Tiefschwarzes zum Brüllen

Tiefschwarzes zum Brüllen

Alle hergehört: Wer glaubt, das Schauspielhaus in Wien muss mit ernster Miene betreten und mit noch ernster wieder verlassen werden – der hat die letzte Premiere des Hauses in dieser Saison noch nicht gesehen. Denn da heißt es – wenn es schon gar nicht anders geht, ernst reingehen – aber, und das ist sicher, lachdurchtränkt wieder rauskommen.

Zu verdanken hat das Publikum diese Wandlung dem großartigen, tiefschwarzen, humorvollen Stück (Ich bin wir ihr, ich liebe Äpfel) von Theresia Walser, der auf den Punkt gebrachten Regie von Sebastian Schug und den drei Damen Katja Jung, Franziska Hackl und Nicola Kirsch, sowie Florian von Manteuffel. Sie spielen, was das Zeug hält und unterhalten – auf höchstem Niveau – von der ersten bis zur letzten Minute.

Frau Margot, Frau Leila und Frau Imelda – die drei sich mehr oder weniger honorig benehmenden Damen tragen illustre Vornamen und das nicht ganz zu Unrecht. Sind sie doch die Ehefrauen von Honnecker, Ben Ali und Marcos. Alle drei besser bekannt als Diktatoren ersten Ranges, wenngleich auch unterschiedlicher politischer Couleur. Das macht Walser jedoch rein gar nichts. In ihrem Stück lässt sie die drei ehemaligen Firstladies gemeinsam auf eine Bühne treten, hinter den noch geschlossenen Vorhang, in Begleitung von Gottfried, einem Dolmetscher. Dort warten sie auf ihren Auftritt vor hundert oder Hunderten Journalisten, so genau lässt sich die Zahl nicht eruieren. Leila und Imelda sind imstande, sprachlich miteinander zu kommunizieren, lediglich Margot muss gedolmetscht werden, was aber zu unglaublichen Verstrickungen führt. Fühlt sich doch Gottfried schon bald außerstande, tatsächlich zu übersetzen, was ihm von hüben – Leila und Imelda – und drüben – Margot – so alles zum Übersetzen angeboten wird. Beschimpfungen ohne Ende, aber auch jede Menge unglaublicher Schwachsinn – das geht dem guten Mann auf die Nerven und gegen den Strich. Und so versucht er zwar eine geraume Zeit durch diplomatischen Sprachduktus die bereits hoch aufgerichteten emotionalen Wogen zu glätten, scheitert damit jedoch kläglich.

Einfach große Klasse, wie Manteuffel als zuerst beflissener Übersetzer, dann im Laufe der Zeit aufmüpfiger ehemaliger DDR-Junge und zum Schluss larmoyante, beleidigte Leberwurst vor den drei Damen trotz aller Sprachfinessen letztendlich w.o. geben muss. Zum Schenkelklopfen, wie Katja Jung Imelda, als gealterte Schönheitskönigin mimt. Dabei stopft sie hartgekochte Eier, gesalzene Bananen und Makronen sonder Zahl in sich hinein und richtet ihre spitze Zunge gegen alles und jede, die nicht ihrem Schönheitsideal entsprechen. Zwerchfellerschütternd Nicola Kirschs Darstellung von Leila, die ständig ihr Studium der französischen Literatur betont und sich dabei regelmäßig Imeldas ironische Kommentare abholt. Zwerchfellerschütternd die pantomimische Zurschaustellung ihrer Phobie vor Kakerlaken in Wasserleitungsrohren. Das Publikum wiehert dabei vor Lachen. Gnadenlos, wie Franziska Hackl als Margot Honnecker in ihrer Rolle als oberste Erzieherin der DDR steckenbleibt und permanent Entschuldigungen ihrer beiden schwesterlichen „Amtsinhaberinnen“ einfordert. In ihren Augen Parasiten und Ausbeuter ersten Ranges, ohne dabei die eigene Schuld als Machthaberin in einem diktatorischen System zu erkennen.

So rassig, flockig, rasant und brillant der Text von Walser hier auch auf die Bühne gebracht wird, so ist doch der tiefschwarze Unterton, niemals abwesend. So bleibt doch der ein- oder andere Karlauer ganz tief im Hals stecken. Die Absurdität, die Theresia Walser hinter all dem Klamauk versteckt, bleibt offenkundig. Gerade diese permanente Hochschaubahn zwischen den eigentlich nicht zu begreifenden Selbstüberschätzungscharakteren und den dahinterliegenden Schicksalen ganzer Nationen fesselt von Beginn an. Und bleibt bis zum Schluss attraktiv. Die Lebenslügen, die sich die drei Frauen zusammengebastelt haben und die tatsächlich erlebten Huldigungen wirken lebenslänglich nach. Auch dann noch, als sie sich längst aus ihren Ländern vertrieben und bar jeder Macht im Exil wiederfinden. Walsers Text erhebt nicht den Anspruch, dass jedes Detail tatsächlich historisch belegbar ist. So mischt sie z.B. in Leilas Biographie Versatzstücke unterschiedlicher arabischer Despotinnen. Verblüffend bleibt dennoch, wie sehr sie die Charaktere der Frauen inhalierte, um ihre Verteidigungsstrategien so dermaßen glaubhaft wiedergeben zu können. Bei all dem gelangten ihr dabei jedoch nicht nur sarkastische, psychologische Komprimierungen von machtbesessenen und machtverwöhnten Diktatorengattinen, sondern auch eine bitterböse Charakterisierung jener Mehrheiten, die solche Machtkonstrukte erst möglich machen. Was einem bei all der Trivialität dieser ehemaligen Möchtegern-Elitefrauen in den Sinn kommt, sind jene Gedanken Hannah Arendts, mit denen sie nach den Nürnberger Prozessen die ehemaligen Nazigranden analysierte. Ihre „Banalität des Bösen“ trifft exakt auch auf jene Protagonistinnen zu, die an diesem Abend das Publikum in ihrem Sinne unfreiwillig unterhalten. Sind sie doch in ihrem Desiderat nichts anderes als ganz banale, durchschnittliche ja sogar höchst lächerliche Figuren.

