Herr Haefliger waren Sie schon einmal in Straßburg?
Nein, es ist das erste Mal, dass ich die Gelegenheit habe. Ich kenne das Orchester noch nicht, aber dem OPS eilt ein sehr guter Ruf voraus.
Wie kann man sich Ihre Zusammenarbeit mit einem neuen Orchester oder auch einem Dirigenten genauer vorstellen? Gelingt es Ihnen immer, Ihre eigene Interpretationsvorstellung des Stückes durchzusetzen?
Ich habe hier keine dogmatischen Haltungen. Mit Claus Peter Flor arbeite ich zum Beispiel sehr gerne zusammen. Es kommt mit ihm zu sehr guten Gesprächen. Ich selbst bin ein „Naturmusiker“ und reagiere auf natürliche Art. Claus Peter wirkt auf mich mit seiner Arbeit sehr stimulierend, ich finde, dass das eine sehr gute Mischung aus Wissen, Fühlen und Hören ergibt. Außerdem ist es tatsächlich so, wie Edwin Fischer es zumindest sinngemäß einmal formulierte: Das Studium an der Musik ist wie ein Weg, den man jeden Tag geht und auf dem man jeden Tag mehr entdeckt. Wenn ich etwas Anderes im Orchester höre, als ich mir vorstelle, dass es sein sollte, dann interveniere ich vielleicht ein oder zweimal. Manches Mal ist es ja auch so, dass man sich nur etwas vorstellt, einen Klang glaubt zu hören, aber dieses Hören ist ja nicht objektivierbar.
Wenn Sie ein neues Stück erarbeiten, lassen Sie sich dann auch von anderen Interpretationen beeinflussen?
Ja, klar, ich höre mir auch manchmal sehr genau an, was und wie Kollegen spielen. Ich bin nicht der Typ des Kollegenhassers und kann schon ganz genau auch bei anderen hinhören und genießen und lernen. Aber wie ich schon sagte, zum Schluss bin ich immer ein Naturmusiker und ich gehe immer auf das ein, was ich selbst spüre.
Wenn Sie für Konzerte mit Orchestern verpflichtet werden, dann werden Ihnen die Stücke ja vorgegeben. Wie ist das eigentlich mit Ihren eigenen Klavierabenden? Wie gestalten Sie dort die Programme?
Ja das stimmt, wenn ich mit Orchestern spiele, dann sind das Werke, die nicht von mir vorgeschlagen werden, so wie hier in Straßburg, wo sich die Vorgabe des Klavierkonzertes von Mozart durch den Kontext des Programmes der Saison ergibt. Wenn ich selbst einen Abend gestalte, so gehe ich immer mehr dazu über, dass alle Stücke miteinander einen gewissen Bezug aufweisen. So wie wir das auch bei den Einspielungen meiner CDs gemacht haben. Dabei können die Stücke z. B bewusst in Kontrast zueinander stehen. Aber auch die Entwicklung von gewissen musikalischen Formeln oder Harmonien über Jahrhunderte hinweg möchte ich aufzeigen. Es gibt zum Beispiel kleine musikalische Phrasen bei Mozart, die bei Brahms in ganz ähnlicher Art und Weise, aber dennoch zeitgemäß verändert wieder kommen. Solche Bezüge interessieren mich sehr.
Wenn ihr Publikum nicht sehr geschult ist, könnte es sein, dass es diese Bezüge vielleicht nicht wirklich versteht, was halten Sie in diesem Fall von moderierten Konzerten?
Ich mache das immer wieder in Amerika, aber auch in Europa, bei kleineren Aufführungen. Im großen Saal eher weniger, denn hier gibt es noch immer dieses „Grenzgefühl“ das auftaucht, wenn der Künstler zu sprechen beginnt. Hier ist der Künstler noch immer eine Art unantastbare Person. Aber ich bekomme dazu im Laufe der Zeit eine andere Einstellung. Ich möchte stärker diesen Ring des Unerreichbaren abwerfen. Für das Publikum meiner Konzerte gibt es begleitende Texte, die ich entweder selber verfasse oder von jemandem verfassen lasse, der hier mein Vertrauen hat. Man kann nämlich bei einem Konzert auch etwas verreden aber man kann auch die Musik selbst wirken lassen. Ich glaube aber, dass das Publikum alleine durch das Zuhören und Erlebendiese Bezüge verstehen kann.
Gibt es etwas, das Sie sehr gerne machen würden?
Oh ja, „Schularbeit“, das würde ich tatsächlich gerne machen. Also hörende Menschen erziehen, sozusagen das Publikum von morgen in den Konzertsaal zu ziehen. Meine Frau ist Flötistin und unterrichtet auch. Sie hat heute Schüler, die ihr vor 15 Jahren im Konzertsaal zugehört haben und heute zu ihr kommen und sagen: Wegen Ihnen habe ich begonnen, Flöte zu spielen. Das sind dann ganz berührende Momente. Es ist enorm wichtig, die Kinder für die Musik zu begeistern. (Anm: Andreas Haefliger ist mit der Flötistin Marina Piccinini verheiratet)
Unterrichten Sie selbst?
Ich gebe ab und zu Kurse, aber ich unterrichte nicht wirklich. Ich persönlich glaube eigentlich nicht so sehr an das regelmäßige Unterrichten auf diesem Niveau. Das Erlernen eines Instrumentes ist vergleichbar mit dem Skifahrenlernen. Man muss es im Grunde genommen alleine zustande bringen. Die Technik kann einem nahegelegt werden, aber trainieren muss man selber. Musik zu machen bedeutet ja immer ein Öffnen des eigenen Ichs, ist also ganz etwas Persönliches. Und das ist nicht unterrichtbar.
Sie wuchsen ja auch in einer musikalischen Familie auf.
Ja, das stimmt schon. Mein Vater war Sänger und das Üben zuhause war für mich schon eine Art Lehrvorgang, etwas ganz Natürliches. Da kann ich mich sehr glücklich schätzen.
Wenn Sie keine Konzertvorbereitungen machen müssten und einmal zwei oder drei Wochen nur für sich Zeit hätten, welche Musik würden Sie für sich selbst am Klavier spielen? Was ist, in anderen Worten, Ihre musikalische Heimat?
Ich bezweifle, dass sich diese Szenerie ergeben wird, aber wenn, dann würde ich Bach spielen. Er ist das Non-Plus-Ultra. Als Pianist kann man nichts spielen, das darüber liegen würde.
Mit dieser Antwort hätte ich nicht gerechnet, denn Sie haben Bach noch nie eingespielt.
Ja das stimmt. Aber ich spiele tatsächlich viel Bach. Allerdings finde ich, dass es derzeit andere Kollegen gibt, die das hervorragend machen. Ich glaube ich kann mir für eine Einspielung noch etwas Zeit gönnen.
Wenn Sie Bach spielen, dann heißt das aber auch, dass sie sehr viel musiktheoretisch analysieren müssen, ohne die gibt es ja keine gute Bachinterpretation. Wie passt das mit ihrer Aussage zusammen, sie seien ein Naturmusiker?
Ich meine hier die Natürlichkeit im quasi Schiller`schen Sinne. Nämlich dass durch das Wissen die Klarheit entsteht, aus der wiederum die Natürlichkeit resultiert. Etwas, das nicht von Regeln erdrückt wird, an die man sich halten muss. Meine Musik lebt sozusagen von hartem und von weichem Wissen. Ich mache meine Musik, indem ich darüber einerseits nachdenke, aber andererseits auch offen bin für die Gefühle, die ich dabei verspüre und diese auch zulasse.
