Wie das Gestern zum Morgen wird

Wie das Gestern zum Morgen wird

Das Team des Schauspielhauses in Wien widmet seine diesjährige fünfteilige Serie Stefan Zweigs Werk „Die Welt von Gestern“. Um allen Missverständnissen vorzubeugen: Zweigs Rückschau über das Leben in der Donaumonarchie bis zum Jahr 1939 fungiert als Ideengeber und nicht als Textbuch. Analog zu Zweigs monumentaler Erinnerungsarbeit wurden 100-Jährige in Wien interviewt und fünf ihrer Portraits in Szene gesetzt.

Für den Auftakt wurde Anne Habermehl verpflichtet, die in dieser Saison schon einmal mit ihrem Text „Wie Mücken im Licht“ – grandios von Gideon Maoz umgesetzt – brillierte. Sie untertitelte die Arbeit ihres neuen Werkes „Glanz und Schatten Europas“ und erzählt darin anhand eines alten Ehepaares die Entwicklung vom Jahr 1914 bis in unsere heutigen Tage. Wie immer, wenn das Schauspielhaus zu einer Abendwanderung aufruft, trifft sich das Publikum zu Beginn im Nebenhaus. An die Wand projiziert verfolgt man eine Fotoserie, in der man Bilder vom Beginn des vorigen Jahrhunderts bis rund in die 60er Jahre sehen kann. Aufnahmen von Handwerkern, Postkarten aus Berlin und Wien, man erblickt Schwimmbäder, Eisläufer aber auch junge Menschen, werbemäßig fröhlich über ein Kofferradio in die Kamera blickend.

Noch ist nicht klar, was dieser zeitlich große Bogen bedeutet – erst im Laufe der Erzählungen von Margarethe (Margarethe Tiesel die erst jüngst in Ulrichs Seidl Film Paradies: Liebe reüssierte) und Michael (Michael Gempart im Ensemble des Burgtheaters seit 2004 und Schauspielhausbesucherinnen und -besuchern längst auch ein Begriff) wird klar, dass es ihre Lebensspanne ist – die hier anhand von Fotos beispielhaft markiert wurde. Plötzlich aufsteigender Rauch macht den Verbleib im kleinen Raum des Schauspielhauses ungemütlich und befördert den Drang, ins Freie zu gehen und die Porzellangasse zu verlassen. Im Pulk geht es dann in die Liechtensteinstraße, die Strudlhofstiege hinauf bis zum Palais Strudlhof – jenem Haus in welchem 1914 das Unheil bringende Ultimatum Österreichs an Serbien unterzeichnet wurde. Es ist schließlich auch das Originalzimmer, in welchem das Ultimatum unterschrieben worden war, in welchem auf Bierbänken im düsteren Ambiente Platz genommen wird – welch ein Unterschied zu jenen Prachträumen, die allgemein für Friedensabschlüsse herangezogen werden. Klein und dunkel getäfelt ist er, an der Decke hängen einige Kristallluster, die jedoch nicht eingeschaltet sind. Große Glastüren führen von ihm in einen Wntergarten, der jedoch zu Beginn noch nicht wirklich sichtbar wird.

Er wird im übertragenen Sinne im Laufe des Geschehens noch eine Rolle spielen, doch bis es soweit ist, erzählen abwechselnd Margarethe und Michael von ihrem Leben. Zwei Personen, ein Ehepaar – und dennoch zwei gänzlich unterschiedliche Lebensentwürfe, die nur eine große Schnittmenge aufweisen konnten – ihre Liebe zueinander. Der durch und durch politische Pazifist, der sein ganzes Leben der Politik gewidmet hat und nah am Geschehen der Neufindung Europas wirkte und die ihm stets zur Seite stehende Ehefrau, die sich nach eigener Definition immer nur an seinem Feuer wärmte, erinnern sich an ihr Kennenlernen in Paris, an ihre frühe unruhige Zeit in der sie von Ort zu Ort vaszierten. Michael kämpft bis an sein Lebensende für Frieden und stellt sich dafür als über 70-Jähriger auch schon einmal mitten auf eine Kreuzung um seiner Stimme öffentliches Gehör zu verleihen. „Jeder Widerstand beginnt auf der Straße“ rechtfertigt er sein Tun seiner besorgten Frau gegenüber. Margarethe hingegen, die als Hobby ihr Leben lang mit der Kamera auf Menschen hielt, schämt sich für solche Momente und versucht, so gut sie kann, die fortschreitende Demenz ihres Mannes aufzufangen. Das Jahr 1914, das Geburtsjahr von Michael, war ein Bedeutendes. Er wird nicht müde, das zu betonen, so als hätte ihm selbst dieses Datum vom Beginn seines Lebens einen Stempel aufgedrückt. So, als würde er es als Verpflichtung auffassen, sich für eine freie und gerechte Zukunft einzusetzen. Diesem rebellischen Mann wird Margarethe nicht einmal in seinen letzten Stunden Herr. Der Verkauf des Gartens, einst unumgängliche Notwendigkeit um die Last der damit verbundenen Arbeit abzuschütteln, wird für ihn schließlich zum Anstoß, das Haus zu verlassen und in den Wald zu gehen. Dort erinnert sich Michael noch einmal an all die wichtigen Dinge in seinem Leben, in welchen er sein Herz schlagen hörte, und bittet es nun, doch endlich aufzuhören zu pumpen. „Es pumpt und pumpt und pumpt“ illustriert er seine vegetative Körperfunktion und drückt damit gleichzeitig nicht nur seine Verwunderung über dieses Leben an sich aus, sondern auch seinen Lebensüberdruss, der ihn nun im Alter ereilt hat.