Walser gelingt hier, wie auch in ihrem Stück „Die Liste der letzten Dinge“, das derzeit im Kosmostheater aufgeführt wird, ein scharfer Blick auf unsägliche Frauenschicksale. Sind es in einem Fall zwei unbekannte, alternde Frauen, die sich selbst unbedingt auf einem Scheiterhaufen brennen sehen möchten, und im anderen drei politische Medienstars, scheut sie sich nicht, deren psychologische Untiefen ans Licht zu zerren. Damit erweist sie, wie man vielleicht annehmen möchte, der Frauenbewegung keinen Bärendienst. Ganz im Gegenteil. Das Offenlegen von menschlichen Schwächen, gerade auch im Bereich des weiblichen Geschlechtes, zeigt auf, dass man Heute dies nicht mehr als Tabu ansehen muss, ganz im Gegenteil. Ein offener Umgang mit weiblichen und männlichen Monstrositäten tut gut und befreit Frauen aus einer permanenten ethischen Heroisierung, die dem weiblichen Geschlecht jedoch insgesamt mehr schadet, als nützt.

Eine wunderbare, intelligente Komödie, einer hochbegabten Dramatikerin. Professionell umgesetzt. Bleibt nichts anderes zu wünschen als jede Menge Publikum.

Großes, wirklich großes Theater

Großes, wirklich großes Theater

In dieser Saison hat die Leitung des Schauspielhauses in Wien ein goldenes Händchen für Gastspiele gezeigt. Die Aufführung des Handke Stückes „Immer noch Sturm“ vom Theater an der Ruhr (Mühlheim) die poetischer und eindrucksvoller, glänzend gespielter und nachhaltiger nicht sein hätte können und einen wunderbaren Theaterabend bescherte, wurde nun jedoch noch einmal getoppt. „Ein schöner Hase ist meistens der Einzellne“ lautet das Stück des derzeitigen Hausautors Philipp Weiss. Uraufgeführt wurde es bereits im Dezember in Bregenz vom Projekttheater Vorarlberg und kam jetzt erstmals als Gastspiel in Wien auf die Bühne. Noch bevor über das Stück und seine Inszenierung zu berichten ist, soll vorangestellt werden: Was da gezeigt wurde, war schlichtweg großes, wirklich großes Theater.

Dieses Lob beginnt beim Text, in welchem Weiss die Lebenslinien von Ernst Herbeck und August Walla nachzeichnete. In einem unsentimentalen Ton, meist durch die Stimmen anderer als der beiden Gugging-Bewohner beleuchtet, aber dennoch so treffend und betroffen machend, dass man sich keine bessere Ausgangsbasis für ein Theaterstück wünschen kann. Dabei gelingt Weiss nicht nur die stenographische Nacherzählung zweier Einzelschicksale. Vielmehr richtet er ein Schlaglicht auf die Psychiatrie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in der Elektroschocks, Zwangsjacken und körperliche Züchtigungen der grausamsten Art gang und gäbe waren. Langsam zieht er die Schlinge der allgemeinen Zustandsbeschreibung immer enger, bis sie schließlich niemanden anderen außer Herbeck und Walla mehr umfängt. Einer glücklichen Fügung ausgeliefert, wurden sie schließlich neben anderen Patienten in der Landesnervenheilanstalt Gugging von Primar Leo Navratil in ihren künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten gefördert. Navratil knüpfte dabei an die Erfahrungen seiner Kollegen Walter Morgenthaler aus der Schweiz und Hans Prinzhorn aus Deutschland an, die bereits in den 20er Jahren die sogenannte „zustandsgebundene Kunst“ als Ausdrucksmittel ihrer Patienten entdeckten. Die Grundstimmung, die bis zum Eintritt Navratils (Florentin Groll als Gentlemen-Primar in Anzug und Krawatte) in die Szenerie herrscht, kann am besten als bedrückend wiedergegeben werden. Zwei Pfleger und eine Pflegerin, aber auch der Vater Herbecks (Horst Eder stimmungsvoll als Äpfelsammler in der Landschaft agierend) oder die Mutter Wallas (Sylvia Bra) kommen dabei zu Wort und zeigen auf, welch unglaubliche Repressalien die beiden Männer erleiden mussten. Man versteht bestens, dass der Aufenthalt in der Nervenheilanstalt vor deren Reformierung die psychischen Befindlichkeiten der Patienten nicht bessern, sondern ganz im Gegenteil verschlechtern mussten. Die naturalistische, filmische Aufarbeitung dieser Zeit – mit einem Kunstgriff auf die Bühne projiziert – ist harter Tobak und mutet dem Publikum zu, dort hinzuhören und hinzuschauen, wo für gewöhnlich weggehört und weggeschaut wird. Die unglaubliche Wirkung, welche die Berichte der Pflegerin von August Walla und der beiden Pfleger von Ernst Herbeck auf das Publikum ausübt, wird durch keine zusätzlichen Aktionen auf der Bühne gestört. Maria Hofstätter als Pflegerin des kleinen Walla changiert in ihrer Erinnerung zwischen empathischer Krankenschwester und pflichterfüllter Nazigehilfin. Sebastian Pass und Rafael Schuchter spielen Tennis oder rauchen sinnierend vor Angst einflößenden Backsteingebäuden, während ihre Schreckensgeschichten hörbar werden. Die Tatsache zum Beispiel, dass Herbeck mit Elektroschocks so lange gequält wurde, bis ihm gar nichts anderes mehr übrig blieb als zu verstummen, die Schilderungen von Wallas Betreuerin, dass man dem Buben zur Bestrafung seiner Ausbrüche „ein Speiberl“ verabreichte – eine Tablette, nach welcher er erbrechen musste – sie gehen so tief unter die Haut, dass einem der Atem stockt.

