Interview mit dem Dirigenten John Nelson
21. Dezember 2009
Anlässlich seines Gastauftrittes mit dem OPS, dem Philharmonischen Orchester Straßburg, das seit 20 Jahren das erste Mal wieder den Messias aufführte, gab John Nelson ein Exklusivinterview. Herr Nelson, wie oft haben Sie schon mit dem OPS zusammen gearbeitet? Oh, da muss ich kurz nachdenken – das ist jetzt bereits das dritte Mal. Ich bin nicht […]
Michaela Preiner
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John Nelson (photo David Zaugh)

John Nelson (photo David Zaugh)

Anlässlich seines Gastauftrittes mit dem OPS, dem Philharmonischen Orchester Straßburg, das seit 20 Jahren das erste Mal wieder den Messias aufführte, gab John Nelson ein Exklusivinterview.

Herr Nelson, wie oft haben Sie schon mit dem OPS zusammen gearbeitet?

Oh, da muss ich kurz nachdenken – das ist jetzt bereits das dritte Mal. Ich bin nicht besonders gut im Zählen der Jahre, aber das erste Mal ist bestimmt schon 15 Jahre her und das letzte Mal 8 Jahre.

Innerhalb der letzten 8 Jahre hat sich das Orchester in seiner Zusammensetzung klarerweise verändert. Können Sie einen Unterschied erkennen?

Ich kann das nicht, denn ich kann nicht Äpfel mit Birnen vergleichen. Ich arbeite dieses Mal mit einem kleinen, barocken Klangkörper, die letzten Male mit großem Orchester. Barockmusik ist für das OPS etwas Neues und ich bin sehr beeindruckt wie, flexibel sie agieren. Es gibt viele junge Musiker und Musikerinnen. Schon nach der ersten Probe haben sie wundervoll reagiert. Sie müssen ja ihre Technik anpassen, den Bogen kürzer halten – dadurch müssen sie automatisch die Streichinstrumente höher halten. So kommt ein anderer Ton zustande. Die Instrumente waren damals kleiner und wurden anders gestrichen. Nicht wie heute, mit dem Vibrato in der linken Hand. Man kann das schön vergleichen wie ein Tennis- und ein Ping-Pong-Spiel. Für letzteres braucht man einen viel kleineren Schläger. Das Spiel läuft viel schneller. Man braucht mehr Energie und eine höhere Geschwindigkeit. Man spielte einen schlankeren Ton, ohne Vibrato. Deswegen muss die rechte Hand dieses Vibrato ausgleichen. Die Musiker im Orchester hören aber schnell den Unterschied im Klang und passen dann ihr Spiel mit einem verkürzten Bogen an. Für mich ist aber nicht die Technik das Wichtigste. Ich sage immer: Es ist wichtig, dass Sie mit Freude spielen. Spielen Sie lieber mit Vibrato, als ohne Freude! Ohne Freude geht gar nichts! Und diese Musiker haben viel Freude beim Spielen – Sie werden das sicherlich sehen können.

Glauben Sie, dass der Spaß an der Musik eine typisch amerikanische Art ist, sich mit dem Thema zu beschäftigen?

Nein, dem möchte ich nicht beipflichten. In jeder Musikperiode, egal ob in der Renaissance, im Barock, im Rokoko und so weiter, immer gab und gibt es dieselben Emotionen. Zorn, Glück, Melancholie, Freude. Man muss herausfinden, wie man sich in der jeweiligen Periode musikalisch ausdrückte. Ich glaube also nicht, dass Spaß oder die Freude ein typisch amerikanischer Zugang ist. Freude kann man in allen Gesichtern sehen. Wenn die Musikerinnen und Musiker mit Freude spielen, sind sie ja selbst viel glücklicher und erfüllter.

Erleben Sie Musikerinnen oder Musiker, die nicht mit Freude musizieren?

Und ob! Leider immer wieder. Sie kommen ins Orchester und machen einfach ihren Job, das war´s. Mir tun diese Leute leid, die eigentlich keine Lust zum Spielen haben. Es ist auch schade, denn sie verstehen ihre Rolle falsch. Das Orchester steht zwischen dem Komponisten und dem Publikum. Es muss den Geist des Komponisten aufnehmen und es ist dabei wichtig, den Zauber zu finden. Ich sage den Musikern auch immer: Die Leute kommen und zahlen viel Geld dafür, dass Sie Euch spielen hören. Das alleine ist schon ein Ansporn, nicht langweilig zu spielen. Holt Sie mit Eurer Interpretation heraus aus ihrem mondänen Leben.