Schauspielerisch vom Feinsten agieren Tiesel und Gempart, unterstützt durch Habermehls eigenhändige Regieeingriffe, die sich auf wenige Lichtwechsel – Auf- und Abgänge sowie einen romantischen Tanz, umhüllt von einer roten Lichterschleife, beschränken. Mit dem Auftritt von fünf jungen Männern am Schluss spannt sich der Bogen jedoch weg vom Jahr 1914 bis weit in unsere Zukunft. Islam Dadaev, William Eggert, Marcel Held, Frederic Lodreiter und Dominik Langer stehen auf Zukunftsfragen Rede und Antwort und möchten – könnten sie mit ihren Urgroßeltern sprechen – wissen, wie es ihnen geht, ob es sich lohnt alt zu werden und wie es zur ersten Demokratie kam. Einen Beruf wünscht sich jeder von ihnen – eine Ausbildung, auch ein Jahr Urlaub wäre schön. Was kommt, ist unvorhersehbar – aber allen ist ein Leben in Frieden zu wünschen in dem sie – wie es Stefan Zweig am Beginn seiner „Welt von Gestern“ so schön beschreibt – „ein einziges Leben vom Anfang bis zum Ende (leben könnten), ohne Aufstiege, ohne Stürze, ohne Erschütterung und Gefahr, ein Leben mit kleinen Spannungen, unmerklichen Übergängen“. Wir befürchten, dass es nicht so sein wird, dass das Tempo unserer heutigen Zeit abermals Umstürze mit sich bringen und die Welt weiter rasant verändern wird. Habermehl spricht nichts davon aus – aber in der Fragestellung ihres Werkes ist dies bereits angelegt.

Ein Abend, der im wahrsten Sinne zum Nach- aber auch in die Zukunft denken anregt.

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Schauspielhaus Wien

Das Sausen der Welt

Das Sausen der Welt

Ganz und gar nicht oje, sondern ok!


Sich Verlieben in einen Text, von dem man schon im Vorhinein weiß, dass man sich verlieben wird müssen. Sprachlich tief eintauchen in unsere Lebensabsurdität die uns tag- täglich umspült, die wir aber mit allergrößtem Kraftaufwand versuchen beständig von uns fernzuhalten und, wenn es schon gar nicht anders geht, ihre Versatzstücke aufeinander schlichten wie bunte Bausteine, einen auf den anderen, damit alles doch noch seine Ordnung hat. Metaphern hören, die uns die Finanzkrise als böse Geister, noch gebannt in schwarze Kisten, vor unser inneres Auge zaubern. Über das ungelenke Technikmonster lachen, das von seinen zwei Betreibern die Wahrnehmung der Schönheit der Welt permanent verhindert, die Schönheit, die sich in einem zarten Vogelgesang versteckt, von einem Vögelchen, das sich partout nicht zeigen will oder vielleicht auch schon längst nicht mehr zeigen kann. Lachen über die linkischen und hilflosen Konversationsanbahnungen, die über das Anbieten eines Espressos kaum hinauskommen, nicht hinauskommen wollen, ja können. Jeder Satz, der etwas von einem selbst preisgibt, scheint zu viel zu sein.

Die Frage, die keine Antwort findet

Eine einfache Frage, wie jene die erkunden will, wie es war, in der fremden Stadt, kann nicht beantwortet werden, weil ihre Beantwortung eine Krise auslöst, weil ihre Beantwortung Dinge festmachen könnte, die aufgrund des Wirklichkeitsproblems ja gar nicht festzumachen sind und deswegen nicht erzählbar erscheinen. So bleibt die einfache Frage unbeantwortet durch viele Worte, aber dennoch gänzlich Unbe-SATZt, weil zu einer vollkommenen Be-SATZung so manches fehlt, was sich Subjekt oder Prädikat nennen dürfte. Jene Sätze aber, die vom Sausen der Welt erzählen, vom Krach, vom Brummen, vom Tinnitus der Produktivität, vom Klang der Krise – jene Sätze, die sich eingangs wie ein vielstimmiger Bach´scher Choral zueinander fügen, sind von anderem Kaliber und sollten deshalb niemals enden. Dieses Krisengebet, das scheinbar alles und alle miteinander verwebt, das Kleinste und das Größte auf dieser Welt sausen und brausen lässt – in und durch unsere Ohren, dass einem ganz schwindlig werden kann, dieses Wortesausen und Gedankenbrausen raubt einem schier den Atem. Es steht am Anfang und es klingt nach, bis zum Schluss und endet deshalb tatsächlich nicht.

