Niemals vergessen ist ein frommer Wunsch

Niemals vergessen ist ein frommer Wunsch

Der Großvater hat sie ihm geschenkt. Er trug sie, bis sie ihm entrissen wurde. Von einem Mann, der ebenfalls Großvater war und sie an seinen Enkel verschenkte. Dieser verschenkt sie schlussendlich an seinen Schergen, bevor er hingerichtet wird. Eine Armbanduhr wird im Stück „Morsch“ von Jérôme Junod zum Symbol eines ewigen Kreislaufs um Gewalt, Vergessen und abermalige Gewalt. Junod, in Lausanne geboren und nach einer Ausbildung zum Pianisten und Studium der Philosophie, Geschichte und Indologie auch Absolvent des Max Reinhardt Seminars, ist eine Vielfachbegabung. Nach „Jetzt Aber – Postdemokratische Variationen“, die er vor drei Jahren im Salon5 zur Aufführung brachte, ist nun ein weiteres Stück von ihm in Wien zu sehen.

Der Salon5 präsentierte im Theater Nestroyhof / Hamakom mit „Morsch“ ein Stück, in dem 3 Leute insgesamt 14 Charaktere spielen, die zu verschiedenen Zeiten lebten. Auch wenn sich dies ein wenig verwirrend anhören mag, so gibt es doch keine Schwierigkeiten, dem Erzählfluss zu folgen. Junods Geschichte beginnt im Keller eines Gefängnisses. Dort haben sich zwei Männer versteckt. Maier und Luchs. Sie warten auf die Befreiung und halten sich gegenseitig mit Erzählungen bei Laune. Maier, der Ängstliche, der zu Beginn überhaupt keine Ahnung von den Geschehnissen um ihn herum hat, beginnt langsam zu begreifen, wo Gut und Böse zuhause sind. Luchs hingegen benimmt sich ganz so, wie man es auch seinem tierischen Namensvetter nachsagt. Gerissen und schlau.
In einem zweiten Szenario verfolgt man eine Durchschnittsfamilie in den 50er Jahren beim Mittagessen. Vater, Mutter, Kind. Sie unterhalten sich unter anderem auch über ihren Nachbarn, den Maier, der angeblich ein Buch schreibt. In den 70er Jahren spielen jene köstlichen Szenen, in welchen sich eine Expertenrunde über ein Buch von Maier unterhält. Dabei tut die Protagonistin und die beiden Männer das,  was in den 70ern en vogue war – nämlich rauchen und auf hohem, intellektuellem Niveau streiten. In einer vierten Szene treffen sich drei Jugendliche auf einem Spielplatz und unterhalten sich über ihren ätzenden Geschichtslehrer, der ihnen ein Buch aufs Auge gedrückt hat. Von einem Autor namens Maier – „voll morsch ist das“, ist ihre einhellige Meinung. Und da es schwierig zu lesen ist, lassen sie es lieber gleich ganz bleiben. In der letzten Szene, die an die allererste des Abends anknüpft, sitzt das Mädchen aus den 50er Jahren als alte Frau neben einem Mann. Sie warten darauf, dass man sie hinrichtet.

Es ist starker Tobak, den Junod dem Publikum vorsetzt. Allerdings verpackt er ihn so, dass das Grauen, das dem Stück innewohnt, in homöopathischen Dosen erst nach und nach verteilt wird. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts mit der Nazidiktatur, der Schwierigkeit, diese aufzuarbeiten, und das Vergessen um die Vorkommnisse des Zweiten Weltkrieges, das bei den jungen Leuten aktuell um sich greift, verknüpft er mit einer düsteren Zukunftsaussicht. Eine Aussicht, die alles andere als ermutigend ist, denn Ausgrenzung bis hin zur Ausrottung stehen laut Junod schon bald wieder auf dem Programm. Die Parole „niemals vergessen“, ist für die Jugendlichen in seinem Stück nicht mehr, als ein lächerliches Statement eines alten, ungeliebten Geschichtelehrers.