Lässt Ihnen Ihr voller Terminkalender eigentlich auch noch Zeit zu reflektieren?
Doch, ich habe genug Zeit dazu. Voriges Jahr habe ich sehr zurückgeschraubt, dieses Jahr ist mein Terminkalender zwar voller, aber ich habe immer wieder 2 oder 3 Wochen, in denen die ich zuhause bin. Die nutze ich dann für Vorbereitungen, Familie und Reflexion.
Sehen Sie sich vom heutigen Konzertbetrieb sehr vereinnahmt oder entspricht er ihrem Wesen? Sie könnten ja auch in einem Konservatorium unterrichten und zuhause tätig sein.
Natürlich wäre das auch schön. Man könnte das vergleichen mit jemandem, der gerne immer wieder auf den Mount Everest steigt oder dem es lieber ist, nur eine Wanderung zu unternehmen. Ich persönlich steige lieber auf den Gipfel und finde große Aufgaben stimulierend. Ich glaube nicht, dass ich ohne sie leben könnte und sehe, dass noch viel zu tun ist. Allerdings gibt es da keine Wertschätzung für mich – jede Art der Beschäftigung mit Musik als Lebenszweck ist gut verbrachte Zeit. Den Musikbetrieb sehe ich nicht negativ, allerdings muss man sich natürlich vor Augen halten, dass es heute durch den künstlich herbeigeführten wirtschaftlichen Druck in vielen Branchen immer wieder zu geradezu seltsamen Vorfällen kommt.
Sie spielen sehr viel Klassik, haben Sie auch einen Bezug zur zeitgenössischen Kunst?
Ja, das habe ich natürlich. Die zeitgenössische Musik, das ist ja noch einmal ein anderer Berg, den man erklimmen muss. Ich gebe auch immer wieder persönlich Werke in Auftrag. Zeitgenössische Musik ist ein lebendes Medium, das unterstützt werden muss. Die Chance zu nützen, mit zeitgenössischen Komponisten zu sprechen, finde ich sehr wichtig. Man kann sich bei diesem Austausch zum Beispiel freuen, dass etwas richtig ist, wie man es selbst interpretiert hat, so wie ich dies mit Sofia Gubaidulina erlebte. (Anm: Andreas Haefliger spielte das komplette Klavierwerk der 1931 geborenen Künstlerin ein)
Was ist Ihnen persönlich in Ihrem Beruf ein Anliegen?
Die Möglichkeit, auf dem Klavier alle Schattierungen der menschlichen Existenz transparent zu vermitteln und gleichzeitig den Gedankengängen der Komponisten Leben einzuhauchen – ohne (auch ein Fischer´scher Satz) ihnen Gewalt anzutun. Auch bin ich überzeugt, dass wir mit unserem Tun immer Moderation, Konzentration und Menschlichkeit verbreiten, was doch enorm wichtig ist.
Glauben Sie, dass das Publikum, egal in welchem Land sie auftreten, von denselben Emotionen geleitet wird oder empfinden Sie dabei doch Unterschiede zwischen Amerika und Europa z. B.?
Nein, gar nicht. Es gibt unterschiedliche Menschen, das schon. Aber jene, die mit dem richtigen Schweigen zuhören, sind die, die man tatsächlich anspricht.
Ich möchte diesen letzten, wunderschönen Satz genauso stehen lassen und danke Ihnen sehr für das Gespräch.
Das Gespräch fand am 3. Februar 2010 in Straßburg statt.
Anlässlich seiner Produktion „Mord im Burgtheater“ im Le-Maillon in Straßburg gab Ivan Stanev ein Exklusivinterview.
Ivan Stanev (photo: Le-Maillon)
Herr Stanev, ist ihre Produktion „Mord im Burgtheater“ in Straßburg die erste, die Sie hier machen?
Nein, ich habe hier bereits unter der Direktion von Bernard Fleury „Hollywood for ever“ aufgeführt. Ich kenne das Haus hier bereits, hatte aber auch schon andere Aufführungen in Frankreich. Die jetzige Produktion „Mord im Burgtheater“ wandert dann auch weiter nach Lille und Paris.
Sie leben in Berlin, viele ihrer Stücke werden dort uraufgeführt aber Sie haben auch den Vergleich mit der Kulturszene in Frankreich. Gibt es Unterschiede, die sie festgestellt haben?
Ja klar, wie Sie wissen, ist Frankreich nach wie vor zentralistisch geführt, ganz im Gegensatz zu Deutschland, in dem es viele Zentren gibt. Durch die Zentralisation ist aber in den Medien weniger Platz für eine kulturelle Berichterstattung vorhanden. Le monde, Liberation oder le Figaro sind die Marktführer, wohingegen man in Deutschland auch in kleineren Medien rezensiert werden kann. Das Publikum wiederum ist in Frankreich hochgebildet, sehr intellektuell und weist eine andere Tradition als jenes in Deutschland auf. Es hat hier andere Voraussetzungen. Frankreich versteht sich nach wie vor als Kulturnation. Die Bühnen wiederum sind kleiner, haben weniger Platz, da muss man sich etwas anders ausrichten. In Deutschland ist es besonders wichtig, Klassiker zu spielen. Mit Klassikern bekommt man die Säle voll.
Wie kamen Sie auf die Idee zum Stück „Mord im Burgtheater“?
Anlässlich der Recherche über ein Attentat, das in Marseille verübt worden war. Ein geheimnisvoller Urgrossvater der Schauspielerin Jeanette Spassova, genannt Wlado Tschernosemski ( der Name bedeutet “schwarze Erde” auf bulgarisch ) , war darin verwickelt. Sie wurde neugierig und wollte mehr darüber wissen. Damals wurde der jugoslawische König Alexander I und der französische Außenminister Louis Barhou erschossen. Wir fanden in den Archiven Querverweise zum Mord im Burgtheater. Iwan Michajlow, ein mazedonischer Unabhängigkeitsführer, war der Ehemann von Mencia Karničeva, der Attentäterin im Burgtheater. Michajlows Vater und Bruder wurden im Auftrag der serbischen Regierung ermordet, was wiederum zum Anschlag im Marseille führte. Erst über diese Spur wurden wir auf die Geschichte in Wien aufmerksam. In Österreich erinnerte sich niemand an den Vorfall im Burgtheater, aber im Theaterarchiv selbst wurde Spassova fündig.Da konnte man alles genau nachlesen. Es erweckte mein Interesse, dass es schon zu dieser Zeit publikumswirksame Attentate gab. So wie heute, wo Flugzeuge gekapert werden oder ein Theater in Moskau besetzt wird – das kommt ja nicht von ungefähr, dass dies „theatralische“ Orte sind. Ich sehe darin auch historische Parallelen und möchte diese aufzeigen. Meine Bearbeitung kommt als Kunstform auf die Bühne. Ich beschäftige mich nicht mit der Konservierung der Klassik, sondern lege meine Stücke wie dieses hier auch in der Präsentation viel breiter an. Ich füge Archivmaterial hinzu das viel Platz einnimmt, um die „wahre“ Geschichte zu illustrieren. Dokumentationsfilme oder Zeitungsausschnitte beispielsweise.Die historische Parallele sehe ich auch darin, dass sich damals der Balkan in einer Übergangsphase, in einer Annäherung zu Europa befand. Heute sind es die arabischen Länder, die in die Sphären der westlichen Welt eindringen. In Österreich gab es zur Zeit des Attentates eine Säuberung von Ethnien, obwohl in der Zeit der Monarchie ein freies Leben unter den Völkern möglich gewesen war.
Meinen Sie nicht, dass diese Sicht auf die Geschichte eine eher geschönte ist?
