Niemals vergessen ist ein frommer Wunsch

Der Großvater hat sie ihm geschenkt. Er trug sie, bis sie ihm entrissen wurde. Von einem Mann, der ebenfalls Großvater war und sie an seinen Enkel verschenkte. Dieser verschenkt sie schlussendlich an seinen Schergen, bevor er hingerichtet wird. Eine Armbanduhr wird im Stück „Morsch“ von Jérôme Junod zum Symbol eines ewigen Kreislaufs um Gewalt, Vergessen und abermalige Gewalt. Junod, in Lausanne geboren und nach einer Ausbildung zum Pianisten und Studium der Philosophie, Geschichte und Indologie auch Absolvent des Max Reinhardt Seminars, ist eine Vielfachbegabung. Nach „Jetzt Aber – Postdemokratische Variationen“, die er vor drei Jahren im Salon5 zur Aufführung brachte, ist nun ein weiteres Stück von ihm in Wien zu sehen.

Der Salon5 präsentierte im Theater Nestroyhof / Hamakom mit „Morsch“ ein Stück, in dem 3 Leute insgesamt 14 Charaktere spielen, die zu verschiedenen Zeiten lebten. Auch wenn sich dies ein wenig verwirrend anhören mag, so gibt es doch keine Schwierigkeiten, dem Erzählfluss zu folgen. Junods Geschichte beginnt im Keller eines Gefängnisses. Dort haben sich zwei Männer versteckt. Maier und Luchs. Sie warten auf die Befreiung und halten sich gegenseitig mit Erzählungen bei Laune. Maier, der Ängstliche, der zu Beginn überhaupt keine Ahnung von den Geschehnissen um ihn herum hat, beginnt langsam zu begreifen, wo Gut und Böse zuhause sind. Luchs hingegen benimmt sich ganz so, wie man es auch seinem tierischen Namensvetter nachsagt. Gerissen und schlau.
In einem zweiten Szenario verfolgt man eine Durchschnittsfamilie in den 50er Jahren beim Mittagessen. Vater, Mutter, Kind. Sie unterhalten sich unter anderem auch über ihren Nachbarn, den Maier, der angeblich ein Buch schreibt. In den 70er Jahren spielen jene köstlichen Szenen, in welchen sich eine Expertenrunde über ein Buch von Maier unterhält. Dabei tut die Protagonistin und die beiden Männer das,  was in den 70ern en vogue war – nämlich rauchen und auf hohem, intellektuellem Niveau streiten. In einer vierten Szene treffen sich drei Jugendliche auf einem Spielplatz und unterhalten sich über ihren ätzenden Geschichtslehrer, der ihnen ein Buch aufs Auge gedrückt hat. Von einem Autor namens Maier – „voll morsch ist das“, ist ihre einhellige Meinung. Und da es schwierig zu lesen ist, lassen sie es lieber gleich ganz bleiben. In der letzten Szene, die an die allererste des Abends anknüpft, sitzt das Mädchen aus den 50er Jahren als alte Frau neben einem Mann. Sie warten darauf, dass man sie hinrichtet.

Es ist starker Tobak, den Junod dem Publikum vorsetzt. Allerdings verpackt er ihn so, dass das Grauen, das dem Stück innewohnt, in homöopathischen Dosen erst nach und nach verteilt wird. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts mit der Nazidiktatur, der Schwierigkeit, diese aufzuarbeiten, und das Vergessen um die Vorkommnisse des Zweiten Weltkrieges, das bei den jungen Leuten aktuell um sich greift, verknüpft er mit einer düsteren Zukunftsaussicht. Eine Aussicht, die alles andere als ermutigend ist, denn Ausgrenzung bis hin zur Ausrottung stehen laut Junod schon bald wieder auf dem Programm. Die Parole „niemals vergessen“, ist für die Jugendlichen in seinem Stück nicht mehr, als ein lächerliches Statement eines alten, ungeliebten Geschichtelehrers.

Morsch (3. Generation), Cerha, Schwanda, Klar, (c) Andrea Klem

Morsch (3. Generation), Cerha, Schwanda, Klar, (c) Andrea Klem

Martin Schwanda, Jan Nikolaus Cerha und Saskia Klar wechseln in Sekundenschnelle auf offener Bühne ihre Rollen. Die Idee, das Bühnenbild aller Szenarien permanent sichtbar zu lassen, korreliert mit dem Gedanken, dass sich die Ereignisse nicht nur überschneiden und bedingen, sondern auch jederzeit wiederholen können. Die hitzige Fernsehdebatte, die sich die drei liefern, gerät zu einer unglaublichen Lachnummer. Cerha mimt dabei einen Kritiker, der sich gegen jede Art von Establishment verwehrt, aber doch nur in demselben bestehen kann. Sein Wutausbruch erinnert verblüffend an jene von Klaus Kinsky. Schwandas Interpretation des Moderators, der sich zwischen den Fronten des Kritikers und der Historikerin findet, ist ein komödiantisches Meisterstück. Klar verliert nach einer langen Phase der Contenance schließlich ihre Nerven und deckt mehr unfreiwillig als bewusst, ihre ehemalige Beziehung zum Literaturkritiker auf. Junod schafft mit der Darstellung eines kurzen historischen Moments, in dem das Vergangene gerade noch als Belastung zu spüren ist, das Zukünftige aber noch weit weg scheint, eine wunderbare Metapher auf unbeschwerte Friedenszeiten.

„Mich interessiert die Unvereinbarkeit (die ‚Parallaxe‘ im Sinne Slavoj Žižeks) der Perspektiven zwischen Überlebenden und Nachgeborenen, sozusagen die Kluft zwischen Wiesenthal und Wolfenstein, und dass sich die Verdrängungs- und Verarbeitungsmechanismen überall auf der Welt ähneln.“, erklärt Junod seine Motivation, dieses Stück zu schreiben.

Es ist das permanente Kippen zwischen Ernst und Spaß, zwischen guten und bösen Charakteren, die den Abend in einem gewissen Schwebezustand halten. Es ist das Wissen um die Vergangenheit und das Erahnen einer Zukunft, die Junod aus seinem Konstrukt wie ein logisches Ende aufbaut, die bedrücken. Verzweiflung und Resignation stehen einem unbedingten Lebenswillen, absolutem Gehorsam und einer Lebensunfähigkeit direkt gegenüber. Verdrängen und Vergessen erweist sich als Hauptübel, das jede Gesellschaft zu jeder Zeit wieder ins Unglück stürzen kann.

 

Lydia Hofmann, für Kostüme und die Bühne verantwortlich, gelang, wie auch schon bei vielen Salon5 Inszenierungen zuvor, eine stimmige räumliche Umsetzung. Das spannende Spiel um die scheinbar unendlichen Gesetzmäßigkeiten von Krieg und Frieden ist nur bis Ende Mai zu sehen.

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