Morsch (3. Generation), Cerha, Schwanda, Klar, (c) Andrea Klem

Morsch (3. Generation), Cerha, Schwanda, Klar, (c) Andrea Klem

Martin Schwanda, Jan Nikolaus Cerha und Saskia Klar wechseln in Sekundenschnelle auf offener Bühne ihre Rollen. Die Idee, das Bühnenbild aller Szenarien permanent sichtbar zu lassen, korreliert mit dem Gedanken, dass sich die Ereignisse nicht nur überschneiden und bedingen, sondern auch jederzeit wiederholen können. Die hitzige Fernsehdebatte, die sich die drei liefern, gerät zu einer unglaublichen Lachnummer. Cerha mimt dabei einen Kritiker, der sich gegen jede Art von Establishment verwehrt, aber doch nur in demselben bestehen kann. Sein Wutausbruch erinnert verblüffend an jene von Klaus Kinsky. Schwandas Interpretation des Moderators, der sich zwischen den Fronten des Kritikers und der Historikerin findet, ist ein komödiantisches Meisterstück. Klar verliert nach einer langen Phase der Contenance schließlich ihre Nerven und deckt mehr unfreiwillig als bewusst, ihre ehemalige Beziehung zum Literaturkritiker auf. Junod schafft mit der Darstellung eines kurzen historischen Moments, in dem das Vergangene gerade noch als Belastung zu spüren ist, das Zukünftige aber noch weit weg scheint, eine wunderbare Metapher auf unbeschwerte Friedenszeiten.

„Mich interessiert die Unvereinbarkeit (die ‚Parallaxe‘ im Sinne Slavoj Žižeks) der Perspektiven zwischen Überlebenden und Nachgeborenen, sozusagen die Kluft zwischen Wiesenthal und Wolfenstein, und dass sich die Verdrängungs- und Verarbeitungsmechanismen überall auf der Welt ähneln.“, erklärt Junod seine Motivation, dieses Stück zu schreiben.

Es ist das permanente Kippen zwischen Ernst und Spaß, zwischen guten und bösen Charakteren, die den Abend in einem gewissen Schwebezustand halten. Es ist das Wissen um die Vergangenheit und das Erahnen einer Zukunft, die Junod aus seinem Konstrukt wie ein logisches Ende aufbaut, die bedrücken. Verzweiflung und Resignation stehen einem unbedingten Lebenswillen, absolutem Gehorsam und einer Lebensunfähigkeit direkt gegenüber. Verdrängen und Vergessen erweist sich als Hauptübel, das jede Gesellschaft zu jeder Zeit wieder ins Unglück stürzen kann.

 

Lydia Hofmann, für Kostüme und die Bühne verantwortlich, gelang, wie auch schon bei vielen Salon5 Inszenierungen zuvor, eine stimmige räumliche Umsetzung. Das spannende Spiel um die scheinbar unendlichen Gesetzmäßigkeiten von Krieg und Frieden ist nur bis Ende Mai zu sehen.

Reden!

Reden!

Es gibt viele Kreative, die scheinen ein nicht enden wollendes Potential von Ideen in sich zu tragen. Und dann gibt es einige wenige, die diese Ideen auch umsetzen. Zu letzter Gruppe gehört Anna Maria Krassnigg, die sich mit ihrem Salon5 ein neues Format ausgedacht und auf Schiene gebracht hat.

„Reden“ ist der Titel einer fünfteiligen Serie, die jeden dritten Dienstag im Monat im Festsaal des Alten Rathauses in der Wipplinger Straße stattfindet. Wer mit dieser Datumsangabe ins Schwimmen kommt, dem seien die Termine auf der Homepage des Salon5 ans Herz gelegt. Das genaue Programm wird dort jeweils ca. 2 Wochen vor der Veranstaltung veröffentlicht. „Um auch die Möglichkeit zu haben, auf Aktuelles zu reagieren“, wie Anna Maria Krassnig auf Nachfrage erläuterte.

Die Location hätte nicht besser ausgesucht werden können. Denn bei „Reden“ geht es tatsächlich um nichts Anderes, als darum, historische, aber auch brandaktuelle Reden vorgetragen zu bekommen. Von Schauspielerinnen und Schauspielern, die diese Kunst auch beherrschen. Und wo könnte man dies besser tun als coram publico von einem tatsächlichen Rednerpult aus. Die „erlesene Rhetorik“, wie Krassnigg die ausgewählten Texte doppeldeutig benennt, folgen pro Abend einer bestimmten Thematik. „Reden gegen Brandstifter“ war der erste Generaltitel.

