off theater telephone timbrell wahl2 credit barbarapalffy2
„This is what happened in the Telephone Booth“ (Foto: Barbara Palffy)
​Nach den ersten Schweizer Jahren zog sie mit Schwester und Mutter in ein kleines, italienisches Dorf, um einen Bauernhof zu bewirtschaften. Ein Telefon im Haus gab es nicht, von Handys träumte noch niemand. Und so war eine Telefonzelle jenes Mittel zur Außenkommunikation, das zugleich auch schicksalsbestimmend für Leonie werden sollte.

Nach einem Telefonat der Mutter mit ihrem Freund kam diese völlig verstört und mit einem schizophrenen Schub aus der Zelle. Ereignisse wie diese sind für Erwachsene schwer zu verdauen. Für Kinder gar nicht. Und so befand sich Leonie plötzlich in einer Situation, in der die Welt auf dem Kopf stand. Einer Situation, in der sich die Rollen verkehrten und nichts mehr so war wie zuvor.

Gemeinsam mit Hannah Timbrell, Kajetan Dick, Gerald Walsberger und Michael Welz lässt sie in tänzerischer Form das Publikum am Gefühls-Tsunamie, der dabei ausgelöst wurde, teilhaben. Ein Arzt-Patienten-Gespräch, das man mithört, hält eine gute und eine schlechte Nachricht bereit. Die gute, dass die Krankheit der Mutter nicht tödlich ist und die schlechte, dass sie ab sofort ein Vampir sein würde. Diese Metapher steht für ein besonderes Mutter-Tochter-Verhältnis, in welchem das Kind als etwas angesehen wird, das man im wahrsten Sinne des Wortes „besitzt“. Sichtbar wird dies in einer Szene, in der Leonie zwischen der Mutter und ihrer Schwester hin- und hergezerrt wird, ohne sich wirksam dagegen wehren zu können.

off theater telephone wahl6 credit barbarapalffy2
„This is what happened in the Telephone Booth“ (Foto: Barbara Palffy)
off theater telephone wahl credit barbarapalffy2
„This is what happened in the Telephone Booth“ (Foto: Barbara Palffy)
„Ich will da nicht hinein! Ich habe das Grauen gesehen“, ist ein Satz, den Kajetan Dick stellvertretend für die beiden Mädchen und die Mutter öfter zitiert. Tatsächlich kommen alle, die sich in die Telefonzelle begeben, als Zombies, zumindest aber psychisch komplett verändert, aus ihr wieder heraus.

Im Bewegungsrepertoire markiert die Tänzerin sich selbst, ihre Mutter, ihre Schwester und ihren Vater mit wiedererkennbaren Mustern. Intensiver Bodenkontakt mit Drehungen, Rollen und akrobatischen Bewegungselementen werden abwechselnd als Soli oder auch von allen Ensemblemitgliedern getanzt. Eine Gruppenchoreografie, begleitet nur durch eigenes rhythmisches Stampfen und Singen, gleitet nach und nach ins Orgiastische ab. Tamara Stern steuert vom Bühnenrand aus ein vokales Geschehen bei, das zwischen Geräuschen wie Flattern, Klappern, Krächzen, Schnattern und feinen, gesanglichen Passagen oszilliert und die Performance zum Teil mit einer starken Spannung auflädt. (Soundscapes ASFAST)

Leonie Wahl erzählt in ihrem Programmtext, dass aktive und passive Kunsterfahrung das Leben von Menschen verändern kann. Ihr Stück ist sicher zu einem großen Teil therapeutisch erfahrbar und greift damit auch auf den Ursprung von Tanz und Theater zurück, in dem durch orgiastische Momente eine Katharsis eintreten konnte.

off theater telephonebooth timbrell wahl walsbergerl credits güntermacho
„This is what happened in the Telephone Booth“ (Foto: Günter Macho)
„This is what happened in the Telephone Booth“ ist zugleich aber auch eine Aufforderung an das Publikum, sich seinen eigenen traumatischen Erfahrungen – seinen eigenen Telefonzellen – zu stellen. Gelänge es, diese so aufzuarbeiten, dass sie sich durch einen kreativen Prozess in eine Erfahrung verwandeln, die das weitere Leben nicht mehr nur negativ beeinflusst, dürfte man Wahl doppelt gratulieren.
Sie machen uns eine Freude, wenn Sie den Artikel mit Ihren Bekannten, Freundinnen und Freunden teilen.

Wenn uns die Vergangenheit einholt

Wenn uns die Vergangenheit einholt

„The sound of music“ – das amerikanische Musical aus dem Jahr 1959 – verwandelte sich nach seiner Verfilmung sechs Jahre später weltweit zu einem touristischen Aushängeschild Österreichs. Die Geschichte der Trapp-Familie, die während der Nazi-Zeit nach Amerika auswanderte, ist zwar voll von fragwürdigen Klischees und entspricht auch nicht der wahren Familiengeschichte. Dennoch sang sich die vielköpfige Kinderschar rund um die neu in die Familie gekommene Nanny in die Herzen des Publikums. Der Film zählt heute zu den vier erfolgreichsten Hollywood-Musical- Filmen überhaupt.