Nein, wenn Sie daran denken, dass Menschen aus dem Osten in Wien studieren konnten, frei reisen konnten. Das alles wurde nach dem zweiten Weltkrieg schlagartig unterbunden. Anhand der Geschichte des Mordes im Burgtheater sieht man den Cultural clash – den Zusammenstoß der Kulturen besonders gut. Hier wird Peer Gynt gespielt – ein Stück aus dem hohen Norden; hier gehen Mazedonier ins Theater mitten in Wien; das ist eine spannende Ausgangslage.
Verstehen Sie das Stück als politisches Statement?
Nein, das sehe ich nicht so, obwohl eine Kunst ohne Politik eigentlich nicht möglich ist.
Fühlen Sie sich für das Stück verantwortlich, verantwortlich auch für das, was es bei den Menschen bewirkt?
Ja klar fühle ich mich verantwortlich, es ist ja mein Stück. Aber was es in den Menschen bewirkt, wie sie damit umgehen, das kann ich nicht beeinflussen. Sie müssen in irgendeiner Art und Weise damit umgehen, aber in welcher, das liegt außerhalb meines Einflusses.
Sie versuchen das Theater mit neuen Mitteln zu erkunden, zu erweitern. In den 70er- und 80er Jahren hat z.B. Hans Haacke versucht mit seinen Installationen, wie. z. B. in Graz, ein Stadtbild komplett zu verändern und das Publikum in dieser veränderten Umgebung zu Akteuren werden zu lassen. Trotz Ihres Willens zur Veränderung bleiben Sieauf der Bühne, der gegenüber das Publikum sitzt.
Ja, das ist mein Medium. In den 70er Jahren waren es ja auch die Wiener Aktionisten, die neue Kunstformen abseits der herkömmlichen Tempel versuchten. Heute ist aber ein konservativer Rückzug zu beobachten. Es ist ein Ende des politischen Theaters zu bemerken, außer in kleinen Fachkreisen. Damit muss sich das Theater abfinden. Nach dem Mauerfall hatte man das Gefühl, es könnten sich hier neue Dimensionen ergeben. Aber heute ziehen sich die Menschen in ihre Wohnungen zurück und führen zuhause ein privates Leben. Sie konsumieren etwas, was für einen globalen Markt gemacht wurde und das Politische wurde daraus komplett weggespült. Als Gegenstrategie gilt es, darüber zu sprechen und dies auch auf die Bühne zu bringen. Dort soll man die Köpfe der Menschen zumindest wach rütteln. Ich beschäftige mich gerade auch im Stück „Mord im Burgtheater“ mit der Frage „was ist Theater“, was ist fiktiv, was ist real. Ist Realität etwas anderes als die Theaterkunst?
Sie drücken sich ja auch im Film künstlerisch aus.
Ja, ich habe einen Film gemacht, „Moon Lake“ und plane nach der Tourne mit „Mord im Burgtheater“ einen neuen Film zu drehen. Allerdings besteht hier die Herausforderung, nicht unter das eigene Niveau zu rutschen, nicht zum „Propagandaminister des globalen Marktes“ zu verkommen. Ich bin der Meinung, dass das Theater und der Film nach wie vor intelligent sein dürfen. Aber der wirtschaftliche Druck ist enorm. Keiner erlaubt sich mehr, dagegen anzukämpfen. Drehbücher werden so lange umgeschrieben, bis sie endlich marktkonform erscheinen, da bleibt das Künstlerische auf der Strecke. Alle beugen sich dem Marktdiktat.
Sind die Künstler deswegen opportun und mit vorauseilendem Gehorsam ausgestattet, um überleben zu können?
Ja klar ist das so, wer von uns will denn nicht überleben! Die Künstler sind mit einer Art „Selbstzensur“ ausgestattet, denn sie wissen, dass es für sie eine Überlebensfrage ist.
Haben Sie sich im Laufe der Jahre ein stabiles Netz an Kontakten aufgebaut, mit denen Sie kontinuierlich arbeiten?
Nein, es wird immer schwerer. Ich muss mir für jede Arbeit von Neuem einen Produzenten suchen. Mein Beziehungsnetz ist alles andere als stabil, ja es wird im Laufe der Jahre immer kleiner, denn im Moment verkauft sich Klassik viel besser als zeitgenössische Kunst. Hier zum Beispiel, im Maillon, habe ich den Kontakt zu M. Fleury der selbst ein Ziel verfolgt. Er ist es mit seiner Person, mit seiner Art von Theaterleitung, die mir ermöglicht, hier zu arbeiten.
Sind es also immer nur einzelne Personen, die im Kulturbetrieb etwas vorantreiben können oder gibt es auch Strömungen, in denen eine Veränderung aus einer größeren gesellschaftlichen Einheit kommt?
Es gibt beides. Die 68er Bewegung zum Beispiel hat als Bewegung unter der Teilnahme vieler Veränderungen gebracht und auch nach dem Mauerfall war das so. Heute sehe ich keine derartigen Strömungen, heute sind es tatsächlich einzelne Personen, die sich für etwas einsetzen und noch etwas bewegen können.
Ihre Arbeiten richten sich an ein relativ kleines Publikum, bezeichnen wir es als „Elite“ – wenige Aufführungen, zeitgenössische Themen – das wird nur von wenigen, interessierten Menschen wahrgenommen. Schreiben Sie für eine Elite?
Nicht unbedingt. Aber ich habe nichts gegen die Elite. Hölderlin ist heute noch Elite. Nicht alles, was man nicht sofort begreifen kann, ist wirklich unbegreiflich. Umso komplexer eine Kunstform ist, umso mehr Zeit brauchen wir, sie zu durchschauen. Hölderlin ist bis heute großartig undurchschaubar. Ich bin nicht bereit, ein gewisses Niveau zu unterschreiten. Egal, ob im Theater oder im Film. Speziell der Film wurde sehr kommerzialisiert, da muss man extrem aufpassen, dass man in der Qualität hoch bleiben kann.
Arbeiten Sie bereits an einem neuen Projekt?
Ich denke darüber nach, aber ich kann noch nicht genau sagen, was kommen wird. Ich möchte weiter Theater und Filme machen, mich in unterschiedlichen Medien ausdrücken. Mich interessieren die „verschiedenen Sprachen“ in Europa. Europa ist zur Zeit ein Sammelort unterschiedlichster Einflüsse. Es ist zu beobachten, dass die Nationalsprachen auf dem Rückmarsch sind und in die Defensive geraten. Dennoch herrscht hier ein babylonisches Sprachgewirr, das finde ich sehr interessant. Aber ich finde, es ist wichtig, nicht immer nur bei einem Medium wie z.B. dem Theater zu bleiben – zumindest für mich ist das wichtig.
Ich wünsche Ihnen viel Glück für Ihre Aufführungen im Le-Maillon und danke Ihnen für das Gespräch.
