Kevin Rittberger ist in Wien kein Unbekannter mehr. Das „Stammhaus“ des mehrfach ausgezeichneten Dramatikers und Regisseurs ist hierzulande das Schauspielhaus in der Porzellangasse, das ihn auch in dieser Saison mit einem neuen Stück zu Wort kommen lässt. „Zu Wort kommen“ ist wohl etwas untertrieben, denn in der beinahe 2stündigen Produktion hat das Ensemble viel Text zu absolvieren und tut dies auch mit Bravour. Einen nicht unbeträchtlichen Textteil widmet der Autor einer Annäherung an den Begriff Besitz und untermauert dies auch mit mehrfachen Hinweisen zu Philosophen, die sich mit dieser Thematik beschäftigten. Rousseau, Hobbes, Marx und Engels sowieso, sie alle standen vor der Herausforderung, „Einhegungen“, wie Rittberger die Eigentumsaneignung nennt, zu analysieren und sie zu verteidigen oder auch zu verdammen. Je nach philosophischem Ansatz. Zugleich versucht Rittberger dem aktuellen Demokratieverständnis der Menschen auf den Grund zu gehen und beginnt dabei ganz von vorne: Wie in einer universitären Semesterarbeit seziert er Begriffe wie „Volk“, um es als altmodisch und nicht mehr brauchbar abzustempeln. Das „Volk“, das bei ihm seinen Namen nicht mehr verdient, steht zwar nach wie vor im Gegensatz zur vermögenden Klasse, aber es versteht sich nicht mehr als ein Gemeinschaftswesen, das sich seiner eigenen Macht bewusst ist. Vielmehr agieren Männer und Frauen, die sich für eine Veränderung der Verhältnisse einsetzen, eher als Einzelwesen, die von einer nicht ganz durchschaubaren Organisation gegenseitig zugewiesen werden, um gegen die Besitzelite anzukämpfen. Wobei das Wort kämpfen eines ist, das sie tunlichst vermeiden wollen. Nicht nur das Wort an sich, sondern sie gehen in ihrer Revolution von gewaltfreien Aktionen aus mit welchen sie die Besitzverhältnisse verändern wollen. Sie – Barbara Horvath, Steffen Höld, Gideon Maoz und Hanna Eichel agieren als „Paarzellen“ und setzen Gewalt nur gegen sich selbst ein, um eine Umverteilung des Kapitals zu erreichen. Dass diese Gewalt sich ausschließlich gegen die Frauen richtet, ist ernüchternd. Diese agieren als Putzfrauen obgleich sie einen Abschluss in Atomphysik vorweisen können oder als einfältige Feldarbeiterinnen und werden von ihren Partnern angeschossen oder blutig geschlagen, um bei ihren DienstgeberInnen den Eindruck zu erwecken, deren Besitz mit dem Einsatz ihres eigenen Körpers gegen mutmaßliche Räuber verteidigt zu haben.
Aber nicht nur diese Idee führt sich schließlich ad absurdum. In großen, durchkomponierten Handlungsvolten stellen sich die Verhältnisse mehrmals auf den Kopf und was als Masterplan ausgeführt hätte werden sollen, um zum Erfolg zu führen, endet in einer nicht vorhersehbaren Aktion, die allgemeines Chaos und Flucht auslöst. Der Notar (Thiemo Strutzenberger), der ungeachtet des gesellschaftlichen Befindens wie ein Fels in der Brandung allen Besitzverhältnissen ihren notariellen Stempel aufdrückte, spielt das gewaltfreie Spiel nicht mit und legt Hand gegen sich selbst an. Da bleibt der „einhausenden“ Villenbesitzerin (Myriam Schröder) nichts anderes übrig als theatralisch in Ohnmacht zu fallen. Wenn das mit Amt und Siegel verbriefte Recht, das sich auf einen vermeintlichen gesellschaftlichen Konsens beruft, nicht mehr gilt, hat sie auf allen Ebenen verloren. Da nützt es ihr nichts, dass sie mehrfach beteuert doch alles allen geben zu wollen würde man nur vernünftig mit ihr reden. Und doch bleibt ihresgleichen zum Schluss siegreich. Rittberger setzt allen Umstürzen zum Trotz eine abermalige Einzementierung der bestehenden Machtverhältnisse ans Ende seines Stückes. Und beraubt dadurch jene ihrer Hoffnung, die – auf welche Weise auch immer – daran glauben, den Unterschied zwischen „Einhegern“ und „Aushegern“ – also Besitzenden und Armen in Zukunft auflösen zu können.