Kein Gag, kein noch so tiefsinniger Gedankenfluss kann es wieder wegwischen. Es bleibt, weil es reiner Rhythmus ist, Sprachmusik, die so schön und so schön unbarmherzig zugleich auftritt. Es bleibt und es klingt nach. Das Schwarzkistengeistlamento, das krisenschwanger ein wenig später langsam über die Zehen aufwärts kriecht, schneller wird, den Bauch erreicht und in Rasanz über den Scheitel nach oben wegfliegt, umhüllt von seiner Oje-Beschwörungsformel, stemmt sich heftig aber dennoch vergebens gegen den postmarianischen Wirtschaftsgruß der eigentlich niemals enden sollte; aber schön bleibt schön und oje eben nur oje.

Vom gefügigen Nachhausetaumeln

Das Mikrofon, das zu Beginn und am Schluss die Worte beräuchert, erinnert mit seinem leisen Baumeln an Weihrauchkessel, die sonntags die Wandlung am Altar begleiten und jenes Kirchenvolk einnebeln das laut gegen Gras schreit, aber selbst sich tiefe Atemzüge voll des geweihten Rauches einzieht, gratis, versteht sich, ungedealt, dieses Mikrofon ist dasselbe, durch das der Popsong der unerwünschten Kritik erschallt. Ihm ist es egal, wofür es gebraucht wird, auch wenn es nicht gebraucht würde, wäre es ihm egal. Aber es ist da, genauso wie die vielen Kabel, die bunten Stecker und Ein- und Ausschalter auf dem räderbestückten Unsinnswagen mit zwei ungepolsterten Bedarfssitzen, der in einem publikumsverachtenden Rangiermanöver Leben ins Publikumssitzen bringt. Durcheinanderwirbelt, was eingangs mühsam an seinen Platz gebracht worden war. Maoz und Vischer sehen. Als Pas de deux das komplizierteste Texte und einfachste Slapstickkomik wie selbstverständlich stakkatesk wechselt, und im abschließenden Applausbad ganz oben auf den hörbaren Schaumwellen der Begeisterung schwimmt. Zu verdanken ihrer Schauspielkunst und Licht und Schwarz. Voll von Ideen der eine und die andere und furchtlos in ihrer Umsetzung, der Sprachlichen und der Darstellenden. Sie schaffen im kleinen, dunklen, nebelgeschwängerten Raum, der immer daneben ist, ohne Abrakadabra aber mit viel Simsalabim, oje und ok. und einem Rattenkönig, der über das verknäuelte Rattenknäuel mit verknüpften Schwänzen die Herrschaft behalten hat, einen sprachwitzgesellschaftskritischen Drogenrausch, der Kritik verbietet, diese sogar ins Lächerliche verbannt, bevor sie noch geschrieben ist. So bleibt nur gefügiges Nach-Hause-Taumeln mit dem einzigen Ziel Licht´sche Musik zu hören, bis es rundherum ganz ruhig geworden ist und kein Autoschweinwerfer und keine Straßenbahnbeleuchtung mehr ins Zimmer winken. Bis das Ampelgrün nur mehr ins Nachtschwarz blinkt, endlich funktionsfrei schön, bewacht nur vom konstanten Baustellenkranrot das von mehreren Seiten gleichzeitig gnädig herableuchtet. Bis das „Gegrüßet seist du Klang der Krise“ und das „Unter-Gegrüßet du Klang der Teilkrise“ nur mehr leise nachzirpt, um Zeiten später, irgendwann, hoffentlich wieder aufzubrausen, wenn die Erinnerung den Abend voller Licht hervorzaubern möchte.

Das Sausen der Welt
Schauspieler: Gideon Maoz, Martin Vischer
Autor: Peter Licht
Regie: Katharina Schwarz
Ort. Nebenhaus, Schauspielhaus Wien

Was wäre wenn?

Was wäre wenn?

Die letzte Premiere im Jahr 2013 fand im Schauspielhaus in Wien am Silvesterabend statt. Bei ausverkauftem Haus erlebte das Publikum die deutschsprachige Erstaufführung des Stückes „Konstellationen“ von Nick Payne. Der 29jährige hat mit diesem Werk einen fulminanten dramatischen Start hingelegt – wurde es doch 2012 zum besten Theaterstück des Jahres vom Evening Standard, einer kostenlosen Tageszeitung mit hoher Verbreitung in London, preisgekrönt.