Alasdair Malloy der Liebling der Kinder im Konzertsaal (c) OPS
Geoffrey Styles und Alasdair Malloy übernahmen das Piratenschiff des OPS
Leicht außer Atem begleitet mich Geoffrey Styles vom Bühnenausgang in seine Künstlergarderobe. Sein Ringelshirt und die um die Hüfte gebundene Schärpe machen einem Filmpiraten alle Ehre, dass Styles von Beruf jedoch Dirigent ist, würde man mit dieser Verkleidung nicht auf Anhieb vermuten. „Vorstellungen wie diese, sind anstrengend, noch dazu, wenn man zwei an einem Tag hat, so wie heute“ entschuldigt er seine ohnehin für mich nicht bemerkbare Atemlosigkeit. „Vorstellungen wie diese“ gibt Styles im Jahr nur wenige Male, dann nämlich, wenn er sich mit Alasdair Malloy um den Nachwuchs im Konzertsaal kümmert. „Erziehungs-Konzerte“ nennen sich diese Vorstellungen wenig attraktiv im Fachjargon, „Piraten“ klingt da schon spannender, und man kann sich ein „Bild“ machen, was da wohl auf die Kinder zukommen mag. „Alasdair macht seit langer Zeit Konzerte für Kinder, er hat damit in unserer Heimat in England begonnen und tourt mittlerweile mit seinen Programmen durch die ganze Welt. In Frankreich arbeitet er seit 2004 immer mit mir zusammen. Ich bin ja schon seit vielen Jahren im Lande, spreche die Sprache fließend und helfe ihm auf der Bühne auch mit Übersetzungen aus.“ Ob diese Konzerte auch einer intensiven Probenarbeit bedürfen, möchte ich wissen und bekomme als Antwort: „Ja, natürlich, vor allem geht es darum, den Musikern den Spaß an der Sache zu vermitteln. Und auch, dass ihre Freude auf die Kinder überschwappen muss.“ Dass dies im „Piratenkonzert“ gelang, war sicht- und spürbar. Nicht nur die Verkleidung der Orchestermitglieder, sondern auch ihre „Choreografie“ – mal beugten sich alle gleichzeitig bei Schiffsschräglage nach links, dann nach rechts, mal standen einzelne Instrumentalgruppen geschlossen auf, um sich nach wenigen Takten zu setzen und ihre Kollegen stehend „sprechen“ zu lassen, brachte Schwung und Fröhlichkeit auf die Bühne. „Alasdair stammt aus Schottland und ich bin in London aufgewachsen. Sein schottischer Dialekt und meine elegantere Aussprache prädestinieren uns auch für unsere Piratenrollen – er als Maat und ich als Steuermann“, Styles wird nicht müde, ein wenig über die Regieeinfälle zu plaudern. „In England gibt es eine lange Tradition der Pantomime, die vor allem um die Weihnachtszeit für Kinderkonzerte eingesetzt wird. Auf dem Festland ist diese Art noch relativ unbekannt. Wir wollen mit diesen Vorführungen vor allem auch zeigen, dass Musik Spaß bedeutet, dass man Freude daran haben kann, dass der Konzertsaal kein sakraler Tempel ist. Natürlich steckt dahinter auch der Gedanke, das Publikum für morgen für Konzerte zu begeistern“. Auf die Frage, ob denn die Kinder heute nicht ohnehin mit Musik durch die verschiedensten Medien überschwemmt würden, wirft Styles einen interessanten Gedanken ein: „Ja klar ist das so. Aber es ist auch eine interessante Entwicklung fest zu stellen. Zu Beginn der Audiowiedergabe stand die Monotechnik. Diese hat sich weiter entwickelt zur Mehrkanalwiedergabe bis zum Dolby-surround in der höchsten Qualitätsform. Aber heute sehen Sie vor allem die Kinder und Jugendlichen mit ihren Handys am Ohr Musik hören, ganz ohne Stereoeffekt. Das bedeutet einen Rückschritt und das Hören eines „realen Orchesters live“ hat eine ganz andere Qualität. Ein Orchester bietet nach wie vor den allerhöchsten Qualitätsstandard des Musikhörens an und dieser Klang ist mit nichts vergleichbar“. Ob er einen Unterschied zwischen dem englischen und dem französischen Kinderpublikum empfinden würde – diese Frage beantwortet er überraschend: „Das kann ich nicht sagen, denn mein Debüt in England hatte ich erst im vergangenen Herbst! Ich kam gleich nach meinem Studium als junger Mann nach Paris und bin immer in Frankreich geblieben. Ja ich bin in Paris geboren und wuchs aber in London auf, aber ich habe hier in Frankreich meine Familie und arbeite in Bordeaux. Deswegen habe ich keinen direkten Vergleich. Fast 95% meiner Zeit verbringe ich in der Oper, die ich sehr liebe.“ Styles ist seit 2002 stellvertretender Opernchef an der Opéra national in Bordeaux und arbeitet darüber hinaus mit dem „Orchestre national de Bordeaux Aquitaine“. „Können Sie Unterschiede zwischen Bordeaux und Strasbourg feststellen“ hake ich nach. „Nicht, was die Orchester betrifft. Das sind beides hervorragende Klangkörper. Aber mir fällt auf, dass die erzieherische Arbeit in Straßburg einen besonderen Stellenwert einnimmt. Sehen Sie sich einmal das Dossier an, das alle Lehrer schon lange vor der Aufführung bekommen haben, um ihre Schüler auf das Konzert vorzubereiten. Das ist wirklich fantastisch! Jedes „Nationalorchester“ in Frankreich ist ja verpflichtet, in einem gewissen Umfang mit Kindern zu arbeiten und jede Schulbehörde erarbeitet ihre eigenen Unterlagen hierzu . Hier in Straßburg arbeitet man auf diesem Gebiet vorbildlich“. In diesem Moment stürmt sein Maat herein. Über das linke Auge eine schwarze Augenklappe geschminkt ist es nicht leicht, Alasdair Malloy während des Gesprächs direkt anzusehen. „Entschuldigen Sie meine Verspätung, aber ich habe die Kinder am Ausgang noch verabschiedet. Das mach ich immer so, viele wollen auch noch ein gemeinsames Foto machen, das braucht immer seine Zeit, aber ich habe große Freude daran“, erklärt der Musiker gleich zu Beginn seinen kleinen Verzug. Wie lange er denn schon diese Art von Konzerten für Kinder mache, wie viele Programme er sich erarbeitet hätte und wie er überhaupt dazu gekommen sei, sind meine ersten Fragen. „Ach mein Gott, ich mache das schon über 20 Jahre. Über 40 Programme sind es bestimmt schon, aber ich habe sie noch gar nicht wirklich durchgezählt. Ich bin ja in meinem Hauptberuf erster Schlagwerker beim BBC Concert Orchestra und ich habe mehrere Kinderkonzerte erlebt, bei denen ich mir dachte: so geht das eigentlich nicht, so kann das nicht funktionieren. Es macht für mich keinen Sinn, die Kinder außen vor zu lassen, sondern sie müssen in das Programm mit eingebunden werden, die Musik muss adaptiert werden usw. Und so begann ich selbst, die Sache in die Hand zu nehmen. Ich denke mir nicht nur das Generalthema aus, sondern ich arrangiere auch die Musikstücke für diese Konzerte. Manches führen wir im Originaltext auf, aber anderes muss ich neu arrangieren, weil es z. B. zu lang ist. Wenn die Kinder, wie bei diesem Konzert, alle mitmachen können, wenn alle dirigieren, nicht nur ein oder zwei von ihnen auf der Bühne, dann haben auch alle etwas davon. Sie gehen nach Hause, voll Enthusiasmus und erzählen ihren Eltern davon. Das ist ein Beginn und kann sie auch später dazu animieren, ins Konzert zu gehen. Es ist schon interessant, denn ich bin schon so lange im Geschäft, dass ich in England bereits eine ganze Generation von Kindesbeinen an bis zum Erwachsenenalter mit meinen Konzerten begleitet habe. Wir haben da ein mehrstufiges Programm entwickelt, dass Konzerte je nach unterschiedlicher Altersstufe, anbietet“. „Sie reisen mit ihren Konzerten ja um die ganze Welt!