Zum Auftakt gab es Ciceros berühmte erste Rede gegen Catilina, Joschka Fischers aufsehenerregende Rede zum Nato-Einsatz im Kosovo, sowie Navid Kermanis berührende, aktuelle Rede zur Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels. Nicht nur zu hören, sondern auch zu sehen.

Reden Martin Schwanda c Christian Mair Kopie

„Reden“ Martin_Schwanda (c) Christian Mair

Martin Schwanda, mit weißem Sakko und goldglänzend bemustertem Hemd eröffnete mit Ciceros Aufruf an seinen Feind, Catilina, die Stadt zu verlassen. Wer immer auch beim Lateinunterricht Cicero übersetzen musste, außer er oder sie war eine Koryphäe in dieser Sprache, wird vielleicht zum ersten Mal die ausgeklügelten rhetorischen Finten verstanden haben, die Cicero hier anwandte.

Version 2

„Reden“ Jens Ole Schmieder (c) Christian Mair

Die Beschwörung des Gemeinwohls, wie er es tat, war auch in Joschka Fischers Rede ein Thema, die während ihres spannenden Vortrags durch Jens Ole Schmieder von Pfiffen und Zwischenrufen aus den Rängen begleitet wurden. Ganz wie an jenem Bundesparteitag der Grünen, an welchem Fischer dringend seine Parteifreundinnen und –freunde zur Einigkeit aufrief.

Reden Horst Schily c Christian Mair Kopie

„Reden“ Horst_Schily (c) Christian Mair

Den berührenden Schluss gestaltete Horst Schily, der die Rede von Navid Kermanis wiedergab, die dieser anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels vortrug. Die Bedrohung der Christen und der Muslime durch die IS in Syrien stand im Mittelpunkt seiner Ausführungen und es ist Krassnigg zu danken, dass sie mit dieser Auswahl eine Rede an ihr Publikum weiterleitete, die von Hellsichtigkeit, Menschlichkeit und Hoffnung getragen und der tatsächlich eine größt mögliche Verbreitung zu wünschen ist.

Der international renommierte Literatur- und Kulturwissenschaftler Wolfgang Müller-Funk hat am Eröffnungsabend mit Anna Maria Krassnigg gemeinsam moderiert, seine Sicht auf die vorgetragene Rhetorik erläutert und auch aus seinem breiten Wissensspektrum zusätzlich Informationen ans Publikum weitergegeben.

„Reden“ erwies sich beim Auftakt als ein Format, das nicht nur mit einem theatralischen Element ausgestattet ist. Vielmehr ist es dazu prädestiniert, anhand von ausgewählter Rhetorik, sich mit Ideen zu beschäftigen, welche die soziale und politische Wirklichkeit vieler Menschen beeinflusst haben und vielleicht auch in Zukunft beeinflussen werden.

Wer mag, wandert im Anschluss der Vorstellungen jeweils mit ins Café Korb, dem „verlängerte Wohnzimmer“ des Salon5.  Um dort mit den Beteiligten im persönlichen Austausch  zu – wie sollte es auch anders sein –  reden.

Hier die Homepage des Salon5 mit den Terminen.

Das Leben spielt das verrückteste Theater

Das Leben spielt das verrückteste Theater

Die Kinobühnenschau „La pasada – die Überfahrt“ des Salon5 lädt im Metro Kinokulturhaus auf eine Achterbahnfahrt zwischen verschiedenen Realitätsebenen ein.

Sie heißen Caliban oder Antonio. Sie zitieren Verse aus Shakespeares „unaufführbarem Werk der Sturm“, O-Ton Regisseurin Anna Maria Krassnigg. Die übermächtige Leinwand versucht, sich das lebendige Theater, das davor über die Bühne geht, zu krallen. Allein, das Ensemble und der Text sind zu stark. David gegen Goliath könnte man die neue Inszenierung von Anna Maria Krassnigg zusammenfassen, mit dem Ergebnis, dass der ungleiche Kampf in diesem Match unentschieden endet.

Dafür sorgen die brillanten Schauspielerinnen und Schauspieler. Allen voran Erni Mangold. Sie tritt in dem Stück „La Pasada“ von Anna Poloni als Familienoberhaupt der vierten Generation auf, was aber nicht von Anfang an wirklich klar ist. Die höchst kunstvoll verschachtelte Geschichte rund um ein Familiengeheimnis, löst sich erst Stück für Stück im Laufe des Abends auf. Aus einer Geliebten zu Anfang wird eine Urgroßmutter am Ende. Das, was in diesem Leben dazwischenlag, gilt es, step-by-step mit Voranschreiten der Handlung zu enträtseln.