Was hier in der Replik etwas kopflastig klingen mag, ist dies auch über Strecken auf der Bühne und dennoch setzt Rittbergers eigene Regie mit eindringlichen Bildern auch kräftig dagegen. So stellt er das vergeistigte, vermögende Paar den Habenichtsen gegenüber die, obwohl zumindest in einer kleinen Gruppe zusammengeschlossen, kläglich an ihrer Minirevolution scheitern. Sätze wie „macht nicht das Falsche, aber Macht ist das Falsche“, „jede neue Zeit braucht seine Wissenschaft“ oder „wir sind friedlich – das kann er (gemeint ist der Notar) sich nicht vorstellen“ stellen so etwas wie die zarten Pflänzchen einer ungeschriebenen neuen Weltordnung dar, bleiben jedoch letztendlich ohne weitere Wirkung. Die musikalische Untermalung, die stellenweise das Geschehen in die Nähe von Filmszenen rückt, besticht und verfehlt emotional nicht seine Wirkung. Sie vermittelt eindeutig: Hier wird doch nur gespielt, und das Publikum weiß, dass es anschließend unbeschadet nach Hause gehen wird.
Was bleibt, ist die Anregung, Eigentum nicht nur als unumstößliches historisches Produkt zu begreifen, sondern als angreifbares und veränderbares Konstrukt, das auch ganz anders, als es jetzt der Fall ist, gedacht werden kann. Ein Stück mit enormer Sprengkraft, das aber aufgrund der Aussicht, dass es auch zukünftig ein Oben und ein Unten gibt, zugleich sein revolutionäres Potential gnadenlos einbremst.
Nicht nur sehens- sondern vor allem nachdenkenswert.
Einen Abend der etwas anderen Art erlebte man bei der Premiere des russischen Gastspieles „Die Stadt“ von Jewgenij Grischkowez im Schauspielhaus in Wien.
Frohen Mutes, ein Stück eines hochgelobten zeitgenössischen Autors aus Russland präsentiert zu bekommen, fand sich zahlreiches Publikum im umgebauten Bühnenraum ein. Je zwei sich gegenüberliegende Zuschauerränge ließen in ihrer Mitte nur einen schmalen Gang frei, der den fünf SchauspielerInnen zum Agieren übrig blieb. Vier Aluminiumleitern, so wie sie in vielen Haushalten anzutreffen sind, dienten als Bühnenrequisiten und mutierten zu Ehebetten, einem Sofa, Küchenstühlen und sogar einem Taxi. Der kargen aber dienlichen Ausstattung stand offensichtlich schauspielerisches Können gegenüber. Dass hier keine genaueren Aussagen gemacht werden können, liegt an der leider ausbaufähigen Bedienung der elektronischen Anzeige der deutschen Untertitel. Nicht nur, dass das Geschehen permanent abseits des Blickfeldes der Untertitelanzeige stattfand – die Bedienung derselben hatte wohl ihre liebe Not damit. Da der oder diejenige, die für die korrekte Anzeige der Untertitel zuständig war der deutschen oder russischen Sprache ganz offensichtlich unkundig ist, hüpften die Textpassagen zu Beginn wild nach vor und zurück, oder legten ein so rasantes Tempo vor, dass ein vollständiges Mitlesen derselben gewiss die Verleihung einer Tapferkeitsmedaille nach sich gezogen hätte. Warum es auch immer zu dieser Malaise gekommen war: sie war nicht die einzige Herausforderung des Abends. Zumindest für das deutschsprachige Publikum. Dieses musste nämlich neidisch jenen Lachern nachtrauern, die die russischsprachigen BesucherInnen, die an diesem Abend scheinbar in der Überzahl waren, in unregelmäßigen Abständen von sich gaben. Ob diese unterschiedlichen Reaktionen an der falschen Textanzeige, an einer ungenügenden Übersetzung, einer skurrilen Regie oder einfach einem gänzlich anderen Humor als dem deutschsprachigen lagen, ließ sich nicht verifizieren. Zwar war es schwer, inhaltlich dem Geschehen zu folgen, der Abend war aber zumindest damit ausgefüllt, dass man all diese Unstimmigkeiten ständig versuchte intellektuell zu bereinigen. All diese Widrigkeiten deckten leider fast zur Gänze nicht nur das schauspielerische Geschehen zu, sondern verhinderten auch eine qualitative Auseinandersetzung mit dem Text. Der realistische Ansatz – so viel wurde zumindest aus den Reaktionen des russischsprachigen Publikums deutlich – wurde immer wieder durch humorige Textpassagen unterbrochen, die jedoch beim reinen Lesen nicht als solche erkennbar waren. Der Plot der Geschichte – die Sinnentleerung eines jungen Mannes in der Stadt, der weder von seinem Freund, noch von seiner Frau oder seinem Vater Zuspruch findet und sich letztendlich auf eine Reise macht, deren Ausgang ihm selbst ungewiss ist, ist in Abwandlungen nicht nur in der russischen Literatur, sondern auch in der deutsch- französisch- und englischsprachigen vorhanden.