“ „Ja, ich bin auch viel in Asien zu Gast, in Malaysia z. B. aber auch in China“. „Stellen Sie da Unterschiede im Publikum fest?“ „Oh ja, große sogar. Hier in Frankreich zum Beispiel besteht eine sehr hohe Affinität zur Kultur, Frankreich ist eine „Kulturnation“, das spürt man auch in der Erziehung der Kinder, in ihrer Reaktion. Sie wissen um die „Etikette“, wie man sich benehmen muss, und sind überrascht, dass sie in einem Konzert auch Spaß haben dürfen. In England wiederum gibt es diese Tradition schon viel länger, aber trotzdem gibt es viele Kinder, die vor so einem Konzert noch nie im Konzertsaal waren. Ich passe da die Auswahl der Stücke an, lasse kürzere und leichtere spielen; besonders auffallend ist jedoch das Benehmen der Kinder in China. Durch die restriktive „Ein-Kind-Politik“ haben diese Kinder ein anderes soziales Verhalten. Sie werden von ihren Eltern verhätschelt und sind außer Rand und Band. Rennen im Konzertsaal herum und können sich lange nicht so gut konzentrieren. Das ist dann für die Musiker und mich eine richtige Herausforderung. So unterschiedlich aber das Publikum ist, eines stelle ich immer wieder fest: Die Orchestermusikerinnen und –musiker sind überall gleich. Sie sind großzügig, schenken mir Zeit und nach der ersten Probe spielen sie mit enormem Enthusiasmus. Sie vertrauen mir auch, da sie sehen, dass ich die Arrangements selbst mache und Erfahrung habe. Wissen Sie, es ist aber nicht so, dass Musik nur etwas ist, wo man die Ohren benötigt. Das Zuhören erzeugt im besten Fall Vorstellungen und Bilder und ich hoffe sehr, dass ich mit dem was ich mache hier auf dem richtigen Weg für die Kinder bin. Wir möchten auch zeigen, dass es sich dabei um eine Gemeinschaftsarbeit, um ein Gemeinschaftsgefühl handelt, in dem man gut aufgehoben ist.“ Noch immer habe ich Schwierigkeiten, mich im Piratengesicht von Alasdair zurechtzufinden und Mühe, das Gespräch zu beenden, das den Enthusiasmus dieser beiden Musiker auf so direkte Weise widerspiegelt. Ob sie noch eine kleine Botschaft an das junge Publikum hätten, beschließe ich dieses „Pas-de-deux“ der beiden Herren. „Oh ja, macht Musik! Lernt ein Instrument, spielt in einem Jugendorchester oder singt in einem Chor. Ein Orchester ist ein unglaubliches, soziales Gebilde“ antwortet Alasdair Malloy sofort und Geoffrey Styles fällt ihm fast ins Wort: „Ja, und außerdem ist es auch ein unglaubliches Privileg, diese Freude mit anderen Musikern zu teilen“.
Dalip Kryeziu in der Galeria Kombetare e Arteve in Tirana (Foto: Josef Hagen)
Anlässlich einer Ausstellung für den Künstler Dalip Kryeziu, die ich in Tirana in der staatlichen Galerie für zeitgenössische Kunst mit einer Rede eröffnen durfte, erlebte ich im November während 2 Tagen Aufenthalt geballte Eindrücke einer Stadt, die sich im Wandel befindet.
Wofür ist Albanien eigentlich bekannt? Für ein Land, das bis 1990 kommunistisch war. Für ein Land voll geographischer Gegensätze. Berge und blitzblaues Meer, kleine Dörfer mit landwirtschaftlichem Gepräge und der Hauptstadt Tirana, die ein Schmelztiegel verschiedener Religionen ist. Christlich-orthodoxe, Katholiken und Muslime leben dort auf engstem Raum friedlich miteinander – seit Religionsfreiheit wieder erlaubt ist. Dass sich Albanien in den letzten Jahren weit geöffnet hat und versucht, das wirtschaftliche Defizit so rasch wie möglich aufzuholen, ist nur jenen bekannt, die in Albanien Engagement zeigen. Zum Beispiel die Österreichische Raiffeisenbank. Mit ihrem Logo auf neuen Gebäuden in Tirana omnipräsent, hat sie sich in den letzten Jahren durch ihr hohes Engagement im Land profiliert. Ob dies belohnt wird, wird sich wohl in den nächsten Monaten herausstellen. Die Krise hat auch die Finanzwelt Albaniens erfasst. In Tirana ist davon aber nichts zu bemerken. Geschäftiges Treiben nicht nur in den Geschäften, sondern vor allem unter freiem Himmel ist zu sehen. Im mondänen Viertel der Stadt reihen sich in schicken Geschäften die bekannten Marken dieser Welt aneinander. Swarovski zum Beispiel, Benetton oder Pierre Cardin. Unweit davon bietet sich ein gänzlich anderes Bild: Frauen, die am Boden sitzend kleine Häkeldeckchen herstellen, ein Ehepaar, dass auf einem Campingtisch Tee in Plastikflaschen anbietet, ein Maronibrater, auf einem Schemel hockend, vor sich eine kleine, improvisierte Glutstelle, über der ein einfacher Grillrost angebracht ist, auf dem die Maroni rösten. Die Einmann- und Einfraubetriebe sind allgegenwärtig. Was hier wirtschaftlich zusammenprallt – der Turbokapitalismus, der auf die Nachwehen des Kommunismus trifft – ist auch optisch im Stadtbild sichtbar.
Ein kleiner Ausflug hinter die Galeria Kombetare et Arteve – der nationalen Galerie für zeitgenössischen Kunst in Tirana – lässt den Ausspruch des Direktors dieses Museums, Rubens Shima, lebendig werden. „Unsere Künstler brauchen keine ready-mades zu machen, wir leben ja umgeben davon!“ Und tatsächlich lässt sich dort, im „Hinterhof“ des musealen Tempels, komprimiert dieser Ausspruch auf ein Foto bannen. Links im Bild monumentale Statuen von Lenin und Stalin, mit abgehackten Armen, etwas rechts davon eine neu erbaute, christliche Kirche. Auf ihrem Dach ein weißer Christus – Rio-ähnlich- blickt er in Richtung eines ebenso neu erbauten Wohnblocks. Der ist gekrönt von einer meterhohen Leuchtschrift, Tag und Nacht gleichermaßen beeindruckend mit den Lettern: Raiffeisenbank.
Allein diese kurze Beschreibung zeigt, was sich in Albanien derzeit abspielt. Ich kenne kein europäisches Land, das mit einem größeren Spannungsbogen ausgestattet ist, was die wirtschaftliche, ideologische und religiöse Orientierung betrifft. Und in dieser Neubestimmung versuchen die Menschen mit dem kleinen bisschen offerierter Freiheit ein kleines bisschen privates Glück zu erarbeiten. In vielen Lokalen arbeitet die gesamte Familie mit – Mutter in der Küche, Töchter im Service, Vater als Einkaufsmanager, Finanzberater und Handwerker vom Dienst, der repariert, was gerade kaputt geht. Aber es gibt auch die Shootingstars in der Wirtschaftsszene, die so viel Geld haben, dass sie als Mäzen auftreten und sich ein eigenes Museum leisten können, wie die Familie Mezuraj. Ihr gehört das erste und bislang einzige Museum dieser Art, das in Tirana im 5. Stockwerk eines Neubaues angesiedelt ist. Zwischen archäologischen Ausgrabungsstücken, Postimpressionisten des 20. Jahrhunderts und einigen zeitgenössischen Malern, die sich einem metaphorischen Symbolismus verschrieben haben, oder einfach nur der Darstellung des weiblichen Aktes frönen, bewegt sich das bislang zusammen Getragene. Es scheint, als würde die Neufindung auch für die Kunst gelten – und das ist kein Wunder.