Der junge Autor ließ in dieses Stück zwei gänzlich unterschiedliche Lebensentwürfe einfließen und stellt der Kosmologin Marianne ihren Freund Roland gegenüber, der Imker ist. Die Sicht auf die Welt von außen und jene, welche die biologischen Zusammenhänge als Kausalketten versteht, prallen permanent aufeinander. Liest man den Text im Programmheft, könnte in Nicht-Naturwissenschaftlern das blanke Entsetzen hochsteigen ob einer etwaigen Unverständlichkeit des Bühnengeschehens. Diesbezüglich kann aber absolut Entwarnung gegeben werden. Zwar versucht Marianne Roland die Existenz eines Quanten-Universums zu verdeutlichen, es bleibt aber bei einem Eingangsstatement, das der Naturbursch genauso wie das Gros des Publikums mehr oder weniger verständnislos aber dennoch freundlich zur Kenntnis nimmt. Von wirklichem Verstehen keine Spur. Gerade diese Gemeinsamkeit und die überaus charmante Interpretation der Figur des jungen, verliebten Mannes durch Thiemo Strutzenberger zieht das Publikum von Beginn an auf seine Seite. Marianne, in all ihren Facetten überzeugend und sympathisch von Nicola Kirsch gespielt, darf in den rund 70 Minuten jene komplette Gefühlspalette durchleben, der junge Frauen von heute ausgesetzt sind. Karriere und Liebe, eine Partnerschaft neben den eigenen Bedürfnissen auszuloten, ist kein Leichtes. Dass ein Schicksalsschlag das Leben vollends aus der Bahn wirft, macht die Sache auch nicht einfacher.

Ganz so easy wie sich das Geschehen hier anhört ist es dann aber doch nicht. Und das dank der Idee des Autors, sprachlich und dramaturgisch die Idee von Paralleluniversen auf die Bühne zu bringen. Das schafft er, indem er einzelne Szenen mit verschiedenen Abwandlungen hintereinander spielen lässt. Eine Riesenherausforderung für die Schauspielenden, liegt ihnen zwar meistens ein sehr identischer Text vor. Diesen müssen sie jedoch mit anderen Bedeutungen, Gefühlsstimmungen  und auch charakterlichen Abweichungen dementsprechend abwandeln. Und das geschieht durch Lichtwechsel von einer Minute auf die andere. Kirsch und Strutzenberger schaffen das aber mit links. Bühnenbild ist keines vorhanden, die gold gefärbelte Wand des Schauspielhauses reicht neben den schon beschriebenen Lichtwechseln. Ramin Gray fokussiert in seiner Regie auf die Sprache und lässt nichts Ablenkendes aufkommen. Die faszinierende Idee, dass das, was wir in unserer Realität erleben auch in anderen gelebt worden ist und vielleicht auch noch gelebt werden wird, ist bei Nick Payne in ein dramaturgisches Rondell gegossen. Und so erschließen sich die ganz zu Beginn gesagten Sätze in ihrem wahren Ausmaß und ihrer wahren Bedeutung erst am Ende des Stückes.

Wunderbar fügt sich in all der vermeintlichen Kompliziertheit der Heiratsantrag von Roland ein, für den er sich Vergleiche aus dem Leben der Bienen zurecht gelegt hat. Das Publikum dankt mit vielen spontanen Lachern, die erst aufgrund der Melancholie des Schlusses verebben. Wie Payne es schafft eine todbringende Krankheit oder das Gegenteil – eine befreiende Diagnose – als pure Zufälle des Lebens aufzuzeigen, ist für all jene befreiend, denen permanent eingeredet wird, dass jeder und jede seines Glückes Schmied sei und man gegen sein Karma nicht ankämpfen könne. Das Gedankenexperiment, mehrere Möglichkeiten in seinem eigenen Leben zu haben, nur eine davon jedoch leben zu können, macht nicht nur Spaß, sondern hat sicherlich auch Langzeiteffekt.

Eine sehenswerte Produktion, in der sich aktuelle wissenschaftliche Forschungsaufgaben perfektest mit einer künstlerischen Aufarbeitung dieses Wissens verschränken.

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Schauspielhaus Wien

Schrankenlos böse

Schrankenlos böse

Jonathan Littells Roman „Die Wohlgesinnten“ spaltete kurz nach seinem Erscheinen 2006 in französischer Sprache und ein Jahr später dann in Deutsch, die Kritik. Darin lässt er einen ehemaligen SS Offizier von seinen Kinder- Jugend- und Kriegserlebnissen berichten und tut das so schonungslos, dass es einem beim Lesen nicht nur einmal den Atem verschlägt. Fern jeder psychologischen Auseinandersetzung schimpften die einen, eine Zumutung, die Judenvernichtung erneut in Prosa zu gießen, tönte es aus einem anderen Eck. Ein Buch, das seinesgleichen sucht und eine Steilvorlage für die kommenden Jahrzehnte biete – so lautete im Gegenzug der Grundtenor der Befürworter. Wie auch immer man künstlerisch die Beurteilung ansetzen will – eines ist nicht wegzudiskutieren. In Littells Werk häufen sich die Leichenberge und Gräueltaten sosehr, dass Bühnenfassungen – gelinde ausgedrückt – echte Herausforderung darstellen.