Eine der größten Stärken des Abends liegt in seiner permanenten Verschränkung zwischen dem Geschehen auf der Kinoleinwand und jenem direkt davor auf der Bühne. Wer meint, in der Kunst gäbe es nichts Neues, Entdeckenswertes mehr, der irrt und hat gleichzeitig doch recht. Denn das Genre, in dem sich „La Pasada“ bewegt, ist eigentlich ein historisches. Die Kinobühnenschau ist ein vergessenes Kapitel Kulturgeschichte, in dem Kino und Live-Spiel kombiniert wurde. Allerdings: Die große Leinwand, der Ton, der Farbfilm, all das gab es zu Beginn der bewegten Bilder noch nicht.

Die zweite Stärke aber liegt im Text selbst. Poloni geizt dabei nicht mit Lebensweisheiten, Bonmots und einem subtilen Witz. „Er ist ein kluger Mann. Versteht aus dem Leiden Leben zu machen, nicht umgekehrt“, sagt an einer Stelle die weise Flora über den von ihr aufgenommenen Cal. Eine wunderbare Metapher, die nicht nur das Schicksal des Flüchtlings umreißt, sondern für all jene Menschen steht, die das Leben verstanden haben. Sätze wie diese, und davon gibt es viele, geben dem Stück etwas sehr Kostbares. Man bekommt große Lust, es noch einmal nachzulesen. Besonders auch die Verquickung, die Poloni zu Shakespeares Sturm gelingt, beeindruckt. Gerade die multiplen Layer, die sich in diesem Werk auffinden lassen, machen es so hoch spannend. Dabei kann man sich über weite Strecken seiner eigenen Erkenntnis, die man bis dahin gewonnen hat, nie sicher sein. Denn im Handumdrehen muss man seine Anschauung dann auch wieder revidieren.

Familiengeheimnisse beeinflussen direkt das Leben der Nachkommen. Geheimnisse, die auf Lebensentscheidungen basieren, die sich im Fortgang der Generationen wiederholen. Schuld wird nur bei den anderen gesehen, die Auswirkungen des eigenen Verfehlens nicht in die kommenden Generationen weitergedacht. Eingedenk der Familienaufstellungen, die rund um den Globus beinahe schon zum guten Ton gehören, ist „La Pasada“ ein extrem zeitgeistiges Stück und doch zeitlos zugleich.

Die unterschiedlichen Ebenen zwischen Theater und Film werden gegen Ende noch durch die der Einbindung des Publikums erweitert. Eine logische, dramaturgische Konsequenz, die damit die unterschiedlichen Realitäten miteinander in Einklang bringt und eine zusätzliche Prise Humor ins Geschehen einstreut.

Die Kostüme von Antoaneta Stereva wiederholen die Verschränkung nicht nur zwischen Leinwand und Bühne, sondern auch über die Generationen hinweg und geben mit subtilen Farbcodes Hinweise auf familiäre Zusammenhänge.

Erni Mangold als weise Urgroßmutter, die sich, ausgelöst durch den Besuch ihres Urenkels, daranmacht, ihr Lebensgeheimnis zu lüften, ist ausschließlich im Film präsent. Gioia Osthoff hingegen, die Reinkarnation von Flora und der Beginn einer neuen Familiensaga, hat eine extrem anstrengende stumme Rolle auszuliegen. Flavio Schily, derzeit noch im Gymnasium tätig, schafft das Kunststück, mit jugendlicher Unbekümmertheit Erni Mangold einen wunderbaren Gegenpart entgegenzusetzen. Doina Weber in der Rolle der Extremverdrängerin und zugleich lamentierenden Anklägerin erkennt Martin Schwanda nicht als ihren Sohn. Dieser stottert sich als Altphilologe (die Sprache ist ein Dialekt, der Glück gehabt hat) durchs Leben, brilliert aber auch als Verführer der jugendlichen Flora und als späterer Familienvater. Antionis Mutter (Doina Weber) ist es lieber, weiter in Albträumen zu verweilen, die ihr die Schuld der Weglegung ihres eigenen Kindes verschleiern, als den leibhaftig vor ihr Stehenden als eigenes Fleisch und Blut anzuerkennen. David Wurawa als Vermittler zwischen allen Welten und Wirklichkeiten schwankt permanent zwischen Konjunktiv und Vergangenheit, die ja „auch nichts anderes ist als ein Konjunktiv“.