Was ist für Sie Ihre Hauptaufgabe als Dirigent?

Zu begeistern. Das ist sehr einfach und zugleich sehr kompliziert. Die Musikerinnen und Musiker sind alles intelligente Menschen und sehr gut ausgebildet. Was soll ich Ihnen da groß erzählen? Was ich machen kann, ist sie zu begeistern. Das ist meine oberste Pflicht. Nicht korrekt zu sein, nicht fundamentalistisch, ohne Leben zu sein. Ich versuche gemeinsam mit den Musikerinnen und Musikern immer ein wenig besser zu werden. Gestern war ich in Colmar im Museum „Unter den Linden“. Ich sah dort den großartigen Altar von Matthias Grünewald und war völlig begeistert. Wir hatten gestern Generalprobe, aber ich weiß, dass ich heute, mit dem Eindruck dieses Altars im Kopf den Messias noch anders dirigieren werde. Der Messias erzählt ja eine Geschichte. Diese Geschichte müssen die Musikerinnen und Musiker lieben, um sie richtig ausdrücken zu können. Ich spreche mit den Orchestermitgliedern immer über die Idee, die hinter den Noten steckt. Es tut mir leid, wenn Musiker nicht singen können. Sängerinnen und Sänger arbeiten automatisch mit dem Text, mit der Idee und mit den Geschichten. Im Orchesterkonzert wird all das nur durch Musik ausgedrückt. Deswegen ist es notwendig, die Idee, die dahinter steckt, auch klar zu machen. Der erste Satz des Messias ist mit „grave“ überschrieben. Und was hört man sehr oft? Ein leichtes, tänzerisches Motiv. Aber das ist falsch. Der erste Satz handelt vom Schicksal des unschuldigsten Menschen dieser Erde – von seiner Einsamkeit und seiner Traurigkeit, das muss grave gespielt werden. Danach erst wird es lustig – schließlich hat die Geschichte ja ein happy-end! In der Probe sprach ich mit den Musikerinnen und Musikern über Theologie und über die Auferstehung, damit sie sich in die Geschichte einfühlen können.

Im Untertitel der von Ihnen mit gegründeten Organisation „Soli Deo Gloria“ ist zu lesen, „sakrale Musik für eine dürstende Welt“. Was ist mit Durst hier gemeint? Der Durst nach Spiritualität, der Durst nach Religiosität?

Religiös würde ich nicht sagen, das hat heute einen schlechten Beigeschmack. Sakrales oder Spirituelles findet man heute außerhalb unserer Welt. Es ist nicht mehr mitten unter uns. Aber es existiert. Grünewald zum Beispiel schuf etwas Großartigeres. Was wir sehen, was wir sehen können, ist nicht das, was es wirklich ist. Es ist nur ein Abbild von etwas Großartigerem. Betrachtet man die Türme der Kirchen oder der Minarette, so muss man sie als Symbole betrachten. Als Symbole, das es über uns etwas gib, was fantastisch ist. Die von Ihnen angesprochene Organisation „Soli Deo Gloria“ verfolgt drei Ziele. Erstens vergibt die Organisation Auftragskompositionen. Sakrale Musik wurde in der Vergangenheit komponiert. Wir möchten aber die Tradition, die so viel Großartiges schuf, aufrecht erhalten. Zweitens veranstalten wir Konzerte in armen Ländern. Die Dirigenten, manches Mal auch die Solisten, arbeiten dafür ohne Bezahlung. Lediglich die Kosten werden ersetzt. Ich trete im Schnitt zwei Mal im Jahr bei einem dieser Konzerte als Dirigent auf. Begonnen haben wir in China vor 18 Jahren. Wir spielten das erste Brahms Requiem in China. Es wurde landesweit übertragen. Für die Sängerinnen und Sänger war es extrem schwer, da sie die Harmonien überhaupt nicht gewohnt waren. Gesungen wurde in chinesischer Sprache und obwohl es für sie schwer zu erarbeiten war, liebten sie es. Seit diesem Auftritt bin ich beinahe alle 2 Jahre in China. Ich führte dort den Elias auf, den Messias, aber auch die Jahreszeiten oder das Berlioz-Requiem. Jetzt bin ich dort als der „religiöse Dirigent aus Amerika“ bekannt. Wir hatten aber auch Konzerte in Sibirien, Kiew, in Rumänien und Armenien. Dieses Jahr dirigierte ich in Costa Rica. Das Orchester dort ist sehr arm, aber die Zusammenarbeit mit dem Orchester und dem Chor hatte eine ganz spezielle Bedeutung. Wir erarbeiteten die B-moll Messe von Bach, die das erste Mal überhaupt in Lateinamerika aufgeführt wurde. Die Arbeit daran hat Menschen, die daran teil genommen haben, verändert. Ich erhielt Briefe von Chormitgliedern, die mir darin schrieben: „ich werde nie mehr der sein, der ich davor gewesen bin“. Und der Konzertmeister des Orchesters sagte mir: „Die Musikgeschichte in Costa Rica kann man in zwei Perioden einteilen. Die eine vor und die andere nach der Aufführung der Bachmesse“. Das war ein ganz besonderes Erlebnis. Die dritte Aufgabe von „Soli Deo Gloria“ schließlich ist noch das Einspielen von sakraler Musik. Wir haben die Missa solemnis auch auf DVD aufgenommen und planen eine Aufnahme mit der Schöpfung. Dieses Unternehmen braucht sehr viel Geld und wird durch Spenden finanziert.