Und doch gibt es sie mittlerweile. Armin Petras war der Erste, der 2011 eine Bearbeitung am Gorki-Theater in Berlin auf die Bühne brachte. Federico Bellini und Antonia Latella erarbeiteten für Wien eine eigene Fassung, wobei Latella zugleich auch die Regie übernahm. Es ist ihnen dabei das Kunststück gelungen, alle relevanten Stationen und Charaktere aus Littells Text herauszufiltern, ohne dass man das Gefühl hat, Essenzielles sei auf der Strecke geblieben. Und das ist eine hohe Kunst, bedenkt man, dass das Buch knapp 1400 Seiten hat. Im Schauspielhaus in Wien, wo die Inszenierung in dieser Saison aufgeführt wird, sind es zwei Mal einhalb Stunden plus Pause, die als Zeitfenster zur Verfügung stehen, wobei keine einzige Minute weggestrichen gehört. „Die Wohlgesinnten“ ist das erste richtig große Theaterereignis des Hauses in dieser Saison und legt für Kommendes die Latte enorm hoch. Wer erwartet, dass hier bestialisch gemordet wird und Theaterblut massenweise spritzen müsste, der irrt gewaltig. Latella kommt ganz ohne diese augenscheinlichen Zutaten aus und setzt den Schwerpunkt viel mehr auf die psychologische Erforschung der Hauptprotagonisten.

Auf der Bühne, die von einer Filmzuspielung auf eine Großbildleinwand dominiert wird, agieren vier Personen. Der unaufdringliche Film im Hintergrund dient jedoch nicht nur zur Behübschung, sondern trotz seiner Naturidylle als spannungsreicher Hinweis auf die wahre Motivation Max Aues, der sich als junger Jurist ganz tief in den Tötungsmorast der SS hineinziehen lässt. Zu sehen ist darauf ein Ausschnitt des Berliner Tiergartens, nahe der Löwenbrücke, der als Treffpunkt Homosexueller bekannt war. Und tatsächlich sind es junge, allein auftretende Männer, die während des gesamten Filmes nur mit ihrem Erscheinen auf der Leinwand immer wieder unterschwellig klar machen, was dem jungen Max Aue, Doktoraspirant, zur Last gelegt wurde. Er sei ein „175er“ – also ein Mann, dem laut § 175 des deutschen Strafgesetzbuches wegen sexueller Handlungen zwischen Personen männlichen Geschlechts eine Anklage drohe. In der gleich zu Beginn determinierten Zwangslage, in die sich Max Aue durch seine Homophilie gebracht hat, überbringt ihm Steffen Höld in der Rolle des Thomas Hauser eine Botschaft, die nur zwischen den Zeilen zu lesen ist. Er habe nichts zu befürchten, würde er seine Dienste der Partei zur Verfügung stellen – ganz im Gegenteil, es stünde ihm als brillantem Denker eine glänzende Karriere bevor.

Nach diesem Intro bestreitet Thiemo Strutzenberger als Max Aue mit Steffen Höld das Geschehen auf der Bühne. Zwei Männer, die ungleicher nicht sein können und sich doch bis an das Lebensende von Thomas nie ganz aus den Augen verlieren. Was die beiden jungen Schauspieler dabei abliefern, kann als beispiellos grandios bezeichnet werden. Sie stehen sich in ihren spielerischen Talenten gegenseitig in nichts nach. Einer genialen Besetzung ist es zu verdanken, dass sie in ihren jeweiligen Rollen ihre Stärken voll ausspielen können. Ihre viel zu großen Anzüge, in welche sie erst im Laufe des Abends „hineinwachsen“, machen klar, dass sie ganz zu Beginn des Krieges in Rollen stecken, denen sie gar nicht gewachsen sind. Erst im zweiten Teil des Abends sitzen die Kleidungsstücke wie angegossen – bis dahin haben die beiden durch ihre Parteikarriere jedoch schon jeder Menge Erschießungskommandos in Osteuropa beigewohnt, ihre Moral verloren und sich den Umständen des Horrorregimes perfekt angepasst. Höld mimt dabei den mustergültigen, parteitreuen Deutschen, der keinen Augenblick des Zweifels kennt und die Kommunikationsstrukturen der Macht perfekt beherrscht. Im Gegensatz zu seinem Freund ist er aufgrund seines parteikonformen Verhaltens nicht erpressbar und begeht seine Taten nicht nur aus Überzeugung, sondern vor allem aus dem Willen, in hohe Chargen aufzusteigen. Für ihn ist das Leben ein Witz, über das er im Gegensatz zu seinem Freund Max beständig lachen kann. Auch dann noch, wenn die Umstände grauenhafter nicht sein können. „Krieg ist Krieg und Schnaps ist Schnaps“ – mit diesem Slogan setzt er wieder und wieder einen funktionierenden Verdrängungsmechanismus in Gang, der durch seinen steigenden Alkoholkonsum noch beschleunigt wird. Am Beginn des Stückes stößt er noch mit Champagner an, nach den Erlebnissen in Stalingrad trinkt er direkt aus der Flasche Schnaps. Worüber man nicht nachdenken kann, darüber muss man sich vollsaufen, scheint das Motto von Thomas Hauser zu sein. Obwohl er Max gegenüber als jener erscheint, der die Zusammenhänge in der Partei und des Krieges an sich besser durchschaut weiß er, dass ihm sein Freund in einigen Dingen überlegen ist. Dieser nennt ihn nicht nur einmal Pylades und betitelt sich selbst als Orest, ein Hinweis, dass Littell seine Figuren ganz nach dem antiken Vorbild der „Orestie“ ins Rennen schickte. Ihr Schicksal erfüllt sich aus derselben familiären Verfasstheit wie das ihrer antiken Vorbilder, allein die Umstände in der sie als Erwachsene ihr Leben meistern müssen, sind andere. Littell vermittelt durch diesen Kunstgriff, dass die Geschicke der Menschen seit Urzeiten von ihren kindlichen Prägungen bestimmt und diese wiederum einem immerwährenden Kanon menschlicher Konstellationsmöglichkeiten entnommen werden. Aus dieser Idee ist das Geschehen, das im Dritten Reich angesiedelt ist, in der Bedeutungsübersetzung eines, welches als historisch exemplarisch aufgefasst werden kann. Eine Uminterpretation auf zeitgenössische Verfasstheiten sollte damit auch in zukünftigen Generationen leicht möglich sein.