Ein kongenialer Widerpart von Weiss in dieser Produktion ist die Regisseurin und Ausstatterin Susanne Lietzow, die brillantest auf der Klaviatur der multimedialen Bühnenattraktionen spielt. Mit Leichtigkeit erzeugt sie Bühneneffekte, die Zeit und Raum verschränken und gekonnt zwischen Information und Traumgebilden pendeln. Hinter den beiden Hauptdarstellern, die in den ersten Szenen stumm, aber dennoch gewaltig präsent auf der Bühne minimalistische Aktionen setzen, spannen sich zwei durchsichtige Leinwände, auf die Filmeinspielungen projiziert werden. Von den ersten Pflegerberichten, die noch in die Zeit der NS-Diktatur fallen, bis hin zum von Navratil betreuten, neuartigen psychiatrischen Vollzug spannt sich dieser filmisch begleitete Bogen in ultraharten, himmlisch schönen, skurrilen aber durchgehend einprägsamen Bildern. Elektrisierend, wie Navratil, einem Übervater gleich, hinter Herbeck, seinem Schutzbefohlenen, steht, die Lippen unbewegt, die Stimme vom Band eingespielt. Bestechend, wie der im Ersten Weltkrieg schwer Traumatisierte erst nach dem jeweiligen optischen Verschwinden des Primars zu dichten beginnt und Walla, ganz seinem Naturell entsprechend, seinen Arzt inbrünstig als Dieb beschimpft. Ätherisch schön, wie Wallas Mutter sich im Film gotterleuchtet in einer goldenen Aura bewegt, mit einem überdimensionierten Löffel in der Hand, mit dem sie ihrem Sohn jene Herberge in der Schrebergartensiedlung schuf, die ihm zur Keimzelle seiner künstlerischen Arbeiten wurde. Sylvia Bra elektrisiert in dieser Rolle durch die verschrobene, offen zur Schau getragene, gering ausgeprägte Intelligenz von Wallas Mutter, die sich in einer perfekten Jungmädchenkostümierung widerspiegelt.

Die dritte Erfolgssäule des Abends bilden Dietmar Nigsch als August Walla und Peter Badstübner als Ernst Herbeck. Der eine ein gutmütiger, voluminöser Riese in viel zu kurzen Hosen mit breiten Hosenträgern, einer roten Skimütze auf dem Kopf, einer roten Damenhandtasche in der Hand und in Besitz einer kleinen Trompete, die ihm gute Dienste leistet. Der andere verschroben staksig in seinem viel zu großen Anzug steckend, den rechten Arm wie gelähmt an den Körper geschmiegt und durch eine Brille die Welt außer sich doch nicht erblickend. Wer den Vergleich mit Bildern von Walla und Herbeck heranzieht, kann ermessen, wie kongenial diese Besetzung gelungen ist. Nigsch gelingt das Kunststück, seine massige Erscheinung so kindlich naiv in Szene zu setzen, dass ihm die Herzen automatisch zufliegen müssen. Badstübner hingegen besticht durch seine spastischen Körperbewegungen und seinen introvertierten Blick, der sich nur dann zu Grimassen verzieht, wenn er die Reaktionen der Außenwelt nicht mehr unter Kontrolle hat.

Begleitet wird das Drama zu Beginn von berauschend schöner symphonischer Musik, die ihre wahre emotionale Kraft aber erst durch Kompositionen von Arvo Pärt entfaltet. Diese scheinbar so einfach aufgebaute Musik berührt und unterstreicht das Wesen von Herbeck und Walla auf ganz subtile Art und Weise. Den Höhepunkt des Abends – die seelische und künstlerische Entfaltung der beiden Patienten unterstreicht die Regisseurin durch die Projektion von Walla-Bildern, aber zugleich auch durch das Ende ihrer Stummheit. Die Kunstsprache, die Walla zelebrierte – um diese Sprache beneiden ihn Schriftsteller sonder Zahl, ganz abgesehen von den Bewunderern seiner Bilder. Nigsch poltert und holpert Wallas Sprachergüsse, dass man nicht genug davon bekommen kann. Die Lyrik, der sich Herbeck bedient und die in mehreren Büchern nachzulesen ist, geriert sich so zart und ausdrucksstark zugleich, so verblüffend einfach und tiefgründig, dass es manches Mal schwerfällt, eine psychische Erkrankung als Auslöser dieser Kreativität anzuerkennen.

Philipp Weiss hält jedoch nicht inne und schraubt seine Geschichte weiter. Er lässt nicht nach, nicht in jenem beinahe selig zu nennenden Zustand des kreativen Höhepunktes, der zugleich auch eine Öffnung zur Kunstwelt hin bedeutete. Er verleiht auch noch jenen eine Stimme, die den „Verrückten“ ihre Sonderbegabungen absprechen wollten – bis hin zum mantraartig immer wieder und wieder hervorgebrachten Argument, dass auch ein kleines Kind imstande wäre, Bilder wie jene von Walla zu malen. Die Zurschaustellung dieser beiden Männer, ihr Einbringen in den Kunst- und Literaturbetrieb, durch das sie schließlich zu immenser Öffentlichkeit gelangten, kulminiert bei Weiss mit einer absurden Szene in einer Theaterloge. Dort beginnen sie, mit Hasenmasken auf dem Kopf verfremdet, in einer ihnen vollkommen fremden Umgebung die Menschen, die ihnen akklamieren, zu fürchten. „Es werden die Künstler wie Semmeln gebacken. Preis: 6 Groschen“, stellt Herbeck dabei noch unglaublich scharfsinnig fest. Dass Herbeck und Walla trotz all des Trubels um sie herum dennoch in ihrer, ihnen eigenen Welt verblieben, zeigt das wunderbare, poetische Schlussbild, in welchem Walla mit einem Flügelapparat und einer mit vielen Lampen bestückten, leuchtenden Sternenkrone auftritt.