Nikolaus Habjan und sein ehemaliger Lehrer Neville Tranter haben den Stoff aufgenommen und lassen die Eltern, Vater Max und Ziehmutter Maria, 50 Jahre später unter dem veränderten Namen Trüb wieder in ihr Heimatland zurückkommen. Hier müssen sie feststellen, dass Österreich anscheinend das einzige Land auf der Welt ist, in dem der Film und ihr damit zusammenhängender Ruhm nicht bekannt sind. Habjan und Tranter sprechen auf der Bühne Englisch, wobei der österreichische Puppenmagier seine Hauptfigur – Mag. Norbert Frickl – mit einem so grottenschlechten, österreichischen Akzent ausstattet, dass er dafür Lacher ohne Ende erntet. Dass diese Klappmaulpuppe „familiar“ aussieht – mit Zügen, die zwischen Hitler und dem ehemaligen, österreichischen Innenminister der blauen Fraktion angesiedelt sind, zeigt auf, wie zeitgenössisch das Stück mit seinem bitterbös-beißenden Humor angesiedelt ist. Ersetze bei Frickl das F durch ein K und denke zu Norbert den Nachnamen eines erfolglosen Bundespräsidentenkandidaten und schon weiß man, welche Gesinnung von behördlicher Seite in Österreich den Trübs entgegenschlägt. Frickl, das stempelwütige Aktenmonster, hat, wie sich bald herausstellt, ganz persönliche Animositäten gegenüber Max Trüb und denkt nicht im Traum daran, dessen Einwanderungsansuchen positiv zu bescheiden. Selbst Arnold Schwarzenegger, der als letzter Hoffnungsträger von den Trübs nach Salzburg geholt wird, kann nicht helfen. Nicht nur, weil Maria ihn wegen seines unehelichen Kindes verabscheut, sondern weil auch er wegen seiner doppelten Staatsbürgerschaft von Frickl ausgewiesen wird.

Wer Österreich einmal den Rücken gekehrt hat, hat seine Heimat für immer verloren, ist die offizielle Begründung des „chief of Einwanderungsbehörde“. Die Charaktere von „The hills are alive“ sind samt und sonders archetypisch angelegt. Das ist wohl mit ein Grund, warum das Puppenspiel, bei dem die beiden Akteure während ihres Spiels auch sichtbar sind, so gut funktioniert. Max, der sich rühmt, habsburgische Verwandte zu haben und sämtlichen Kindermädchen, die zur Familie kamen, nachstellte, trägt den Charakter eines gealterten Lebemannes, dessen Verdrängungsmechanismus groteske Züge angenommen hat. Seine Frau Maria, eine verwelkte Diva in rosafarbigem Tütü, will von ihrem wahren Lebensalter nichts wissen. Sie erlebt ihren Österreich-Aufenthalt zwischen Starallüren und dem Wahn, als Filmprominenz geachtet zu werden.

Mit dem Krone-Journalisten Mayer schufen Habjan und Tranter eine Figur, die im Verlauf des Geschehens ihre Herkunft neu definieren muss. Damit nicht genug, verliebt sich Mayer – spezialisiert auf Gartenartikel – auf den ersten Blick in die französische Nanny Juliette. Diese wurde von Frickl gezwungen, die Trübs auszuspionieren. Diesem Auftrag kommt sie nur widerwillig nach, folgt ihm jedoch in der Hoffnung, dadurch die Ausweisung ihres syrischen Freundes verhindern zu können.

Mit unglaublich raschen Szenen- und damit verbundenen Puppenwechseln dreht sich das Komödienkarussel rasantes. Dem Frickl an die Seite gestellte Soldat Kornbichler darf ohne Weiteres ein vermindertes Denkvermögen attestiert werden. Die sich daraus ergebenden Lachnummern stehen ganz in der Tradition der Wiener Doppelconferencen, wie sie schon kurz nach Gründung des ORF von Karl Farkas und Ernst Waldbrunn so meisterhaft inszeniert wurden.

Sehr interessant ist der Umstand, dass alle Figuren, sieht man von den beiden sozial niedrigsten Personen des Kindermädchens und dem Rekruten ab, mit tiefen, seelischen Abgründen ausgestattet sind. Das rückt die Geschichte, trotz ihres skurrilen Fortgangs mit mehreren atemberaubenden Volten in Realitätsnähe. Es ist nicht nur die so kunstvoll verzahnte Erzählung, welche die eineinhalbstündige Aufführung wie im Flug vergehen lässt. Es sind die unglaubliche Spielfreude und die wandelbaren Stimmen der beiden Puppen-Großmeister, die bestechen. Dabei ist man gebeutelt zwischen Lachen, Fremdschämen, Staunen und einem aufkommenden Unbehagen, das einem sagt: Das hier ist zwar Theater, aber die Grenze zum realen Leben – wo ist die noch scharf auszumachen?