Der uneitle Maurizio Rippa, der als Countertenor barocke Arien ganz in Zwischenschnittmanier oder auch als Untermalung des Geschehens zum Besten gibt, ist als personifizierte Kultur zu interpretieren. Von den Nazis als speziell deutsche Errungenschaft verkauft, in deren Besitz sich vom Führer abwärts eine ganze Reihe karrieregeiler NS-Schergen rühmten, diente Kultur auch als Legitimation einer Herrenrasse, die sich den anderen überlegen fühlte. Mit Rippas Auftreten, mal als alter Mann in Hausschuhen, der sich nur schleppend vorwärts bewegt, mal als Unterhalter hinter dem Mikrofon oder als Lamentosänger, wenn es Tote zu beklagen gibt, wird auch jene Schnittmenge des menschlichen Daseins angeschnitten, in welcher sich sowohl Kultur und Kunst als auch bestialisches Verhalten scheinbar ungestraft miteinander verbinden. Littell überschrieb seine verschiedenen Kapitel mit Satzbezeichnungen aus barocken Suiten wie Allemande, Courante, Sarabande, Menuett, Air und Gigue, wobei er als Einstiegsbezeichnung Toccata eine Bezeichnung wählte, die in der Abfolge der barocken Konzerte nicht vorkommt, sondern der Begriff eines eigenständigen in sich selbst abgeschlossenen Stückes ist. Dass Rippa hauptsächlich französische Musik singt, ist als Hinweis auf die Multinationalität von Max Aue aufzufassen. Als Kind im Elsass sowohl deutsch als auch französisch geprägt, ist er zeitlebens mit einem kulturellen Mehrwert gegenüber seinem Freund ausgestattet, was dieser schmerzlich spürt. Dazu passt auch sein Hinweis auf einen seiner Lieblingsschriftsteller Stendhal. Dieser schrieb, dass der größte Trick Gottes darin bestünde, die Menschen glauben zu machen, dass es ihn nicht gäbe. Dieser Satz ist nicht irgendein x-beliebiger. Ihn in die dramatische Fassung mitaufzunehmen, kann auch als Programm für das unbeschreiblich grausame Tun von Max und Thomas, und nicht nur für diese beiden, während der NS-Herrschaft angesehen werden. Gott wird in diesem Satz zwar nicht geleugnet, sein Erkennen bei den Menschen sowie die zwangsläufige ethische Handlung daraus aber sehr wohl. Wenn es Gott gibt, dann zeigt er sich nicht, und wenn er sich nicht zeigt, sind letztendlich nur wir selbst unsere eigene moralisch-ethische Instanz. Und nach dieser Logik handeln die beiden auch.

Die Bühne befindet sich in einem ständigen Requisitenwandel, wobei es hauptsächlich Klavierbänke sind, die meist von Barbara Horvath kräfteraubend in immer neue Positionen verschoben und gehoben werden. Als Adjutant von Aue verkörpert sie in schneeweißen, ebenfalls viel zu großen Hosen und einem dicken Mantel jenen Soldatentypus, der das Rückgrat der Armee darstellte. Ihr unbedingter, auf Kommando gebrüllter Kadavergehorsam, den sie nie hinterfragt und das minutenlange, rhythmische Gestampfe ihrer schweren Stiefel, das die endlosen Vormärsche der deutschen Einheiten markierte, steht für Abertausende, die den Krieg nicht gewollt, ihn aber an vorderster Front führen mussten. Die Klavierbänke, Reminiszenzen an kulturgeschwängerte deutsche Wohnzimmer, dienen unterschiedlichen Szenarien. Zum Beispiel als Sitzbehelfe auf dem sich im Kreis drehenden Theaterboden. Ein beredtes Bild, in dem die Unsicherheit der Zeit und der sich ständig ändernden Situation ihren Wiederhall findet. Wenn rundherum alles wankt, ist es nur mehr die eigene kulturelle Identität, die zumindest ein klein wenig Halt bietet, und sei dies auch nur in Form eines Klavierhockers. Ein anderes Mal stellt Horvath die Klavierbänke alle hochkant auf und evoziert damit endlose Reihen von Grabsteinen. Nicht nur für das Massensterben in Stalingrad oder auf einem Feld in der Ukraine, bei der Aue einer jüdischen Massenerschießung beiwohnte und dabei selbst Hand anlegte, stimmt diese Metapher.