Ein Land, das bis 1990 vom Rest der Welt und ganz besonders vom kulturellen Geschehen der westlichen Welt abgeschnitten war, bemüht sich, im Schnelldurchlauf all das aufzuholen, was es im 20. Jahrhundert versäumt hat. Noch einmal sei der Museumsdirektor Rubens Shima zitiert: „Die Moderne hat Albanien nicht erfasst. Und das, was hier unter Moderne verstanden wird, äußert sich in kubistischen Landschaften!“ Dass es auch anders geht, zeigen einige Beispiele von albanischen Künstlerinnen und Künstlern, die den Absprung nach Mitteleuropa geschafft haben. Und doch sind jene, die im Land künstlerisch tätig sind mit einer schwierigen, wirtschaftlichen Situation konfrontiert. Der Publikumsgeschmack, der über Jahrzehnte am kommunistischen Realismus geschult wurde, ist nicht von heute auf morgen von den Entwicklungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu überzeugen. Deutlich wird dies nicht nur in den Lokalen und Gaststätten, sondern auch in meinem Hotel, das hunderte von Ölgemälden und Graphiken beherbergt. Der Empfangsraum, das Treppenhaus, die kleine Bar – alle Wände sind eng an eng mit Bildern bestückt. Albanien liebt seine Maler, an andere zeitgenössische, künstlerische Ausdrucksformen muss es sich erst gewöhnen. Ziso Kamberaj, obwohl Maler, war lange ungeliebt. Als Student in der Akademie wurde er wegen seiner Abschlussarbeit gerügt. Ein junger, melancholisch blickender Mann, der auf einem unsichtbaren Stuhl sitzt war nicht parteikonform. Kamberajs Professor argumentierte: „Es gibt keine Menschen, die in der Luft sitzen und schon gar keine jungen Albaner, die traurig sind!“ Kamberajs Glück kam mit dem Sturz des Kommunismus. „Als ich mit der Akademie fertig war, war ich persona non grata“, erklärt er heute, zwar ohne Bitternis, aber wohl mit der Erkenntnis, dass es eine Gnade ist, in einem demokratischen Land geboren zu werden, und ein Pech, wenn man diese Gnade nicht erleben durfte.
Mitnichten aber scheinen die Künstler fatalistisch. Vielmehr wissbegierig, offen, diskussionsfreudig. Bei der Eröffnung der Ausstellung Dalip Kryezius, die vom 20. November bis 19. Dezember in der Galeria Kombetare e Arteve gezeigt wurde, erlebte ich eine seltene Gesprächskultur. Dalip Kryeziu, aus dem Kosovo stammender Österreicher, der seine Familie in der Kriegszeit von einem kleinen Dorf im Kosovo nach Albanien gerettet hatte, wird umringt von albanischen Kollegen. Sie schreiten in einem kleinen Pulk von Bild zu Bild und diskutieren heftig. Ich erinnere mich nicht, im saturierten, mitteleuropäischen Kulturbetrieb jemals einen derart intensiven Gedankenaustausch anlässlich einer Ausstellungseröffnung erlebt zu haben. „Ich fühle mich sehr geehrt, und ich bin auch sehr froh über das Urteil dieser Künstler. Das bedeutet mir viel“ erklärt mir Dalip am Abend beim Essen in einem schicken Lokal. Aufgetragen wird, was die Küche hergibt. Albanische Spezialitäten, frisch gekocht, zu Ehren des Künstlers und seiner Freunde. Mit der Ausstellung zeigt Tirana sein zeitgenössisches, kulturelles Antlitz. Dalips Arbeiten, die sich auf der Basis der unterschiedlichen, malerischen Strömungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelt haben und eine eigene, künstlerische Handschrift aufweisen, künden von einer anderen künstlerischen Welt als jener in Tirana. Von einer Welt, in der große Formate verkäuflich sind, von einer Welt, die sich nicht mit politischen Altlasten abmühen muss, von einer Welt, in der der Kunstmarkt – auch in der jetzigen Krisenzeit – blüht. Dalip Kryezius` Ausstellung wird als Zeichen begriffen. Es ist ein Statement des Künstlers selbst, der damit seine Verbundenheit mit dem Land zum Ausdruck bringen möchte aber es ist auch ein Zeichen, künstlerische Einzelpositionen, die außerhalb Albaniens entwickelt wurden, vorzustellen.
Illy Drishti, der Kurator der Ausstellung, hebt in der Pressekonferenz, zu der zwei Fernsehsender und einige Printmedienvertreter gekommen sind, hervor, dass die Arbeiten Dalips, sosehr sie auch mit persönlichem Erleben aufgeladen sind, als allgemein gültige Metaphern gelesen werden können. Als Bilder, die auch für die Betrachter selbst relevante Inhalte zur Verfügung stellen. Hier klingt noch zart nach, dass Kunst der Allgemeinheit dienen muss, oder zumindest jahrzehntelang dienen musste. Die Idee, selbstreferenzierende oder zumindest marktreferenzierende Arbeiten herzustellen ist noch nicht wirklich gefestigt.
Was ich noch nicht erwähnte, ist die Liebenswürdigkeit der Albaner. Sie ist einfach umwerfend. Ich hatte immer das Gefühl willkommen zu sein und fühlte mich wohl in einem Umfeld, dass begierig ist, Neues aufzunehmen und über die eigenen Grenzen zu blicken. Dass ich am Flughafen wegen einer rigiden Passkontrolle einer jungen Polizistin, die einen menschlichen Mega-Stau auslöste, schließlich beinahe mein Flugzeug nicht mehr erreichte, war das einzige Erlebnis, das deutlich machte, dass in Albanien die Uhren doch noch anders ticken als in Mitteleuropa.
Um die Kunstszene tatsächlich beurteilen zu können, reichte die Zeit nicht. Aber es folgten Einladungen und Wünsche zu einer weiteren Zusammenarbeit. Albanien, I will come again!
Die Turntables liefen an diesem Abend heiß (Photo: A. Schuster)
Ondes de choc – vorweihnachtliches Hard-core-Event in der Laiterie in Straßburg
Mit einem Großaufgebot an bekannten französischen DJ´s richtete die Laiterie in Straßburg ihr vorweihnachtliches Programm aus. Radium, Lenny D, Maissouille, Miss Tiffy und die Programers waren an den Turntables aktiv. Die vorweihnachtliche Party-Zone erstreckte sich über zwei Floors – einer Hard-Core- und einer Techno- Area. Schon in den Öffis waren die Besucherinnen und Besucher der Laiterie an ihren Outfits zu erkennen. Mit Pearcings, bunten Haaren, ausrasierten Schläfen, Dread-locks, und verschiedensten labels und DJ-Namen auf den T-Shirts hoben se sich von den extrem uniformistisch gekleideten Franzosen in der futuristischen Tram von Straßburg ab. Spätestens als diese Mitfahrer ebenfalls bei der Haltestelle „laiterie“ die Straßenbahn verließen, bestätigte sich die Vermutung , dass es sich wirklich um die Besucher des Hardcore-Festivals handelte. In eisiger Kälte bei minus 16 Grad warteten die ersten 50 eine knappe halbe Stunde auf den Einlass, um dann die location im wahrsten Sinne des Wortes zu stürmen. Kein Wunder – bei den Temperaturen. Drinnen ging´s dann aber umso heißer zu.