Die beiden überdimensionierten rot-weiß-roten Fahnen links und rechts von der Bühne (Denise Heschl) flankieren den großen Frickl-Schreibtisch in beinahe bedrohlichem Ausmaß. Dass sie in der letzten, berührenden Szene im Dunkel verschwinden, tut gut. Denn wer nach dieser Inszenierung noch mit einer von Nationalstolz geschwellten Brust von dannen zieht – dem ist auch nicht mehr zu helfen.

Das Gemeindekind

Das Gemeindekind

„In früheren Zeiten konnte einer ruhig vor seinem vollen Teller sitzen und sich’s schmecken lassen, ohne sich darum zu kümmern, dass der Teller seines Nachbarn leer war. Das geht jetzt nicht mehr, außer bei den geistig völlig Blinden. Allen übrigen wird der leere Teller des Nachbarn den Appetit verderben – dem Braven aus Rechtsgefühl, dem Feigen aus Angst. … Darum sorge dafür, wenn du deinen Teller füllst, dass es in deiner Nachbarschaft so wenig leere wie möglich gibt. Begreifst du?“

Mit diesem Text von Marie von Ebner-Eschenbach beginnt das „Gemeindekind“. Eine Produktion im Theater Spielraum, für welche der Text von Nicole Metzger, der Hausherrin, adaptiert wurde.

Sündenböcke gab es zu jeder Zeit. Heute würde man im gesellschaftlichen Kontext von Ausgegrenzten sprechen, im beruflichen von Mobbingopfern. Das Theater Spielraum in der Kaiserstraße nimmt sich dieses Themas mit dem Stück „Das Gemeindekind“ an. Der zugrunde liegende Roman gilt als eines der Hauptwerke jener Literatin aus dem 19. Jahrhundert, deren Texte erschreckend aktuell sind.

Gleich zu Beginn der Inszenierung hört man ländliche Csardas-Klänge und weiß sofort, dass man sich auf dem Land befindet. In Ungarn höchstwahrscheinlich. Dort wird ein Ehepaar verurteilt, das ohnehin keinen guten Ruf besitzt. Der Mann wird zum Tod verurteilt, die Frau zu 10 Jahren Zuchthaus und die Kinder werden in die Obhut der Gemeinde übergeben, die ab sofort für sie zu sorgen hat. In der Fassung von Nicole Metzger sind es ein Bruder und seine jüngere Schwester.

Ohnehin vom Schicksal schon gebeutelt, schiebt man sie der Familie des Gemeindehirten zu, deren Frau als falsch und zänkisch gilt. Glück im Unglück hat das kleine Mädchen, das der Gräfin zufällt, welche diese in ihr eigenes Kloster schickt, um sie dort christlich erziehen zu lassen.

Metzger, die auch Regie führt, lässt Dana Proetsch, Veronika Petrovic und Paul Graf in unterschiedliche Rollen schlüpfen. Diese Herausforderung meistern allesamt mit Bravour. Proetsch schafft dabei den heiklen Twist zwischen einer dünkelhaften und zugleich standesbewussten Baronin zur groben Ziehmutter von Pavel, die alles andere als einen noblen Charakter hat.

Veronika Petrovic beeindruckt mit David Czifer als Geschwisterpaar. Vor allem jene Szenen, in welchen sie sich gegenseitig Schutz und Halt geben, sind überaus berührend. David Czifer reift von einem verschreckten, aber trotzigen Jugendlichen zu einem überlegten Mann, dem das finanzielle Glück aufgrund harter Arbeit zur Seite steht.

Abraham Thill gibt den Lehrer, der sich redlich müht, Pavel auf einen rechten Weg zu führen und ihm eine gute Ausbildung zukommen zu lassen. Allerdings schätzt er die Situation der Ziehfamilie des Jungen völlig falsch ein. Dass er noch dazu von seiner eigenen Lebenslüge davonläuft und ein neues Leben in einer neuen Stadt beginnen möchte, beraubt Pavel auch seiner einzigen Bezugsperson, mit der er reden kann.

Das Bühnenbild besteht aus nicht viel mehr als einem großen Tisch mit weißem Tischtuch, unter dem Pavel immer wieder Zuflucht findet. Das Kloster wird in Form eines beleuchteten Fensters hoch über der Bühne angedeutet. Der rasche Szenenwechsel und auch der häufige Kostümwechsel des Ensembles, gehen mit eine hohen Erzähltempo einher.

Paul Graf in der Rolle des Bürgermeistersohnes gibt einen selbstgefälligen, jungen Mann, dem letztlich sein Stolz und seine Habgier im Wege stehen. Obwohl sich die Inszenierung nicht bemüht, zeitgeistig zu erscheinen, ist es gerade das Eingangszitat, das noch einmal am Schluss eingespielt wird, welches die Aktualität der Ungleichheit von Reich und Arm, von Ausgegrenzten und Establishment deutlich macht.

Neben dem fulminanten spielerischen Einsatz, der aufzeigt, was am Theater alles mit einem tollen Ensemble möglich ist, ist es vor allem die bewegende Geschichte, die zwischen Komik und Tragik kaum zu überbieten ist, die fesselt. Ein Theaterabend wie aus einem Bilderbuch.

Pin It on Pinterest