„In früheren Zeiten konnte einer ruhig vor seinem vollen Teller sitzen und sich’s schmecken lassen, ohne sich darum zu kümmern, dass der Teller seines Nachbarn leer war. Das geht jetzt nicht mehr, außer bei den geistig völlig Blinden. Allen übrigen wird der leere Teller des Nachbarn den Appetit verderben – dem Braven aus Rechtsgefühl, dem Feigen aus Angst. … Darum sorge dafür, wenn du deinen Teller füllst, dass es in deiner Nachbarschaft so wenig leere wie möglich gibt. Begreifst du?“
Mit diesem Text von Marie von Ebner-Eschenbach beginnt das „Gemeindekind“. Eine Produktion im Theater Spielraum, für welche der Text von Nicole Metzger, der Hausherrin, adaptiert wurde.
Sündenböcke gab es zu jeder Zeit. Heute würde man im gesellschaftlichen Kontext von Ausgegrenzten sprechen, im beruflichen von Mobbingopfern. Das Theater Spielraum in der Kaiserstraße nimmt sich dieses Themas mit dem Stück „Das Gemeindekind“ an. Der zugrunde liegende Roman gilt als eines der Hauptwerke jener Literatin aus dem 19. Jahrhundert, deren Texte erschreckend aktuell sind.
Gleich zu Beginn der Inszenierung hört man ländliche Csardas-Klänge und weiß sofort, dass man sich auf dem Land befindet. In Ungarn höchstwahrscheinlich. Dort wird ein Ehepaar verurteilt, das ohnehin keinen guten Ruf besitzt. Der Mann wird zum Tod verurteilt, die Frau zu 10 Jahren Zuchthaus und die Kinder werden in die Obhut der Gemeinde übergeben, die ab sofort für sie zu sorgen hat. In der Fassung von Nicole Metzger sind es ein Bruder und seine jüngere Schwester.
Ohnehin vom Schicksal schon gebeutelt, schiebt man sie der Familie des Gemeindehirten zu, deren Frau als falsch und zänkisch gilt. Glück im Unglück hat das kleine Mädchen, das der Gräfin zufällt, welche diese in ihr eigenes Kloster schickt, um sie dort christlich erziehen zu lassen.
Metzger, die auch Regie führt, lässt Dana Proetsch, Veronika Petrovic und Paul Graf in unterschiedliche Rollen schlüpfen. Diese Herausforderung meistern allesamt mit Bravour. Proetsch schafft dabei den heiklen Twist zwischen einer dünkelhaften und zugleich standesbewussten Baronin zur groben Ziehmutter von Pavel, die alles andere als einen noblen Charakter hat.
Veronika Petrovic beeindruckt mit David Czifer als Geschwisterpaar. Vor allem jene Szenen, in welchen sie sich gegenseitig Schutz und Halt geben, sind überaus berührend. David Czifer reift von einem verschreckten, aber trotzigen Jugendlichen zu einem überlegten Mann, dem das finanzielle Glück aufgrund harter Arbeit zur Seite steht.
Abraham Thill gibt den Lehrer, der sich redlich müht, Pavel auf einen rechten Weg zu führen und ihm eine gute Ausbildung zukommen zu lassen. Allerdings schätzt er die Situation der Ziehfamilie des Jungen völlig falsch ein. Dass er noch dazu von seiner eigenen Lebenslüge davonläuft und ein neues Leben in einer neuen Stadt beginnen möchte, beraubt Pavel auch seiner einzigen Bezugsperson, mit der er reden kann.
Das Bühnenbild besteht aus nicht viel mehr als einem großen Tisch mit weißem Tischtuch, unter dem Pavel immer wieder Zuflucht findet. Das Kloster wird in Form eines beleuchteten Fensters hoch über der Bühne angedeutet. Der rasche Szenenwechsel und auch der häufige Kostümwechsel des Ensembles, gehen mit eine hohen Erzähltempo einher.
Paul Graf in der Rolle des Bürgermeistersohnes gibt einen selbstgefälligen, jungen Mann, dem letztlich sein Stolz und seine Habgier im Wege stehen. Obwohl sich die Inszenierung nicht bemüht, zeitgeistig zu erscheinen, ist es gerade das Eingangszitat, das noch einmal am Schluss eingespielt wird, welches die Aktualität der Ungleichheit von Reich und Arm, von Ausgegrenzten und Establishment deutlich macht.
Neben dem fulminanten spielerischen Einsatz, der aufzeigt, was am Theater alles mit einem tollen Ensemble möglich ist, ist es vor allem die bewegende Geschichte, die zwischen Komik und Tragik kaum zu überbieten ist, die fesselt. Ein Theaterabend wie aus einem Bilderbuch.