Die auf sich selbst zurückgeworfene Existenz war zur Zeit des Kommunismus nicht wirklich ein literarisch verbreitetes Thema und so scheint es hier doch noch Nachholbedarf zu geben. Dass dies bei Grischkowez mit einer kräftigen Prise Humor gewürzt vonstatten geht, weist auf seine besonderen schriftstellerischen Qualitäten hin.
Eine neuerliche Möglichkeit den Autor kennenzulernen gibt es noch am 15. und 16. März, wenn sein Werk „Das Haus“ zur Aufführung gelangt. Die Umschiffung technischer Tücken wäre wünschenswert!
Im Schauspielhaus in Wien erlebte vor wenigen Tagen ein Stück der jungen Autorin und Regisseurin Anne Habermehl seine Uraufführung. „Luft aus Stein“ – so der Titel, spielt über 4 Familiengenerationen und kommt mit einem einzigen Bühnenbild (Christoph Rufer) aus. Eine in strenger Zentralperspektive sich ins Bühnentief verjüngende Fahrbahn, links und rechts ohne weitere Attribute nicht lokal zuzuordnen, strömt sie jene Kälte aus, mit welcher alle ProtagonistInnen im Stück zu kämpfen haben. Habermehl gibt dabei in zeitlich unterschiedlich angeordneten kleinen Szenen Einblick in Momentaufnahmen, in welchen sich das Schicksal der jeweiligen Generation entscheidet. Wie ein Puzzle fügt sich eine Szene an die nächste und erst zum Schluss wird klar, dass es kein Liebespaar ist, das sich gleich zu Beginn wie nach einer längeren Trennung wieder getroffen hat. Es sind Bruder und Schwester, die sich inzestuös liebten und deren Beziehung durch einen Unfall, bei dem das Mädchen Paula so schwer verletzt worden war, dass sie ihr Sprachvermögen verloren hat, neu aufgesetzt wurde.
In Habermehls Familien sind es in drei Generationen Geschwisterpaare, die ihre Liebe zueinander schwer oder gar nicht ausleben können. Ob durch Gewalt daran gehindert wie es der Bruder von Ruth erleben muss, der seine Schwester vor einer unglücklichen Ehe bewahren möchte; ob durch frühen Tod voneinander getrennt, so wie dies Hanna erlitt, die als Kleinkind ihren Bruder im Krieg verlor oder schließlich, wie schon erwähnt, Paula und Anton, die nach einer innigen Liebesbeziehung brutal auseinandergerissen werden. Die Brüder selbst sind bei Habermehl die Schwächeren. Sie hängen einer Liebesillusion nach, die das reale Leben einfach überrollt. Die Frauen hingegen, vor allem auch die Mütter, erkennen rasch, dass emotionale Hochgefühle unter bestimmten Voraussetzungen nicht von Dauer sind und fügen sich in ein Leben, das sie sich zwar anders gewünscht haben, dem sie sich jedoch dennoch in der neuen Realität auch nicht verweigern.