Barbara Horvath schlüpft als Una, die Zwillingsschwester Aues, zu der er in jugendlichen Jahren ein inzestuöses Verhältnis hatte, aus der Rolle des gehorsamen Soldaten in jene einer empfindsamen jungen Frau. In der pommerschen Abgeschiedenheit, in der sie lebt, hat sie keine Ahnung von den Kriegsgräueln und kann den geistigen Zustand und die Schuld, die ihr Bruder auf sich geladen hat, überhaupt nicht einschätzen. Im weißen Hosenanzug ist sie eine Lichtgestalt auf der Bühne, die durch ihre Ehe mit einem ständig kränkelnden Mann die emotionale Umklammerung ihres Bruders hinter sich lassen konnte. Die Wandlungsfähigkeit der Schauspielerin ist an diesem Abend auf eine harte Probe gestellt, umso bewundernswerter fallen ihre raschen, gelungenen Rollenwechsel aus. In den Szenen, in welchen sich Maximilian seiner eigenen Familie zuwendet, allen voran seiner Schwester, verblasst der projizierte Film des Berliner Parks. Una und seine Familie sind für ihn keine Bedrohung. Einzig seine Wünsche und Sehnsüchte, mit seiner Schwester immer vereint zu sein, dienen ihm im privaten Umfeld als intrinsischer Antrieb. Hier ist nicht die Erpressung, die ihn zu seinem Tun innerhalb des Familienverbandes anleitet, sondern vielmehr der Wunsch, eine liebende Mutter sein Eigen nennen zu können. Ein Wunsch, der sich nicht erfüllte und der den Grundstein zu späteren fatalen Entwicklungen im Leben Maximilian Aues legte. Wie sehr das Draußen aber dennoch auf das Drinnen wirkt, sich nicht einfach wegschieben lässt, wird in der ganz speziellen Interpretation der Figur Aues durch Strutzenberger klar, der den Kriegsgestählten sichtbar verrückt werden lässt. Kurz davor durfte er noch seine intellektuelle Kraft bei einem rhetorischen Duell mit einem Bolschewiken zeigen – eine jener Szenen, für die Strutzenberger eine eigene Auszeichnung bekommen müsste, so intensiv, so rasch und so brillant wird sie von ihm direkt am Bühnenrand sitzend, vorgetragen. Wie bei einem Fußballmatch kommentiert sein Freund Thomas das Geschehen und zählt jede überzeugende Argumentation gegen den Kommunismus wie ein gelungenes Fußballtor.

Doch je länger der Krieg vorrückt, umso mehr wird deutlich, dass Maximilian Aue ihn psychisch nicht unbeschadet übersteht. Auf die erste schier unerklärbare Tat – die Ermordung eines alten Juden – der zuvor an einem Klavier Bach spielte – folgt auch noch jene der eigenen Mutter. Zwar geschieht das nicht auf offener Bühne und auch in Littells Buch selbst sind es nur Andeutungen, die zu diesem Schluss führen. Dennoch ist es die Übernahme des Bösen in den privaten Bereich, bei dem klar wird, dass es keinerlei moralische Schranken für den SS-Mann mehr gibt. Das schrankenlose Böse macht auch vor der eigenen Familie nicht Halt. Und zu guter Letzt schneidet Max auch seinem besten Freund Thomas noch die Kehle auf, anders als in der Buchvorlage, wo er ihn mit einer Stange erschlägt. Es sei „eine logische Konsequenz“ – wie er dieses, sein eigenes Tun emotionslos kommentiert. Thomas steht ihm mit all dem, was er über ihn weiß, im Weg, um nach dem Krieg in Frankreich ein neues Leben beginnen zu können und trägt in seiner Tasche noch dazu neue Papiere, die sich Max aneignet. Das Leben danach, mit neuer Identität, wird kein glückliches. Dass er dabei mit seiner Frau, die er nicht liebt, abermals ein Zwillingspaar zeugt, kann als leiser Hinweis des beständigen Lebenskreislaufes aufgefasst werden, welcher über Generationen hinweg immer wieder auftritt.

Schreiduelle, mit Musik zur Unkenntlichkeit zerfetzt, Affenhalbmasken, die dem Geschehen noch ein weiteres Stück Surrealität verleihen oder der Heavy-Metal-Song „Mutter“ von Rammstein, dessen Text kurz zuvor Strutzenberger beinahe bittend seiner Schwester vorträgt, sind nichts für schwache Nerven. Aber gerade diese intensiven Theatermomente gestatten es, das Publikum in emotionale Ausnahmezustände zu versetzen. In Situationen, in welchen man sich wünscht, sie mögen doch bald vorbei gehen und in denen man zugleich auch weiß, dass die Situationen des Schreckens im Zweiten Weltkrieg für Millionen von Menschen im realen Leben und nicht auf der Bühne stattfanden und erst mit ihrem Tod endeten. Maurizio Rippa wird am Ende des Stückes nicht mehr singen. Der übergroße Scheinwerfer, den er immer wieder während der Vorstellung ins Publikum richtete und diesem damit den Platz von angeklagten Mitwissern zuwies, strahlt nun ihn selbst von hinten an. Sein Gebrüll hat nichts Anmutiges, nichts Kultiviertes mehr. Der Wahnsinn ist der Musik gewichen. Kultur funktioniert nicht länger als ein lebensverlängerndes und Schuld verdrängendes Hilfsmittel.