Die Produktion „Ein schöner Hase ist meistens der Einzellne“ – ein Herbeck-Zitat aus einem seiner Gedichte – stellt eine Sternstunde am zeitgenössischen österreichischenTheater dar. Aufklärend, ohne jemals die didaktische Keule zu schwingen, berührend, ohne nach Mitleid zu heischen und entrückend in jenen Szenen, in welchen man in die blühende Fantasie von August Walla eintauchen darf. Eine Nominierung zu einem renommierten Theaterpreis ist noch das Mindeste, was man erwarten darf. Sollte es preisgekrönt werden, würde dies keinesfalls überraschen.

Brasilien liegt im Neunten

Brasilien liegt im Neunten

Über das genaue Datum sind sich die Fachleute nicht einig. War es der 22. oder der 23. Februar an welchem Stefan Zweig und seine Frau 1942 in Petropolis, ungefähr 50 km von Rio de Janeiro entfernt, Selbstmord begingen? Sein Abschiedsbrief ist mit 22. datiert. Darin hoffte er, dass seine Freunde nach der langen Nacht noch die Morgenröte sehen mögen. Seine Kräfte seien nach langen Jahren heimatlosen Wanderns erschöpft und seine Ungeduld zu groß.

Die Welt von Gestern

Sabina Holzer und Jack Hauser (Foto: Schauspielhaus Wien)

Der dritte Teil der fünfteiligen Stefan-Zweig-Serie des Schauspielhauses Wien führt geradewegs in diese letzten Lebensmomente und in das Sterbezimmer des Schriftstellers. In dieser Produktion liegt es jedoch zu Fuß nur ca. 10 Gehminuten entfernt vom Haus in der Porzellangasse. Sabina Holzer und Jack Hauser, die diese Folge als Performer bestreiten, gehen mit dem Publikum vom Nebenhaus des Schauspielhauses durch die Nacht – auf kleinen Umwegen – wie man zuvor noch erfährt, an einen noch nicht näher genannten Ort. Vorbei am Sigmund Freud Museum, dessen Namensgeber Zweig als einen seiner wichtigsten Freunde titulierte, geht es links von der Berggasse ab in die Wasagasse, bis hin zum Gymnasium, an dessen Außenmauer, links und rechts vom Eingang, jene Tafeln prangen, mit denen sich die Schule öffentlichkeitswirksam schmückt. Es sind Memorabilien an jene Schüler, aus denen „etwas geworden“ ist. Neben Friedrich Torberg liest man die Namen von Erich Fried, Marcel Prawy und Stefan Zweig. Ob Letzterer darüber erfreut gewesen wäre, darüber lässt sich streiten, beschreibt er doch in einem ganzen Kapitel seiner Biographie „Die Welt von Gestern“, wie sehr er die Schule gehasst hatte und sie als Knebelung des Erwachsenwerdens empfand.

Von all dem erfährt das kleine Grüppchen unerschrockener Theatergängerinnen und Theatergänger aber nichts, wurde ihm doch zuvor aufgetragen, den Weg so still wie möglich zu beschreiten. Und sich dabei vorzustellen, die Stadt nicht zu kennen, fremd hier zu sein und einen fremden Blick aufzusetzen. Was sich für viele als gar nicht leichte Übung herausstellte. Ein tatsächliches Gefühl der Befremdung stellte sich dann aber doch ein. Beim Eintritt ins Haus Währinger Straße 12. Dort ging es im Gänsemarsch hinauf in den ersten Stock, das Hochparterre und das Mezannin mitgerechnet in den „gefühlten“ 3. Stock, in welchem sich die Hotel-Pension Baron befindet. Das Logo wirkt wie die weibliche Ausführung des Werbesujets einer alteingesessenen Wiener Kaufmannsfamilie, deren jüngster Spross durch waghalsige Bankgeschäfte in den Fokus der Justiz geraten ist. Mit dunklem Holz vertäfelt nimmt ein kleiner Empfangsraum, bestückt mit großen, schweren Samtsofas und ebensolchen Fauteuils, die nun neugierig gewordene Menschengruppe auf. An der einen Seite zeigen polierte Messingnummern den Zutritt zu einzelnen Hotelzimmern an, eine schwere Holztreppe mit gediegenem Handlauf führt in eine höhere Etage. Durch eine kleine Türe und einen engen Gang geht es schließlich weiter in das – wie an den Buffetaufbauten und -utensilien unschwer zu erkennen ist – Frühstückszimmer. Nur die Tische fehlen. An zwei Wänden je eine Stuhlreihe auf der sich das Publikum etwas ausruhen und die zweite Tanzperformance von Sabina Holzer betrachten kann. Zu harten E-Gittarrenklängen von Jack Hauser formt sie einen Tanz, der sie immer wieder ganz abrupt zusammenbrechen aber auch rasch immer wieder aufstehen lässt. Schon im Nebenhaus des Schauspielhauses, kurz vor dem kleinen Marsch in die Nacht, hat Holzer getanzt. Dort aber zu unhörbaren Klängen. Aber schon dort war ihr Tanz aus irgendwie aus dem Gleichgewicht geraten. Die Erde unter ihren Füßen scheint sie nicht immer tragen zu wollen, die Kraft, die sie fürs Tanzen benötigt, scheint nicht mehr ganz auszureichen. Im Hotel Baron ist nicht gleich klar, dass sich die Räume, in denen nun das Geschehen seinen Lauf nimmt, Behausungen darstellen werden, die Stefan Zweig in seinem letzten Lebensabschnitt in Brasilien bewohnte. Damals war nichts mehr, wie es am Beginn seines Lebens noch gewesen ist. Das Kaiserreich nach dem Ersten Weltkrieg aufgelöst, die Zwischenkriegswirren und einsetzende Nazifizierung sowie der Beginn des Zweiten Weltkrieges – all das hat Stefan Zweig erlebt und aufgrund seiner Verfolgung, in den Tiefen seiner Seele erschüttert. Hier nun in der Währinger Straße – nein – hier nun in Brasilien ist er angekommen. Das letzte Kapitel in seinem Leben ist aufgeschlagen. „Umwege auf dem Weg zu mir selbst“ so heißt das 8. Kapitel in Zweigs Biographie. Aber so nennt sich auch dieser dritte Theaterabend aus der Serie „Die Welt von Gestern“, die den Spuren des Autors bis ins Hier und Heute folgt.