So tragisch die einzelnen Lebensläufe auch erscheinen – die Autorin spart dennoch einige Spaßmomente nicht aus. Wie zum Beispiel jenen, in welchem Ruth (Franziska Hackl) in einem Hotelzimmer an der Seite ihres geliebten Arztes (Max Mayer) aufwacht und ihm innerhalb weniger Minuten erklärt, dass sie nach dieser ersten Liebesnacht ganz sicher schwanger sei. Ihre überschäumende Lebenslust und ihre verrückten Ideen stecken ihren Liebhaber derart an, dass dieser telefonisch ein Frühstücksservice bestellt, bei welchem der Kellner unbekleidet erscheinen möge. Max Mayer lässt es sich auch in der Rolle des Arztes von Paula nicht nehmen, sein komödiantisches Talent wieder einmal auszuspielen, indem er ihr ein Geschenkpäckchen auf ganz ungewöhnliche Art und Weise präsentiert. Hinter seinem Rücken verborgen, geht er in eine tiefe Hocke, um schließlich die eingepackte Schachtel zwischen seinen Beinen seiner Geliebten hinzuschieben. Der Mann als Liebhaber kommt bei Habermehl in allen Generationen vor, jener des Vaters jedoch nicht.
Die Absenz der Väter – die sich durch alle Generationen zieht – rächt sich zum Schluss wohl am bittersten. „Jemand hat mich betrogen und ich weiß nicht wer“, erklärt Anton, durchdrungen von Hassgefühlen. Für ihn gab es kein männliches Gegenüber, an dem er sich reiben hätte können und das es ihm ermöglicht hätte, über es hinauszuwachsen. Die unglückliche Liebe zu seiner Schwester, die von der Gesellschaft nicht toleriert wird, tut ein Übriges, um sich ausgeschlossen und alleine zu fühlen. Gideon Maoz pendelt in der Rolle zwischen Selbstmitleid und unkontrollierten Aggressionen. Sosehr Paula sich zu ihrem Bruder auch nach ihrer Rekonvaleszenz noch hingezogen fühlt ist doch sie es, die den Absprung schafft und versucht, ein eigenständiges Leben zu beginnen. Ihre Beschreibung der Gefühle, die sie nach ihrem Unfall hatte, als sie ans Bett gefesselt war und die Sprache neu erlernen musste gehört zu den eindrucksvollsten Textstellen des Abends. „Der Himmel ist aus Stein, die Luft ist aus Stein, mein Mund ist aus Stein“ so fasst sie jene Zeit zusammen, in der sie sprachlos ans Bett gefesselt war.
Katja Jung und Franziska Hackl, jeweils in 3 unterschiedlichen Frauenrollen zu sehen, gelingt das Kunststück, deren unterschiedliche Charaktere plausibel zu verkörpern, wobei die Figur der Ruth sowohl als junge Frau verkörpert durch Franziska Hackl als auch als ältere, die ihre Tochter nicht loslassen kann, interpretiert durch Katja Jung, am prägnantesten gezeichnet wird. Ihre Feststellung, dass die Leute in eine Kirche rennen, in der es keinen Gott mehr gibt, speist sich offenbar nicht aus der Philosophie ihrer Generation, sondern aus ihren Kriegserfahrungen.
Habermehls Figuren schreien sprachlos nach Liebe und Geborgenheit, die sie jedoch nicht finden. Was bleibt, ist die eigene psychische oder physische Zerstörung wie bei Ruth, die sich zu Tode raucht oder Max, dem Arzt, der im Krieg seine sprachliche Ausdruckskraft verliert und stattdessen seine Eindrücke an seine Mitmenschen nur mehr mit selbst geschossenen Fotos zu vermitteln versucht. Warum sie so geworden sind, wie sie sind, kann sich einzig auszugshaft dem Publikum erschließen, dem Individuum selbst, bleiben diese Erkenntnisse jedoch verborgen.
Ein dunkles Stück, das jedoch durch den Wunsch und der permanenten Sehnsucht nach Liebe dennoch wärmt.
Zuerst sind es die Männer, die leiden. Danach die Frauen. In der Produktion „Die Kreutzersonate“ nach Leo Tolstoi fließt viel Theaterblut. Das aber an besonders empfindlichen Stellen. Wenn Nikolaus Büchel als der Gattenmörder Posdnyschew das Messer entlang der gut sichtbaren Wölbung seiner weißen Unterhose ansetzt und sich diese nach einem langsamen Schnitt blutrot färbt, halten nicht nur die Männer im Saal kurz den Atem an.