Das Stück wurde bereits im Sommer im Thalhof uraufgeführt. Die Inszenierung in Wien, in der kleine Änderungen vorgenommen wurden, besticht durch ihre Intimität und Konzentration und nicht zuletzt durch den Aufführungsort selbst.

Nur noch bis 28. November!!!
Informationen auf der Homepage von Salon5

So schön, so lustig, so traurig

So schön, so lustig, so traurig

Im Brick-5 ist ein Theaterleckerbissen der besonderen Art zu sehen. Der Salon5 präsentiert dort eine szenische Lesung eines Textes von Erwin Riess. Schöner kann man in die Gefühlslage zweier ganz unterschiedlicher Personen nicht eintauchen!

Es gibt Theaterabende, die etwas Außergewöhnliches in sich tragen. Etwas, das einen schweben lässt, das Gefühl von Leichtigkeit vermittelt. Etwas, das von Poesie getragen wird, und die Fantasie anregt, sich vom Alltag zu erheben. Damit so etwas entstehen kann, braucht es einige wichtige Zutaten, aber kein großes Brimborium. Es braucht eine Geschichte, die berührt, Schauspielerinnen und Schauspieler, die mit ihrer Rolle verwachsen sind und eine Regie, die diese Leichtigkeit vermitteln kann. Wenn dann auch noch ein Bühnenbild hinzukommt, das die Schwerkraft der Objekte aufhebt, dann darf sich das Publikum tatsächlich an einem außergewöhnlichen Abend erfreuen.

Ein solcher wird im Salon5 mit der derzeitigen Produktion „Herr Grillparzer fasst sich ein Herz und fährt mit einem Donaudampfer ans Schwarze Meer“ angeboten. Und dieses Angebot sollte man nützen.

Hinter dem elendslangen Titel verbirgt sich ein poetisches Kleinod. Jérôme Junod hat die Textvorlage in Szene gesetzt. Horst Schily gibt darin den alternden Grillparzer, der sich mit einem Dampfschiff auf eine 3-monatige Reise begibt, Saskia Klar spielt die junge, knapp 17-jährige Csilla, seine Kabinenbetreuerin. Das Format der szenischen Lesungen, die mit einem Bühnenbild und Kostümen reichlich Atmosphäre eingehaucht bekommen, stammt von der Leiterin des Salon5 Anna Maria Krassnigg. Alle, die schon einmal eine Aufführung dieser Art besucht haben, kommen bei Neuproduktionen wieder. Denn diese Abende bieten genau das, was vielen noch so bemühten Literatursendungen oft abgeht: Abgesehen von einem intimen Theatererlebnis machen sie richtig Lust aufs Weiterlesen von Büchern des jeweiligen Autors oder der jeweiligen Autorin.

Die Inszenierung der Grillparzergeschichte erfolgt in einem Setting von Lydia Hofmann, wie immer unglaublich kreativ. Ein altes Holzbett, einige Biedermeiersessel und ein kleines Tischchen reichen schon, um sich ins 19. Jahrhundert zurückversetzt zu fühlen. Dass die meisten Möbel auf Stricken montiert in der Luft baumeln, vermittelt jenes Gefühl, das man auf einer Schiffsreise hat. Das Schwanken des Schiffes auf den Wellen und der damit gefühlte instabile Seinszustand kann dadurch wunderbar nachvollzogen werden. Schily trägt eine Mischung von Zeitgenössischem, schwarze Jeans, ein weißes Gilet über einem Hemd mit aufgestelltem Kragen und eine große, grüne, stets verrutschte und inkorrekt gebundene Masche um den Hals. Klar über ihrem Hemd und ihrer Hose eine Jeans-Schürze. Alleine diese wunderbaren Andeutungen, die Historisches nachhallen lassen, aber nichts Altbackenes in sich tragen, machen viel von der Stimmung der Produktion aus. Abseits davon sitzt Junod, der auch ausgebildeter Pianist ist, an einem Flügel und spielt Eric Satie. Dessen „Gnossiennes“ bieten eine stimmige Untermalung, wenn es darum geht, den Abschied aus Wien, die langsame Reise auf dem Fluss und das Kennenlernen der beiden Menschen zu untermalen. „Je te veux“, ein leichter Walzer, verführt die von Stand und Bildung so Unterschiedlichen an einer Stelle zu einem kurzen Tänzchen.