Frenchcore in der Laiterie ließt das Publikum abtanzen (Photo: A. Schuster)
Der Hauptact – Radium – war erst für 2 Uhr angesetzt, was aber die Leute nicht daran hinderte, schon vorher abzutanzen. Radium – mit 36 der Hard-core-Veteran unter den Franzosen, der in den 90ern mit Shock-waves gemeinsam begann, hard-core zu performen, hat einen vollen Terminkalender für kommendes Jahr. Deutschland, Schweiz, Holland und Italien stehen neben Frankreich auf dem Tourneeplan. In seinem neuen Album „master-piss“ zeigt er – entgegen den vorigen Alben – seine roots auf. Sein Stil wird als French-core bezeichnet. Die männliche Phalanx der Dj´s wurde an diesem Abend nur von Miss Tiffy (Urban poison) durchbrochen. Sie ist eine der ganz wenigen weiblichen artists in diesem Metier und es ist kaum zu glauben, mit welchem drive die zarte Djane dem überwiegend männlichen Publikum einheizt. 1999 tanzte sie in Paris das erste Mal auf einer hard-core-Party. Mit hard-core aufgewachsen, der im Osten von Frankreich extrem populär ist, begann sie schließlich selbst aufzulegen. Das Ungewöhnliche an ihrer performance waren die häufigen breaks , an welchen man deutlich den Einfluss der Industrial-Szene der 90-er Jahre erkannte. Für September 2010 ist die Gründung eines eigenen labels geplant. „Hardcore will never die“ – diesen Satz wollte Miss Tiffy unbedingt im Interview unterbringen – here it is! Julien und Pierre-Yves, die Programers, erklärten uns den Begriff French-core: In diesem style kann Verschiedenes wie Hip-Hop, Metal, Video-games und sound-samples gemischt werden. Vor allem die Prorgamers lieben den sound von Video-games. Hard-core bedeutet für die beiden Unabhängigkeit und Freiheit. Ihr faible für Filmmusik und samples von Video-games ist für sie bezeichnend. Dass Julien noch dazu aussieht wie die junge, blonde Ausgabe von Quentin Tarantino, bringt ihnen einen zusätzlichen Wiedererkennungswert. Vielleicht kann man sie nächstes Jahr auch in Wien hören. Die beiden fanden es gut, ein Interview machen zu können, da es für hard-core wenige Medien gibt, die darüber berichten. Deswegen machen news aus dieser Szene nur langsam die Runde. Free-parties gibt es in Frankreich aufgrund der polizeilichen Restriktionen so gut wie gar nicht mehr, was eigentlich der Idee von Hard-core völlig widerspricht. Eintritte mit 16 Euro können sich nur wenige leisten – unter der Regierung von Sarkozy sind die Veranstalter jedoch gezwungen, öffentlich zu agieren. Der Begriff Festival hat sich deswegen ironischerweise in der Szene in „Sarko-val“ geändert – was eigentlich schon alles aussagt. Trotz der hohen Getränkepreise und dem Rauchverbot war die Stimmung ungebrochen. Als wir die Party um 3 Uhr morgens als eine der ersten verließen, war noch kein Ende absehbar. „The movement should be going!“ (Zit: Maissouille)
Der Video vermittelt zumindest einen kleinen Eindruck des Abends.
Anlässlich seines Gastauftrittes mit dem OPS, dem Philharmonischen Orchester Straßburg, das seit 20 Jahren das erste Mal wieder den Messias aufführte, gab John Nelson ein Exklusivinterview.
Herr Nelson, wie oft haben Sie schon mit dem OPS zusammen gearbeitet?
Oh, da muss ich kurz nachdenken – das ist jetzt bereits das dritte Mal. Ich bin nicht besonders gut im Zählen der Jahre, aber das erste Mal ist bestimmt schon 15 Jahre her und das letzte Mal 8 Jahre.
Innerhalb der letzten 8 Jahre hat sich das Orchester in seiner Zusammensetzung klarerweise verändert. Können Sie einen Unterschied erkennen?
Ich kann das nicht, denn ich kann nicht Äpfel mit Birnen vergleichen. Ich arbeite dieses Mal mit einem kleinen, barocken Klangkörper, die letzten Male mit großem Orchester. Barockmusik ist für das OPS etwas Neues und ich bin sehr beeindruckt wie, flexibel sie agieren. Es gibt viele junge Musiker und Musikerinnen. Schon nach der ersten Probe haben sie wundervoll reagiert. Sie müssen ja ihre Technik anpassen, den Bogen kürzer halten – dadurch müssen sie automatisch die Streichinstrumente höher halten. So kommt ein anderer Ton zustande. Die Instrumente waren damals kleiner und wurden anders gestrichen. Nicht wie heute, mit dem Vibrato in der linken Hand. Man kann das schön vergleichen wie ein Tennis- und ein Ping-Pong-Spiel. Für letzteres braucht man einen viel kleineren Schläger. Das Spiel läuft viel schneller. Man braucht mehr Energie und eine höhere Geschwindigkeit. Man spielte einen schlankeren Ton, ohne Vibrato. Deswegen muss die rechte Hand dieses Vibrato ausgleichen. Die Musiker im Orchester hören aber schnell den Unterschied im Klang und passen dann ihr Spiel mit einem verkürzten Bogen an. Für mich ist aber nicht die Technik das Wichtigste. Ich sage immer: Es ist wichtig, dass Sie mit Freude spielen. Spielen Sie lieber mit Vibrato, als ohne Freude! Ohne Freude geht gar nichts! Und diese Musiker haben viel Freude beim Spielen – Sie werden das sicherlich sehen können.
Glauben Sie, dass der Spaß an der Musik eine typisch amerikanische Art ist, sich mit dem Thema zu beschäftigen?
Nein, dem möchte ich nicht beipflichten. In jeder Musikperiode, egal ob in der Renaissance, im Barock, im Rokoko und so weiter, immer gab und gibt es dieselben Emotionen. Zorn, Glück, Melancholie, Freude. Man muss herausfinden, wie man sich in der jeweiligen Periode musikalisch ausdrückte. Ich glaube also nicht, dass Spaß oder die Freude ein typisch amerikanischer Zugang ist. Freude kann man in allen Gesichtern sehen. Wenn die Musikerinnen und Musiker mit Freude spielen, sind sie ja selbst viel glücklicher und erfüllter.
Erleben Sie Musikerinnen oder Musiker, die nicht mit Freude musizieren?
Und ob! Leider immer wieder. Sie kommen ins Orchester und machen einfach ihren Job, das war´s. Mir tun diese Leute leid, die eigentlich keine Lust zum Spielen haben. Es ist auch schade, denn sie verstehen ihre Rolle falsch. Das Orchester steht zwischen dem Komponisten und dem Publikum. Es muss den Geist des Komponisten aufnehmen und es ist dabei wichtig, den Zauber zu finden. Ich sage den Musikern auch immer: Die Leute kommen und zahlen viel Geld dafür, dass Sie Euch spielen hören. Das alleine ist schon ein Ansporn, nicht langweilig zu spielen. Holt Sie mit Eurer Interpretation heraus aus ihrem mondänen Leben.
Was ist für Sie Ihre Hauptaufgabe als Dirigent?