Doch bevor in der Kreutzersonate – Tolstoi benannte das Stück nach Beethovens Sonate für Geige und Klavier – der vor Eifersucht um den Verstand gebrachte Ehemann gänzlich in seinem Blutrausch versinkt, darf er Tiraden um Tiraden wider die körperliche Liebe loswerden. Das Tier im Menschen, gegen das er ohne Unterlass wettert, bricht dennoch am Ende unkontrolliert aus ihm und er ersticht seine Frau. Die von Büchel nach einer Novelle des russischen Literaturgiganten adaptierte Bühnenfassung kann brisanter nicht sein. Nicht nur, weil das Stück als subtiler Beitrag zur aktuellen Debatte des freien Willens angesehen werden kann. Sondern auch, weil wöchentliche Zeitungsberichte von Tötungsdelikten, nach welchen Ehemänner aus Eifersucht ihre Frauen ermordeten, einen immer wieder fassungslos den Kopf über diese Taten schütteln lassen. Tolstoi beschrieb entlang der Geschichte des Ehepaares Posdnyschew psychologisch tiefgründig, welche Mechanismen Männer zu Raubtieren werden lassen und wie es möglich ist, dass sie ihre Frauen auf die brutalste Art und Weise ums Leben bringen. Obwohl man – hat man sich schlau gemacht – weiß wie das Stück ausgeht, gelingt es Büchel Minute für Minute mehr das Publikum in seinen Bann zu ziehen und auf das Unausweichliche hin zu spielen. Dass der Theatermann nicht nur ein guter Schauspieler, sondern ein ebenso guter Regisseur ist, der weiß, dass mit kleinsten Gesten und Requisiten große Wirkung zu erzielen ist, zeigt er mehrfach an diesem Abend. Das Spiel mit dem Kleid seiner Frau, das er sich im Verlauf des Stückes anzieht, aber vor allem der Einsatz der irdenen Teetassen, deren Bedeutungsebene sich von Beginn der Stückes bis zu dessen Ende komplett verkehrt, könnte eindringlicher nicht sein. Von der freundschaftlichen Geste ans Publikum, dem am Anfang warmer Tee serviert wird, bis hin zu den mit Blut gefüllten Tassen, die sich über den im Blutrausch rasenden Ehemann ergießen, sind sie Symbol für den Zustand der Ehe, über die der Mörder eingangs in unverbindlichem Plauderton Auskunft gibt.
Posdnyschew, der seine eigene Tat verflucht und offenkundig dabei ist, seinen Verstand zu verlieren, schiebt sein Verhalten einzig der menschlichen Triebhaftigkeit zu. Der Geschlechtstrieb, so erklärt er den Zuschauerinnen,der Männer und Frauen zu Ehepaaren werden lässt, obwohl sie sich überhaupt nichts zu sagen haben, wird von ihm als Auslöser seiner eigenen verfluchten Geschichte angesehen. Als unausweichliche Macht, der er nichts entgegenzusetzen hat. Als Dämon, der jegliche Reflexionsfähigkeit außer Kraft setzt und letztendlich das unmenschliche Handeln bestimmt, in welchem das Leben der eigenen Ehefrau ausgelöscht wird. Als Tier – sozusagen als ein „es“ dass abgekoppelt vom Willen agiert, diesen beherrscht und auslöscht. Die immer wiederkehrenden Summlaute, die Büchel von sich gibt, einzelne Schrittabfolgen, die noch nachträglich eine Gefängniszelle markieren, die der Mörder 11 Monate lang bewohnte, die Verringerung der Erzähllautstärke ausgerechnet an jenen Stellen, in denen Posdnyschew seine wildeste Raserei wiedergibt, all das sind meisterliche Stilmittel, die den psychischen Zustand der Figur trefflichst als krank beschreiben. Die ermordete Ehefrau – als Menetekel oder Erinnerungszerrbild von Jürgen Messensee in einem Großformat interpretiert – wird als Mensch charakterisiert, dessen größter Fehler es im Leben wohl war, in ihrem Klavierbegleiter eine verwandte Seele gefunden zu haben. Auch noch nach ihrem Tod gibt ihr Ehemann unumwunden zu, niemals in ihr Inneres geblickt zu haben, sie kein einziges Mal verstanden und auch die gemeinsamen Kinder nicht als Freude, sondern als immense Belastung empfunden zu haben. Seine