Nach der tänzerischen Einstimmung, die dem Publikum nur eine Aufgabe stellt, nämlich sich gefühlsmäßig auf den Ort und die Stimmung von Holzer und Hauser einzulassen, werden die Besucherinnen und Besucher in zwei Gruppen geteilt. Jede von ihnen wird in eines der beiden angrenzenden Hotelzimmer geleitet und erlebt dort wiederum einen ganz bestimmten Zweig´schen Lebensabschnitt. Beengt sitzt und steht man in den kleinen Hotelzimmern. Im ersten haben es sich Hauser und Holzer auf dem Bett bequem gemacht und beginnen aus Textpassagen von Vilém Flusser und Stefan Zweig zu lesen. Es geht um Heimat und Exil und rasch folgen einzelne Personen aus dem Publikum der Aufforderung, sich in diese Thematik persönlich einzubringen. Jetzt ist der Bann gebrochen, aus dem Zur-Schau-Stellen, dem Schau-Spielen ist ein Dialog geworden. Die Situation von Flüchtlingen wird zur Sprache gebracht, aber es wird auch über Menschen in anderen lebensbedrohlichen Situationen gesprochen in welchen sie sich nicht mehr in ihrem Körper zuhause fühlen. Und dennoch ist es schwer, sich ein Exil in seiner ganzen Tragweite tatsächlich vorzustellen. Internet sei Dank. Ein Klopfen an der Zimmertüre beendet die Session und es wird in das zweite Zimmer gewechselt.

Einzeln nur werden hier die Personen eingelassen, nachdem die Reihenfolge zuvor direktiv ausgesucht worden waren. So ist es also, das Warten auf etwas, von dem man nicht weiß, was einen erwartet. Das Warten in einer Situation, die keine Selbstbestimmung zulässt. In dem kleinen Hotelzimmer ist es stickig. Die Sträuße mit dunkelroten Rosen, die überall verteilt sind, verströmen einen starken Verwesungsgeruch. Es wird auf den zugeteilten Orten Platz genommen. Auf Sesseln, Hockern und auf dem Bett, auf dem es scheint, als ob jemand zuvor geschlafen habe. Auf Knopfdruck wird ein Video abgespielt und auf dem kleinen Fernsehbildschirm sichtbar. Darin folgt eine Handkamera Sabina Holzer, die in einen schwarzen Bodysuit gekleidet auch eine schwarze Haube auf dem Kopf trägt aus der nur die Augen ausgeschnitten sind. Im Minutentakt nimmt die Beklemmung vor dem Bildschirm zu, geht Holzer doch genau jenen Weg, den das Publikum zuvor auch in das Hotel und das Zimmer gegangen ist. Der einzige Unterschied zur real-life-Situation ist, dass sich im Film im Bett zwei Menschen befinden. Zwei Männer, die augenscheinlich schlafen. Der eine auf dem Rücken, der andere seitlich an diesen geschmiegt. Und damit wird es klar. Was hier gezeigt wird, ist die Nachstellung jenes dokumentarisch aufgenommenen Bildes, das Zweig nach seinem Suizid mit seiner Frau tot in ihrem Bett zeigt. Hier muss man präzisieren: Es ist eines jener zwei überlieferten Bilder, die Stefan Zweig und seine Frau auf ihrem Totenbett zeigen. Nur geringfügig unterscheiden sie sich voneinander. Auf einem schmiegt sich Zweigs Frau an dessen Seite, auf dem anderen hat sie ihren linken Arm innig über die Brust ihres Mann gelegt. Holzer nimmt im Film vorsichtig den linken Arm des Mannes, der die Position von Zweigs Frau eingenommen hat und verändert ihn so, wie es auf dem zweiten Foto zu sehen ist. Dann verlässt sie den Raum und legt die beiden Fotos, die sie für die Veränderung noch einmal inspizierte, auf einen kleinen Tisch. Warum es zur Veränderung der Platzierung der Extremitäten von Zweigs Frau Lotte bei der Aufnahme des Fotos kam, wird nicht weiter erklärt. Auch nicht, welche Position denn nun jene gewesen ist, in der die Hausangestellten das Ehepaar tot aufgefunden haben. Mutmaßungen könnten zwischen einer drastischer dargestellten Liebesbekundung und einer besseren Sichtbarkeit des Literaten ohne die Körperdecke seiner Frau schwanken. Aber sie werden an diesem Abend nicht gestellt. Das Geheimnis bleibt als solches in der Figur der schwarz gekleideten und unerkannt bleiben wollenden Sabina Holzer aufrecht.

Die Flucht, die Unruhe, das Exil hat seine Spuren hinterlassen. Das Gefühl, dem Krieg und dem Naziterror nicht entkommen zu sein – Zweig hat wenige Tage vor seinem Tod noch die Torpedierung von brasilianischen Unterseeboten durch die Deutschen mitereleben müssen – dieses Gefühl lässt sich in diesem Moment in der Währinger Straße im neunten Wiener Gemeindebezirk zumindest erahnen.

Es herrscht allgemeines Aufatmen, als das Zimmer verlassen werden darf und gemeinsam im Frühstücksraum mit einem Glas Sekt angestoßen wird. „Zum Wohl“ wünscht man sich dabei und ist an den Titel des Romans von Johannes Mario Simmel erinnert: „Hurra wir leben noch“. Wie spürt man dem Ende eines Lebens nach? Ist es möglich, Stefan Zweigs Situation in Brasilien kurz vor seinem Tod auch nur im Ansatz nachvollziehbar zu machen?