Das ist nicht nur kluges Theater, voll von Metaphern, die man entziffern kann, aber nicht zwangsläufig muss. Das ist packendes Theater, das ohne belehrenden Zeigefinger auskommt und dennoch auf so vielen Bedeutungsebenen aufgebaut ist, dass diese gar nicht alle auf einmal erfasst werden können. Ein herausragender Theaterabend mit einer grandiosen Regie und bestmöglicher Besetzung. Dass sich auch daran, wie schon am Buch Littells selbst, die Geister scheiden werden, liegt hauptsächlich an der intellektuellen Herausforderung, die gutes, zeitgenössisches Theater wie dieses an sein Publikum zwangsläufig stellt.

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Wie Mücken im Licht

Wie Mücken im Licht

Wie die Mücken im Licht im Schauspielhaus Wien

Gideon Maoz in dem Stück „Wie die Mücken im Licht“ von Anne Habermehl (© Alexi Pelekanos / Schauspielhaus

Ein kleiner, schmaler Gang – links und rechts davon einige Zuschauerreihen. Aus dem Dunkel tritt ein junger Mann ins Scheinwerferlicht, das sich bald als Sonnenstrahl, der durch das kleine Fenster einer Gefängniszelle fällt, erklärt. Die Verzweiflung über die Einzelhaft ist dem Jungen ins Gesicht geschrieben. Aber trotz aller Erniedrigung ist er einer, der sich für seinen Traum nicht brechen lässt. Gideon Maoz spielt im Nebenhaus des Schauspielhauses im jüngsten Stück von Anne Habermehl einen jungen Mann im „Roten Wien“, der für seinen Traum von der Gleichheit der Menschen ins Gefängnis gesteckt wird. Seine Erzählung, die immer wieder von beinharten Zusammenbrüchen stakkatoartig rhythmisiert ist, macht klar, dass er am Beginn jener historischen Entwicklung steht, in welcher das Jahrtausende alte feudale System der Idee des Sozialismus und des Kommunismus Platz machen musste. Mit Lichtwechsel und einem Soundtrack von Donna Summer schlüpft Maoz in eine zweite Rolle – jener eines Mannes in Prag, der das Ende des Kommunismus miterlebt und eine sehr subjektive Beschreibung dieser letzten Monate gibt. Für ihn bedeutet das Sterben dieser gesellschaftlichen Idee zugleich seinen eigenen Tod – seinen bewussten Tod, den er auch als Protest gegen Kommendes verstanden wissen will. Mit der Interpretation eines wütenden Jungen aus zerrütteten Familienverhältnissen, der mit sich und seiner Wut nichts anzufangen weiß und ein junges Mädchen vergewaltigt und schwer verletzt, schlüpft Maoz an diesem Abend in seine dritte Rolle und keine davon scheint ihm nicht auf den Leib geschrieben. Die Produktion, für welche die junge Autorin auch als Regisseurin verantwortlich zeichnet, hat aber noch viel mehr zu bieten als eine schauspielerische Glanzleistung in einem stimmigen Surrounding.

Anne Habermehl gelingt es mit den drei Monologen den Bogen vom Beginn bis zum absoluten Ende der kommunistischen Idee zu spannen und lässt das Publikum in einem Jetztzustand, der von allen zwar wahrgenommen wird, nicht jedoch gedeutet werden kann. Die Idee der Brüderlichkeit ist längst im Nebel der Geschichte verschwunden, eine neue Idee, die an deren Stelle treten kann, ist nicht in Sicht. Die Geschichte des jungen Mannes in der Jetztzeit macht mehr als deutlich, dass die Vorstellung, dass der Individualismus das höchste Gut von allen sei, eine gänzlich falsche ist. Habermehls brillante szenische Aneinanderreihung von unterschiedlichen Schicksalen aus unterschiedlichen Epochen stellt einmal nicht eine Kapitalismuskritik in den Vordergrund, sondern richtet den Blick vielmehr auf die immanente Geschichtlichkeit jeder Zeit, auch der Unsrigen. Sie deutet an, dass nichts so bleibt, wie es ist – und das ist das einzig Tröstliche an diesem Abend. Auch unser jetziges kapitalistisches System wird einmal Geschichte sein.

„Wie Mücken im Licht“ – so der Titel der Produktion – ist ein weiterer Zustandsbericht unserer gesellschaftlichen Verfasstheit, in der zwar das Alte noch Nachwirkungen auf unser Leben hat, wenngleich die politischen Ideen sich teilweise ad absurdum führten. Der Umbruch ist allgemein spürbar, das Ende des Turbokapitalismus aller Orten bereits greifbar – wie sich aber in Zukunft unsere Gesellschaft neuorientiern kann, darüber spekuliert Habermehl nicht einmal.

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Schauspielhaus Wien
Schauspielhaus bei European Cultural News

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