Wenn Sie dirigieren, dann sind Sie der gebende Teil – erhalten Sie auch vom Orchester etwas zurück?

Wenn ich als Gastdirigent tätig bin, wie z.B. hier in Straßburg, dann spreche ich mit dem Orchester nicht darüber. Aber zu „meinem“ Orchester, dem „Ensemble Orchestre de Paris“ sage ich direkt: „Ihr müsst mir genauso viel zurück geben, wie ich Euch gebe, damit es funktionieren kann. Gestern, bei der Generalprobe mit dem OPS sagte ich zum Beispiel: „Sie haben mir etwas ganz Besonderes gegeben. Wenn ich in England das Stück dirigiere, dann sagen die Musikerinnen und Musiker dort: „Oh, wie langweilig. Wir kennen den Messias ja in- und auswendig“. Sie aber haben seit 20 Jahren den Messias nicht mehr aufgeführt. Und sie spielen es so frisch, so ergriffen, mit einem ganz speziellen Geist – ja Sie haben sich darin richtig verliebt. Das ist etwas Wunderbares!“ Ich dirigiere sehr gerne in Europa. Hier sind im Gegensatz zu Amerika die meisten Orchester noch vom Staat finanziell unterstützt. In Amerika geben reiche Leute ihr Geld dafür, aber das ist nicht der richtige Weg. Heutzutage ist die klassische Musik in Amerika stark im Abnehmen begriffen. Sie leidet aufgrund der ökonomischen Situation aber auch darunter, dass sie Teil der Globalisierung geworden ist. Das Fernsehen, das mit Werbung finanziert wird, ist auf einem verdummenden Niveau angesiedelt, weil es sich danach richtet, was die meisten Menschen sehen wollen.

Möchten Sie unserer Leserschaft noch etwas ganz Persönliches mitteilen?

Ja gerne! Unsere Gesellschaft braucht die Musik. Klassische Musik ist das Beste, was in der Geschichte überhaupt produziert wurde. Sie ist nicht nur Unterhaltung, sondern auch ein „Lebensmittel“ für das Publikum, das wir im Begriff sind, zu verlieren, aber das wir unbedingt bewahren sollten. Ich möchte das Publikum aber auch auffordern, sich auch zeitgenössische Musik anzuhören. Vieles davon ist großartig. Das, was das Philharmonische Orchester hier in Straßburg an zeitgenössischer Musik aufführt ist vom Feinsten, davon kann man ausgehen, sonst würde es nicht aufgeführt werden. Vielleicht klingt es etwas ungewöhnlich, aber man sollte die Ohren dafür aufmachen, um in die Welt der zeitgenössischen Kunst eintauchen zu können.

Ich danke sehr herzlich für das Gespräch.

Das Interview führte Dr. Michaela Preiner am 17. Dezember in Straßburg

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