Sabina Holzer und Jack Hauser ist es unter der klugen Regie von Anne Habermehl gelungen, mit wenig theatralischem Einsatz ein Maximum an Gefühlen und Assoziationen beim Publikum hervorzurufen. Es ist ihnen gelungen, das Todesphänomen des Ehepaares nicht als reißerisches Nachspiel zu inszenieren sondern dem Publikum gedanklich das Seine zu überlassen, um die Tragik nicht in ein geschauspielertes Mäntelchen einzuhüllen zu müssen. Ein bewegter, für manche vielleicht auch bewegender und zugleich sehr ruhiger Theaterabend, der aufzeigt, dass es immer wieder Möglichkeiten gibt, Theater neu zu denken.

Es ist nicht aller Tage Abend

Es ist nicht aller Tage Abend

Bereits zum zweiten Mal in dieser Saison präsentiert das Schauspielhaus in Wien ein Stück, in dem die Frage „was wäre wenn“ sich in mehrfacher Weise stellt. War es im Dezember die Uraufführung des Stückes „Konstellationen“ von Nick Payne, in welcher der Frage nachgegangen wurde, wie viele unterschiedliche Lebensweisen ein Liebespaar leben könnte, so konfrontiert mit der neuen Produktion „Aller Tage Abend“ die mit Literaturpreisen hoch dekorierte Autorin Jenny Erpenbeck das Publikum mit insgesamt gleich fünf unterschiedlichen Toden auch nur einer einzigen Frau.

Aller Tage Abend im Schauspielhaus Wien

Katja Jung, Katharina Klar, Florian von Manteuffel. (Foto: © Alexi Pelekanos / Schauspielhaus)

Der Roman wurde von Andreas Jungwirth in Zusammenarbeit mit Felicitas Brucker für das Schauspielhaus dramtisiert. Erpenbeck schafft die Todeskaskade, indem sie die unterschiedlichen Sterbemomente chronologisch ansetzt. Beginnend bei einem Säugling, der nur wenige Wochen alt ist und endend mit einer greisen und dementen Schriftstellerin im Altersheim. Nach jedem einzelnen Tod stellen sich die Beteiligten die Frage, was denn gewesen wäre, hätte sich auch nur ein Parameter, der zum Tode führte, anders gestaltet. Was wäre gewesen wenn die Eltern, durch einen Geistesblitz gesegnet, dem Kind, das aufgehört hatte zu atmen, noch im rechten Moment Schnee auf der Brust verrieben hätten? Wenn das erschossene, 17jährige, vom Krieg und Hunger zermürbte Mädchen nur fünf Minuten später an jenem Ort gewesen wäre, an dem sie einem Verrückter zum Opfer fiel? Was, wenn die stalinistische Bürokratie die Entscheidung über Leben und Tod der Journalistin anders getroffen hätte oder was, wenn ein wenig mehr Achtsamkeit den tödlichen Treppensturz der anerkannten Autorin verhindern hätte können? Einzig die Frage nach dem natürlichen Alterstod wird nicht mehr gestellt. Er kommt zu einem Zeitpunkt, wo der Sohn bereits erwachsen und so selbstreflektiv unterwegs ist, dass ihn zwar die Trauer überfällt, nicht aber überhandnehmen muss. „Er wird so weinen, wie er noch niemals geweint hat, und dennoch wird er sich, während ihm der Rotz aus der Nase läuft, und er seine eigenen Tränen verschluckt, fragen, ob diese merkwürdigen Laute und Krämpfe wirklich alles sind, was dem Menschen gegeben ist, um zu trauern.“ Alle anderen Sterbevarianten jedoch haben Auswirkungen weit über den Tod der besagten namenlosen Frau hinaus.

Beginnend im Jahre 1902 spannt Erpenbeck mit ihrem fiktiven Frauenleben den Bogen des 20. Jahrhunderts bis in unsere Tage und beeindruckt dabei vor allem durch tiefgründige Sätze, die ohne Weiteres in jeden Zitatenschatz aufgenommen werden könnten. „Am Ende eines Tages, an dem gestorben wurde, ist noch längst nicht aller Tage Abend“ oder „Mir war im Leben immer das Leben dazwischengekommen“ – diese Aussagen sind mit einer Allgemeingültigkeit ausgestattet, die weitab vom dramatischen Geschehen der Inszenierung angesiedelt sind. In der stringenten Regie von Felicitas Brucker, die es schafft, trotz all der dramatischen Abgänge die Figuren sentimentalfrei zu behandeln, spult sich vor den Augen des Publikums ein dichtes Frauenleben über drei Generationen ab. Nicht geschützt in einer Örtlichkeit wie bei Manns Buddenbrooks, sondern verteilt auf ganz Europa, wird die Geschichte erzählt. Beginnend von einem kleinen Ort in Galizien, über eine Zwischenstation in Wien und sogar New York bis hin nach Moskau und Berlin lässt die Autorin die Lebenslinien dieser Frau und ihrer Familie nachzeichnen. Dabei ergibt sich wie von selbst der Blick auf ein historisches Europa, vom kleinsten jüdischen Städel – in dem zu Beginn des Jahrhunderts der Judenhass seine ersten Opfer fordert – bis hin in die Hauptstadt Berlin der damaligen DDR. Die höchste Dramatik ereignet sich jedoch gleich am Anfang des Stückes. Der Kindstod reißt die Eltern aus ihrem Leben und schließlich auch auseinander. Bei allem, was sich danach noch an Tragik ereignen wird, sind die seelischen Schmerzen, gemessen an diesem Ereignis, relativiert. Der Abend erscheint wie ein Schnelldurchlauf von rund einhundert Jahren mit Blitzlichtern in politische und soziale Zustände, die weitreichende Folgen hatten. Die Missachtung und Vernichtung jüdischer Mitmenschen, die sexuelle Prüderie der Jahrhundertwende, die zu versteckter Prostitution nötigte, die Hungersnöte nach dem Ersten Weltkrieg in Wien, das Aufkommen von kommunistischen Strömungen – all das behandelt Erpenbeck mit dem Blick auf das K.und K. Reich bzw. Wien. Danach schwenkt sie nach Russland und zeigt in einem beeindruckenden Solo von Katja Jung die Schizophrenie des stalinistischen Regimes auf, in welchem die Herrschaft über Leben und Tod längst nicht nur an Verfehlungen dingfest gemacht wurde. Selbst die Saturiertheit einer anerkannten Autorin in Ostberlin bleibt in deren Leben nicht bis zu dessen Ende bestehen. Der Wandel als ständiges Kontinuum und die Zerrissenheit des Individuums vor dem Spiegel der politischen Bühne werden von Erpenbeck als Fixgrößen behandelt, mit denen der einzelne Mensch schwer umgehen kann. Franziska Hackl, Steffen Höld, Katja Jung, Katharina Klar, Florian Manteuffel und Johanna Tomek schlüpfen bis auf Letztere alle in mehrere Rollen, um das Familienuniversum aber auch das gesellschaftliche Umfeld darzustellen. Michael Zerz schuf mit verschiebbaren kleinen Räumen ein pointiertes Bühnenbild, das sich jeder räumlichen Veränderung adäquat anpassen konnte. So gibt es zu Beginn die Enge der kleinen Wohnung wieder in der Mutter und Tochter aufwachsen. Es zeigt die Behausung in Wien nicht viel größer, wenngleich mit einer anderen menschlichen Wärme gefüllt, friert in der russischen Umgebung zu einem ständig einsichtbaren, eisigen Gehäuse, in dem es in den 50er Jahren keine Privatheit erlaubte. Es generiert sich großzügig als aparte Villa der gefeierten DDR-Autorin und entpersonalisiert sich im letzten Aufenthaltsort, dem Altersheim, in welcher der alten Dame nicht mehr als ein Drehstuhl bleibt. Der Verlust der verständlichen Sprache, der sich am Lebensende bei ihr einstellt, auch er ist kein Einzelschicksal. Dabei grenzt es fast an Ironie, dass sie nur im letzten Akt erstmals mit ihrem Namen – Frau Hoffmann – angesprochen wird.