Eheanalyse – zumal von ihm immer generalisiert dargeboten – kann als harter Tobak für Jungverliebte gelten und mag für diese als überzogen erscheinen. Aber dennoch wissen all jene, die schon auf einige Lebensjahrzehnte zurückblicken können, dass tatsächlich bei einem Großteil der Ehepaare und solchen, die es einmal waren, das Nichtverstehen des anderen an der Tagesordnung steht. Trotz aller Schuldzuweisung an die unsägliche Triebhaftigkeit bleibt es dem Mörder jedoch nicht erspart, seine Tat zu bereuen und an ihr zu leiden, vielleicht sogar zugrunde zu gehen. Der taktweise Einsatz der Musik – live von Antonia Rankersberger auf der Geige dargeboten und von Paul Gulda, wenngleich auch nur vom Band begleitet, lässt erahnen, dass die beiden Eheleute in zwei verschiedenen Welten beheimatet waren. In zwei Parallelwelten möchte man sagen, die einzig im Akt der körperlichen Vereinigung Berührungspunkte fanden. Nikolaus Büchel versteht es auch, dem Publikum genau an jener Stelle Lacher zu entlocken, die als die schrecklichste der Novelle gelten kann. Dann nämlich, als Posdnyschew nach seiner Tat von seiner Schwägerin ans Sterbebett seiner Frau gerufen wird. „Gehört sich das so?“ frägt er sich in einem Zustand, in welchem ein Teil seines Bewusstseins schon dabei ist auszublenden, was er gerade getan hat. Die absurde Frage nach der Etikette post einer Bluttat ermöglicht den Zuseherinnen die Angespanntheit ihrer Gefühle in einem Lachen loszuwerden und Platz und Raum in ihrem Aufnahmevermögen zu schaffen, um das Ende der Geschichte zu erfahren. Einer Geschichte, die für Tausende Frauen brutale Wirklichkeit war, ist und sein wird. Einer Geschichte, in der Nikolaus Büchel all jenen Tätern eine Stimme verleiht, die da waren sind und sein werden. Ob wir es wahrhaben wollen oder nicht.
Das Gastspiel des Austro-Liechtensteiners im Schauspielhaus Wien zählte neben „Bridge.Eine Komödie“ von Gustav Ernst zu den beiden „Openern der Saison“, bevor das Haus in der Porzellangasse ab Oktober mit Eigenproduktionen in die Vollen greift.
Wird sie oder wird sie nicht? Hat er oder hat er nicht? Weiß er von ihr oder weiß er es nicht?
Makulatur bei den Wiener Festwochen (Photo: Alexi Pelekanos / Schauspielhaus)
Das Publikum, das sich das neue Stück von Paulus Hochgatterer angesehen hat, verlässt das Theater mit Fragen über Fragen, auf die es keine Antworten bekommt. Uraufgeführt als Auftragswerk des Schauspielhauses in Wien, anlässlich der Wiener Festwochen, präsentiert der Autor in „Makulatur“ ein Beziehungsgeflecht von Menschen, welches sich im Laufe des Fortgangs der Geschichte als besonders raffiniert erweist. Hochgatterer, in der Kunst des Krimiaufbaues geübt, versteht es, dass sich seine ProtagonistInnen Szene für Szene in kleinen Schritten gefährlich annähern und dadurch die Spannung im Publikum stetig ansteigt. Als Grundgerüst dient ihm das Leiden eines junges Mädchens, das seine Mutter, eine Gymnasialprofessorin für Deutsch, und seinen Vater, einen Architekten der sich auf „Keller“ spezialisiert hat, verlässt. Sie leidet unter dem Gefühl, dass ihre Gliedmaßen nicht Teil ihrer selbst sind und hat den innigen Wunsch, sich ihr Bein amputieren zu lassen. Es wäre möglich, dass Hochgatterer hier auf seinen eigenen Erfahrungsschatz als Kinderpsychiater verweist und auf ein Vorbild für diese Depersonalisationsstörung zurückgriff, welches er zu behandeln hatte. Zumindest verweist er in der Handlung auch auf ein frühkindliches, traumatisches Erlebnis – nämlich dem „Verschwinden“ der Mutter während der ersten alleinigen Geh- und Raumerobersungsversuche ihrer Tochter Kerstin, die sich verlassen vorkam und dieses Gefühl von da an permanent mit sich tragen muss.