Horst Schily zeigt einen meist grantelnden und fiebernden Grillparzer, der an einer Stelle mit einer beinahe schon Bernhard-gleichen Suada über die Zustände in Wien im Vormärz aufhorchen lässt. Das, was Riess hier seinem Protagonisten in den Mund legt, hört sich sehr, sehr zeitgeistig an. Herrlich, wie Schily im Fieberwahn der Stewardess, nachdem sie ihm hektisch mehrere Geschichten erzählte, um ihn wach zu halten, nur mit einer Handbewegung und den Worten „Aufschreiben und der Kathi geben!“ nicht nur seine Genesung ankündigt. Vielmehr ist dieser Ausruf der Anstoß dafür, dass sich Csilla von nun ab in den Kopf setzt, den Dichter zu überreden, ihn begleiten zu dürfen. Mit Kathi ist Grillparzers „ewige Braut“ Katharina Fröhlich gemeint, der im Stück von Riess für das Charakterverständnis des Autors keine unbedeutende Rolle zukommt. Ebenso erheiternd auch Schilys Turnübungen, um nicht einzurosten und die häufigen Bonmots wie „ich kränkel viel, hab aber eine Rossnatur“ oder „ich bin eine Instanz, was unglückliche Liebe angeht.“ Diese und viele andere geben dem Abend richtig Würze.

Saskia Klar, die erst in diesem Jahr ihr Studium am Max Reinhardt Seminar abgeschlossen hat, besticht in jeder einzelnen Minute. Die Vielfalt ihrer Ausdrucksmöglichkeiten scheint schier unbegrenzt. Sie spielt das derbe Mädel, das einen unanständigen Witz erzählt mit anschließendem Schenkelklopfen und Gejohle genauso beeindruckend wie die junge Frau, die enttäuscht den Ausflüchten Grillparzers zuhört. Ihr Mienenspiel ist in Sekundenbruchteilen wandelbar, sodass man keinen Augenblick das Gefühl hat, dass sie eine Rolle spielt. Sie IST das ungarische, junge Mädchen ohne Bildung, aber mit viel Intelligenz. Man möchte aufstehen und Schily, respektive Grillparzer wachrütteln, um ihr zu helfen. Der Text von Riess verleiht ihr ein unglaublich facettiertes Seelenleben, das es erst einmal so auf die Bühne zu bringen gilt. Respekt!!!

Der intelligente Dialog, der Altersweisheiten mit Bauernschläue genauso vereint wie literarische Höhenflüge mit Mutterwitz, kurz die Sprachgewalt von Riess ist atemberaubend. Die „Generalflucht“, auf der sich Grillparzer befindet, eine Flucht speziell vor dem Österreichischen, ja Wienerischen an sich, lässt sich letztlich mit der Flucht des Landmädels aus ihrem kleinen Heimatort nicht vergleichen. Steht der eine fast am Ende seines Lebens, hat die andere dieses noch vor sich. Und dennoch ist es kaum zu glauben, wie sehr sich die beiden auf Augenhöhe begegnen können.

Das Ende der Geschichte sei hier nicht verraten, nur so viel: Wer sich diese Aufführung entgehen lässt, ist selbst schuld!

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Weitere Infos auf der Website des Salon5

Unbeugsamen bleibt nur der Tod

Unbeugsamen bleibt nur der Tod

Sie sitzt in einem blauen Nachthemd in einem vergitterten Bett. Die Decke an die Brust gezogen, den Blick angstvoll und misstrauisch ins Publikum gerichtet, das nach und nach Platz nimmt. Nichts deutet darauf hin, dass die junge Frau eine Königstochter ist. Nichts, dass sie die Fähigkeit hat, in die Zukunft zu sehen. Langsam beginnt sie zu sinnieren. Dass die Trümmer von Troja das Letzte sind, das sie in diesem Leben sieht, stellt sie emotionslos fest. Und nach und nach gleitet sie in einen Erinnerungsvorgang, an dem sie das Publikum teilhaben lässt.