Die Stärke von Erpenbecks Werk liegt einerseits in der Individualität ihrer Figuren. Andererseits aber in der Allgemeingültigkeit der politischen Verfasstheiten während der unterschiedlichen Zeiten und in den unterschiedlichen Staatsgebilden, die auf Millionen von Menschen im 20. Jahrhundert ihre Wirkung ausübten.

„Aller Tage Abend“ fügt sich passgenau in das derzeitige Saisonprogramm des Schauspielhauses ein, das sich zur Aufgabe gestellt hat, das Erinnerungsjahr 1914 in vielerlei Hinsicht historisch aber auch bis in unsere Tage hin auszuleuchten. Ein interessanter Abend mit einer Österreich-Deutschland-Achse, die sich nicht nur aus dem Text ergibt, sondern sich auch in der Besetzungsliste zeigt.

„Jawohl, mein Vater!“

„Jawohl, mein Vater!“

Die schwere Last der kindlichen Prägung


In einer kleinen Gruppe, wohl behütet von Laternenträgerinnen und -trägern begleitet, wandert das Schauspielhauspublikum nächtens von der Porzellangasse über die Liechtensteinstraße und Strudlhofstiege hin zum Arne-Carlsson-Park. Tim Breyvogel, der junge, deutsche Schauspieler, der an diesem Abend „Ulrich“ spielen wird, ist bemüht, den Spaziergängerinnen und Spaziergängern ein Wanderlied zu entlocken. „Kein schöner Land“ sollen sie singen und sich des alten Wanderbrauches wieder bewusst werden, bei dem man fröhliche Lieder angestimmt hätte, der aber leider schon ausgestorben sei. Und tatsächlich gibt es einige, die mit ihm die Melodie anstimmen, nicht wissend oder schon vergessen habend, dass es sich dabei um eines jener Lieder handelte, das sich gerade zur Zeit des Nationalsozialismus größter Beliebtheit erfreute. Wer musikhistorisch etwas bewandert ist weiß, dass dies eines jener Lieder war, das in der Romantik zu Beginn des 19. Jahrhunderts gedichtet und vertont worden war, dann wieder durch die Wandervogelbewegung in den 10er Jahren des 20. Jahrhunderts zu neuem Leben erweckt und schließlich in der Zeit des Nationalsozialismus mit hinterhältigem Heimatkolorit versehen wurde. „Tot sind unsre Lieder, unsre alten Lieder. Lehrer haben sie zerbissen, Kurzbehoste sie verklampft, braune Horden totgeschrien, Stiefel in den Dreck gestampft.“ – So brachte der deutsche Liedermacher Franz Josef Degenhardt seinen Unmut über die Vereinnahmung deutschen Liedgutes durch die Nationalsozialisten in literarischer Reimform zum Ausdruck. An diesem Abend, an dem es raschen Schrittes zu einem unbekannten Spielort geht, ist die Historie dieses Liedes wohl nur einigen wenigen präsent. Erste Zweifel an der Redlichkeit Ulrichs kommen aber prompt auf – schon beim Eingang in den ehemaligen Luftschutzkeller, der sich im Park befindet. Dort nämlich verteilt er ein kleines Pamphlet, in welchem deutlich wird, wer zu rechtschaffenen Menschen gehört und wer nicht. Und – was noch schlimmer anmutet – er verteidigt bei der Ausgabe der kleinen Zettelchen die Parolen jenes norwegischen Mörders, den sich die Autorin dieser Zeilen beharrlich weigert namentlich zu nennen, um seine Fama nicht noch weiter zu verbreiten. 77 Menschen hat dieser Mann auf dem Gewissen und wenngleich verurteilt und eingesperrt, feiern seine Gedanken fröhliche Urstände. Auch Ulrich scheint von seinem Gedankengut beseelt und scheut sich nicht, wie man noch sehen wird, dieses vehement verbal noch zu verteidigen.