Zu begeistern. Das ist sehr einfach und zugleich sehr kompliziert. Die Musikerinnen und Musiker sind alles intelligente Menschen und sehr gut ausgebildet. Was soll ich Ihnen da groß erzählen? Was ich machen kann, ist sie zu begeistern. Das ist meine oberste Pflicht. Nicht korrekt zu sein, nicht fundamentalistisch, ohne Leben zu sein. Ich versuche gemeinsam mit den Musikerinnen und Musikern immer ein wenig besser zu werden. Gestern war ich in Colmar im Museum „Unter den Linden“. Ich sah dort den großartigen Altar von Matthias Grünewald und war völlig begeistert. Wir hatten gestern Generalprobe, aber ich weiß, dass ich heute, mit dem Eindruck dieses Altars im Kopf den Messias noch anders dirigieren werde. Der Messias erzählt ja eine Geschichte. Diese Geschichte müssen die Musikerinnen und Musiker lieben, um sie richtig ausdrücken zu können. Ich spreche mit den Orchestermitgliedern immer über die Idee, die hinter den Noten steckt. Es tut mir leid, wenn Musiker nicht singen können. Sängerinnen und Sänger arbeiten automatisch mit dem Text, mit der Idee und mit den Geschichten. Im Orchesterkonzert wird all das nur durch Musik ausgedrückt. Deswegen ist es notwendig, die Idee, die dahinter steckt, auch klar zu machen. Der erste Satz des Messias ist mit „grave“ überschrieben. Und was hört man sehr oft? Ein leichtes, tänzerisches Motiv. Aber das ist falsch. Der erste Satz handelt vom Schicksal des unschuldigsten Menschen dieser Erde – von seiner Einsamkeit und seiner Traurigkeit, das muss grave gespielt werden. Danach erst wird es lustig – schließlich hat die Geschichte ja ein happy-end! In der Probe sprach ich mit den Musikerinnen und Musikern über Theologie und über die Auferstehung, damit sie sich in die Geschichte einfühlen können.
Im Untertitel der von Ihnen mit gegründeten Organisation „Soli Deo Gloria“ ist zu lesen, „sakrale Musik für eine dürstende Welt“. Was ist mit Durst hier gemeint? Der Durst nach Spiritualität, der Durst nach Religiosität?
Religiös würde ich nicht sagen, das hat heute einen schlechten Beigeschmack. Sakrales oder Spirituelles findet man heute außerhalb unserer Welt. Es ist nicht mehr mitten unter uns. Aber es existiert. Grünewald zum Beispiel schuf etwas Großartigeres. Was wir sehen, was wir sehen können, ist nicht das, was es wirklich ist. Es ist nur ein Abbild von etwas Großartigerem. Betrachtet man die Türme der Kirchen oder der Minarette, so muss man sie als Symbole betrachten. Als Symbole, das es über uns etwas gib, was fantastisch ist. Die von Ihnen angesprochene Organisation „Soli Deo Gloria“ verfolgt drei Ziele. Erstens vergibt die Organisation Auftragskompositionen. Sakrale Musik wurde in der Vergangenheit komponiert. Wir möchten aber die Tradition, die so viel Großartiges schuf, aufrecht erhalten. Zweitens veranstalten wir Konzerte in armen Ländern. Die Dirigenten, manches Mal auch die Solisten, arbeiten dafür ohne Bezahlung. Lediglich die Kosten werden ersetzt. Ich trete im Schnitt zwei Mal im Jahr bei einem dieser Konzerte als Dirigent auf. Begonnen haben wir in China vor 18 Jahren. Wir spielten das erste Brahms Requiem in China. Es wurde landesweit übertragen. Für die Sängerinnen und Sänger war es extrem schwer, da sie die Harmonien überhaupt nicht gewohnt waren. Gesungen wurde in chinesischer Sprache und obwohl es für sie schwer zu erarbeiten war, liebten sie es. Seit diesem Auftritt bin ich beinahe alle 2 Jahre in China. Ich führte dort den Elias auf, den Messias, aber auch die Jahreszeiten oder das Berlioz-Requiem. Jetzt bin ich dort als der „religiöse Dirigent aus Amerika“ bekannt. Wir hatten aber auch Konzerte in Sibirien, Kiew, in Rumänien und Armenien. Dieses Jahr dirigierte ich in Costa Rica. Das Orchester dort ist sehr arm, aber die Zusammenarbeit mit dem Orchester und dem Chor hatte eine ganz spezielle Bedeutung. Wir erarbeiteten die B-moll Messe von Bach, die das erste Mal überhaupt in Lateinamerika aufgeführt wurde. Die Arbeit daran hat Menschen, die daran teil genommen haben, verändert. Ich erhielt Briefe von Chormitgliedern, die mir darin schrieben: „ich werde nie mehr der sein, der ich davor gewesen bin“. Und der Konzertmeister des Orchesters sagte mir: „Die Musikgeschichte in Costa Rica kann man in zwei Perioden einteilen. Die eine vor und die andere nach der Aufführung der Bachmesse“. Das war ein ganz besonderes Erlebnis. Die dritte Aufgabe von „Soli Deo Gloria“ schließlich ist noch das Einspielen von sakraler Musik. Wir haben die Missa solemnis auch auf DVD aufgenommen und planen eine Aufnahme mit der Schöpfung. Dieses Unternehmen braucht sehr viel Geld und wird durch Spenden finanziert.
Wenn Sie dirigieren, dann sind Sie der gebende Teil – erhalten Sie auch vom Orchester etwas zurück?
Wenn ich als Gastdirigent tätig bin, wie z.B. hier in Straßburg, dann spreche ich mit dem Orchester nicht darüber. Aber zu „meinem“ Orchester, dem „Ensemble Orchestre de Paris“ sage ich direkt: „Ihr müsst mir genauso viel zurück geben, wie ich Euch gebe, damit es funktionieren kann. Gestern, bei der Generalprobe mit dem OPS sagte ich zum Beispiel: „Sie haben mir etwas ganz Besonderes gegeben. Wenn ich in England das Stück dirigiere, dann sagen die Musikerinnen und Musiker dort: „Oh, wie langweilig. Wir kennen den Messias ja in- und auswendig“. Sie aber haben seit 20 Jahren den Messias nicht mehr aufgeführt. Und sie spielen es so frisch, so ergriffen, mit einem ganz speziellen Geist – ja Sie haben sich darin richtig verliebt. Das ist etwas Wunderbares!“ Ich dirigiere sehr gerne in Europa. Hier sind im Gegensatz zu Amerika die meisten Orchester noch vom Staat finanziell unterstützt. In Amerika geben reiche Leute ihr Geld dafür, aber das ist nicht der richtige Weg. Heutzutage ist die klassische Musik in Amerika stark im Abnehmen begriffen. Sie leidet aufgrund der ökonomischen Situation aber auch darunter, dass sie Teil der Globalisierung geworden ist. Das Fernsehen, das mit Werbung finanziert wird, ist auf einem verdummenden Niveau angesiedelt, weil es sich danach richtet, was die meisten Menschen sehen wollen.
Möchten Sie unserer Leserschaft noch etwas ganz Persönliches mitteilen?
Ja gerne! Unsere Gesellschaft braucht die Musik. Klassische Musik ist das Beste, was in der Geschichte überhaupt produziert wurde. Sie ist nicht nur Unterhaltung, sondern auch ein „Lebensmittel“ für das Publikum, das wir im Begriff sind, zu verlieren, aber das wir unbedingt bewahren sollten. Ich möchte das Publikum aber auch auffordern, sich auch zeitgenössische Musik anzuhören. Vieles davon ist großartig. Das, was das Philharmonische Orchester hier in Straßburg an zeitgenössischer Musik aufführt ist vom Feinsten, davon kann man ausgehen, sonst würde es nicht aufgeführt werden. Vielleicht klingt es etwas ungewöhnlich, aber man sollte die Ohren dafür aufmachen, um in die Welt der zeitgenössischen Kunst eintauchen zu können.
Ich danke sehr herzlich für das Gespräch.
Das Interview führte Dr. Michaela Preiner am 17. Dezember in Straßburg