Christa Wolfs Erzählung „Kassandra“ bildet die Grundlage zum gleichnamigen Theaterstück, in dem Katharina Haudum mit starker Präsenz nicht nur in die Rolle der trojanischen Seherin schlüpft. Sie verkörpert zugleich einige wichtige Nebenrollen, indem sie diese mit stimmlich unterschiedlichen Attitüden ausstattet. Allen voran Priamos, den König,ihren Vater. Mit exaltierter Fistelstimme, seiner Familie und dem Volk entfremdet, macht er zu Beginn alles lächerlich, was Kassandra als Mahnungen ausspricht. Im Laufe des Abends schraubt er seine Eskalation so weit nach oben, dass am Ende seiner Zurechtweisungen keine Fistelstimme mehr steht. Vielmehr ein aus tiefster Seele hasserfüllt herausgeschleuderter Befehl, seine Tochter festzunehmen und wegzubringen. Seinen Gegner Achill, den Kassandra als Vieh bezeichnet, färbt Haudum mit lautem Timbre und rüdem Sprachauswurf. Er, der Bezwinger der Stadt, soll unter Zuhilfenahme einer List den Tod finden. Kassandra lehnt sich dagegen mit aller Wucht auf, vor allem, weil ihre Schwester dabei ungefragt als Beute herhalten muss. Dieser Widerstand wird ihr zum Verhängnis.

Katharina Haudum hat Wolfs Erzählung von den Nebenschauplätzen gereinigt und erscheint als eine reflektierte, wenngleich zeitweise dem Wahnsinn anheim fallende, aber dennoch starke Persönlichkeit. Durch das Nachdenken über ihr Schicksal im vergitterten Bett, durch die extreme räumliche Einschränkung, die auch schauspielerisch eine große Herausforderung ist, gelingt es ihr schließlich, das eigene Schicksal nicht zu verfluchen, sondern anzunehmen.

David Stöhr, der Regie führte, Kommilitone von Haudum aus dem Fach Regie, ist selbst ausgebildeter Psychologe und mit den Untiefen der menschlichen Seele wohl vertraut. Er regte den beschränkten Aktionsraum an, in welchem Haudums Kassandra in ungezählten emotionalen Facetten agiert. Ängstlich, verstockt, verstört, aufmuckend, flehend, resigniert aber auch romantisch verliebt in jenen Momenten, in welchen sie sich an ihre Stunden mit Aineias erinnert.

Die Max Reinhardt Absolventin hat diesen Text ursprünglich als Diplomarbeit vorgetragen. Im Brick 5, im Rahmen der Reihe „FensterNachMorgen“ des Salon5, präsentierte sie ihn in szenisch veränderter Fassung. Christa Wolfs Text dient Haudum als eine Art Vehikel. Erlaubt er doch der jungen Schauspielerin, ihre persönliche Stärke, die man auch im privaten Gespräch sofort spürt, ungebremst auf die Bühne zu transportieren. Klein beigeben – das ist weder Kassandras Ding, noch scheint es Haudums Charakter zu entsprechen. Und so spielt sie nicht die personifizierte antike Emanze, ausgestattet mit einem scharfen Intellekt und einer analytischen Fähigkeit, die menschlichen Schwächen aber auch Beziehungen zu erfassen. Sie ist Kassandra in jedem einzelnen Moment. Diese trägt keine Schuld an ihrem Schicksal. Vielmehr ist es der göttliche Fluch Appolos, den sie verschmähte und der ihren Weissagungen den Fluch auferlegte, kein Gehör zu finden. Aber nicht zuletzt auch die patriarchalischen Machtverhältnisse, die es nicht zulassen, dass die Hellsichtige schließlich einen gebührenden Platz in der Gesellschaft findet.

Dennoch ist in Haudums Interpretation Kassandra in keiner Sekunde fremdbestimmt. Wenn ihr etwas im Wege steht, dann nur ihr eigener Geist, aber selbst diesen weiß sie zu überlisten. Sogar dem Tod, den sie ins Auge blickt, begegnet sie mit einer unglaublichen Stärke und einem selbstindizierten Trost. Eine starke Performance, die Schauspielerin und Publikum gleichermaßen forderte und gerade deswegen einen bleibenden Eindruck hinterließ.

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