Bis es aber so weit ist, wird man noch Zeuge einer Begegnung zwischen den Generationen, denen es nicht gelingt, direkt miteinander zu kommunizieren, die aber dennoch durch ein starkes, unsichtbares familiäres Band miteinander unsäglich verknüpft sind. Michael Gempart spielt in der 2. Folge „Die Welt der Sicherheit“ im Zyklus „Die Welt von Gestern“ nach Stefan Zweig des Schauspielhauses Wien „Erwin“, einen 100jährigen Mann, der sein Gedächtnis nur bis ins Jahr 1944 abrufen kann. An den Rollstuhl gefesselt, breitet er im kalten Luftschutzkellergang, in dem sich das Publikum an langen Bänken gegenübersitzt, seine Erinnerungen aus, die in die Kaiserzeit zurückreichen. Sein Vater, Hofzeremonienmeister, und seine Mutter hatten sich bei Kriegsende beide erhängt. Mit der langen, goldenen Vorhangkordel des Hofzeremonienmeisterdienstzimmers. Wissend, dass ihre Daseinsberechtigung nicht mehr gegeben war. „Ein kleiner Wicht“ sei er damals gewesen, erinnert sich der alte Erwin, „ein kleiner Wicht“ der fürderhin von seinem Onkel, einem Posamentierer – auch das ein Beruf, von dem es nur mehr einige wenige Ausübende im deutschsprachigen Raum mehr gibt – aufgezogen wurde. Das Monarchische aber, die Liebe zum Kaiser, blieb ihm zeitlebens in seine Blutbahn eingeschrieben und so wundert es nicht, dass er schließlich einer jener Aktiven war, die sich in der Burschenschaft „Carolina“ für die Wiedererrichtung der Monarchie engagierten.

Philipp Weiss, der in dieser Saison Hausautor am Schauspielhaus ist, schuf in Anlehnung an die wahre Begebenheit rund um die Vereinigung „ CV Ottonia“, die von Erwin Drahowzal von Allsperg, Oskar Kozurik und Karl Burian gegründet worden war, eine Figur namens Erwin Kutschera, der sich eine gefühlte Ewigkeit lang vor den Nazis in einem Keller versteckt halten musste, schließlich aber doch entdeckt und so misshandelt worden war, dass er seine Beine nicht mehr gebrauchen konnte. Rosa, seine Schwägerin, kümmerte sich um den jungen Mann, brachte ihm zu essen und verliebte sich unglücklicherweise in ihn. Das aus dieser Verbindung stammende Kind – ein Großelternteil von Ulrich – musste ohne Mutter aufwachsen. Sie war von ihrem Mann, einem „aufrechten Nazi“ nach der Geburt ihres Kindes erschlagen worden. Weiss lässt bereits in dieser frühen Geschichtsphase des 20. Jahrhunderts die beiden ungleichen Brüder aufeinanderprallen und den Samen der zukünftigen Auseinandersetzungen spontan sprießen. Gewalt pflanzt Gewalt – und so steht an letzter Stelle in der Familie jener Ulrich, der wiederum von seinem Vater zum Geburtstag eine Mauser erhält, zu Weihnachten einen Kampfanzug, um an den Übungen der Wehrsportgruppe teilnehmen zu können und ganz nebenbei die Gehirnwäsche mit rechter Gesinnung, für die er bereit ist, Gewalt anzuwenden, sogar gegen sein eigen Fleisch und Blut. Was sich im radikal gekürzten Überblick so schlüssig liest, eröffnet sich dem Publikum nur nach und nach. Die Sprache, die Weiss für sein Drama verwendet ist direkt, aber karg. Lesen, Hören und Kombinieren muss man zwischen den Zeilen. Die Idee, dass Rechtsextremismus sich über Generationen fortsetzt, also quasi mit der Muttermilch aufgesogen wird, klingt zwar stimmig, kann aber nicht 1:1 als Erklärungsmatritze für dieses heutige Phänomen herangezogen werden.

Der Abend lebt aber nicht nur von dieser sich langsam aufbauenden Spannung, sondern vor allem von der schauspielerischen Leistung von Michael Gempart. Bereits im ersten Teil der fünfteiligen Serie beeindruckte er mit der Darstellung eines Dementen, im Luftschutzkeller wird er nicht nur zum hilflosen Krüppel, der durch ein Trauma seine Erinnerung verloren hat, sondern ganz zum Schluss noch zum Helden. Trotz der grausamen Behandlung durch seinen Urenkel, der sich noch nach drei Generationen voller Wut über die Unbeugsamkeit seines Urgroßvaters gegenüber den Nationalsozialisten an ihm rächt, ist doch er es, der Milde walten lässt und dem jungen Menschen Hilfe angedeihen lassen möchte.

Anne Habermehl, die in dieser Produktion die Regie führte, hat ganze Arbeit geleistet. Es gibt wohl kaum schwieriger zu bespielende Orte als den Gang eines Luftschutzkellers – dennoch ist es ihr gelungen, die beiden Protagonisten sowohl sicht- als auch hörbar agieren zu lassen. Das subtile Drama, das durch die Familiengeschichte von Erwin und Ulrich ein ganzes Jahrhundert umspannt, macht besonders jene betroffen, die im Hier und Jetzt muslimische Familienmitglieder haben. Weiss ist nicht der erste und einzige, der die Zeichen der Zeit an der Wand benennt und seine jugendliche Hauptfigur im Hass gegen Moslems suhlen lässt. Bei aller Vergangenheitsbewältigung sollte ein Abend wie dieser dazu genutzt werden alles nur erdenklich Mögliche zu unternehmen, um dieser xenophoben und menschenverachtenden Gedankenwelt vehement entgegenzutreten – wo immer es einem persönlich auch nur möglich ist.

Links:

Schauspielhaus
Die Welt von Gestern – Teil 1

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