Eine junge Polizistin und ihr Kollege, eine einarmige Trafikantin und ein Mann, der sich als Chirurg ausgibt, sie alle ergänzen den Reigen von Menschen die – der Titel deutet es an – ihr Fremdbild einer Makulatur verdanken. Hochgatterer verwendet den Begriff ganz im Sinne von Papierbögen, die beim Tapezieren unter der Tapete angebracht werden, um schadhafte Stellen abzudecken und auszugleichen. Und von schadhaften Seelenzuständen wimmelt es in seinem Bühnenstück nur so. Eigentlich müsste man sich nach dieser Aufführung vor jeder Polizistin und jedem Polizisten fürchten, denn so locker, wie die Waffe bei den handelnden Bühnenpersonen sitzt, wäre es leicht möglich, einmal ein bedauernswertes Opfer einer solchen zu werden. Auch kann man froh sein, keine Kinder mehr im Gymnasium zu haben – ganz nach dem Motto „ich lebe glücklich, meine Kinder haben schon Matura“ – denn Hochgatterers Professorin zeigt beim Korrigieren von Maturaarbeiten zuhause unverhohlen, wie sehr sie einzelne ihrer Schülerinnen und Schüler verachtet und dies auch ganz ohne Skrupel in die Benotung einfließen lässt. Dagegen mutet das Duckmäusertum ihres Mannes und die Alkoholsucht der verkrüppelten Trafikantin harmlos an, sind sie zumindest nicht aus jenem Holz geschnitzt, mit dem man andere Menschen seelenruhig verprügeln kann.
Hauptprotagonist ist jedoch neben dem Mädchen ein Mann namens Jablonski, der seinen Lebensunterhalt mit Operationen verdient, die von zugelassenen Ärzten normalerweise nicht durchgeführt werden. Er amputiert und implantiert, ganz wie seine „Patienten“ es wünschen und lässt sich dafür schließlich von Kerstins Vater auch noch einen versteckten Raum unter dem Schwedenplatz einrichten, um dort ungestört seiner Tätigkeit nachgehen zu können. Bei seiner Arbeit kommt ihm seine Menschenverachtung zugute, die er bei ausgiebigen Beobachtungen im U-Bahnbereich kräftig nährt. Dabei konstatiert er, dass sich höchstens einmal am Tag in den Menschenmassen jemand findet, der intelligent ist und so verspürt er auch nicht im Geringsten die Absicht, die absonderlichen Wünsche seiner Kundschaft auch nur andeutungsweise zu hinterfragen. Die raffinierte Handlungsführung, bei der man zur Halbzeit vermeint, den Schluss bereits voraussagen zu können, endet jedoch völlig abrupt, so als wäre man Zeuge eines irreparablen Filmrisses, sodass man sich genötigt sieht, sich das Ende der Geschichte selbst auszudenken.
Oder gibt es – wie im Leben außerhalb der Theatermauern – unter Umständen gar kein „Ende“ an welchem sich alle Knoten lösen und das Gute über das Böse siegt – oder umgekehrt?
Es ist diese Verstörung, die neben all den psychischen Deformationen, welche die handelnden Personen aufweisen, das Stück als tiefschwarz charakterisieren. Da nützt auch der winzig kleine Hoffnungsschimmer nicht viel, aus dem herauszulesen ist, dass sich Kerstin und Jablonski gefühlsmäßig näher kommen und die drohende Amputation vielleicht doch noch verhindert werden kann.
Hochgatterers Stück ist kein Krimi und kein Psychodrama – es steht wie auf einer fragilen Wippe genau dazwischen. Ein Schritt in die eine oder andere Richtung würde es endgültig determinieren, was der Autor aber bewusst vermeidet. Die aalglatte Inszenierung von Barbara-David Brüesch hilft nicht nur, einen gehörigen Abstand zu den Personen aufrechtzuerhalten, sondern steigert mit ihren abrupten Szenenwechseln, begleitet durch unerwartete akustische Sensationen, merkbar den Thrill. Unterstützt wird sie dabei vom Bühnenbild von Damian Hitz, der die einzelnen Orte nur durch unterschiedliche Ebenen einer Aluminiumkonstruktion definiert und auf mehreren Videoschirmen das geschäftige Treiben in den U-Bahngängen unterhalb des Schwedenplatzes projiziert.
Steffen Höld (Jablonski), Katja Jung (Trafikantin), Barbara Horvath (Professorin), Max Mayer (Architekt), Christoph Rothenbuchner (Polzist), Franziska Hackl (Polizistin) und Nikola Rudle (Tochter Kerstin) verkörpern ohne Ausnahme ihre Rollen lebendig und absolut nachvollziehbar.
Ob der offene Schluss als Makel oder psychologisch-philosophische Hausaufgabe angesehen wird, bleibt wohl jeder Besucherin und jedem Besucher selbst überlassen.