Kann man den Klang eines Ortes erkennen? Gibt es neben Sehens- auch Hörenswürdigkeiten? Der Kulturwissenschaftler und Kurator Thomas Felfer ist dieser Frage nachgegangen und hat Geräusche, Klänge und Gespräche eines Ortes erfasst und nun in Graz, im Museum für Geschichte hörbar gemacht. Die Ausstellung „The sound of St. Lambrecht. Der Klang eines Ortes“ ist eine Ausstellung der anderen Art. Denn viel mehr als man sehen kann, kann man hören.
Wie Sprachaufnahmen von Interviews mit Einwohnern von St. Lambrecht, schon vor Jahrzehnten aufgenommen. Stilecht hat man die Möglichkeit, diese kurzen Gesprächsausschnitte von Kassetten abzuspielen. Junges Publikum wird vielleicht die Inbetriebnahme des Kassettenrekorders vor Herausforderungen stellen. All jene, die damit aber groß geworden sind, dürfen sich auf reminiszenzhafte Gefühle freuen. Ähnliches kann man auch beim Auflegen und Hören von Schallplatten verspüren, zu welchem man sich bequem in 50er-Jahre-Fauteuils setzen kann.
Die kleinen Kassetten-Interviewschnipsel behandeln Themen wie Essen, einen Hausbau, aber lustigerweise auch „Fensterln“, wobei Ungeübte wegen des starken Dialektes nicht jedes Wort verstehen werden. Es geht aber laut dem Ausstellungsmacher gar nicht darum, alles genau zu verstehen. Das Einlassen auf eine ungewöhnliche Sprachmelodie steht vielmehr im Vordergrund – eben hören, wie man „woanders“ spricht.
Neben Sprachaufzeichnungen ist es auch möglich, in die Akustik von Räumen eintauchen. Das Stift St. Lambrecht selbst bot hierfür eine wunderbare Soundkulisse. Das metallene Geräusch eines schweren Schlüssels, der ein Schloss aufsperrt, wird abgelöst vom Knarzen einer Türe, die geöffnet wird und im nächsten Moment hört man das Hallen von Schritten in einem großen Raum. Ein kleiner Rundgang durch das Stift wurde auditiv aufgenommen und kann so ohne visuelle Eindrücke nachverfolgt werden. Ganz nebenbei beginnt man zu verstehen, oder besser – zu hören, dass blinde Menschen auf diese Art und Weise einen Eindruck von Räumen bekommen.
Ein Höhepunkt der Ausstellung wird jedoch bildgewaltig präsentiert. Die Geschichte der Glockenschmelze von St. Lambrecht im 1. Weltkrieg kann man mithilfe einer Virtual-Reality-Brille nicht nur nachhören, sondern auch sehen. Hoch oben im Kirchturm steht man der Glocke plötzlich gegenüber und erlebt mit, wie diese darüber berichtet, wie sie per Dekret abgenommen und zu Verteidigungszwecken eingeschmolzen werden musste. Der Moment in welchem sie plötzlich und unerwartet, in unzählige Teile gesprengt, zu Boden fällt, ist hochemotional. Selten wartet eine Museumsschau mit so einem beeindruckenden Moment auf.
Es war eine wissenschaftliche Arbeit zum Thema der Einschmelzung von 70 % aller Glocken in Österreich während der beiden Weltkriege, die Thomas Felfer als Ausgangsbasis für diese Ausstellung diente.
Bild: Universalmuseum Joanneum / J.J. Kucek
Sie wurde im Spätsommer 2022 einen Monat lang im ehemaligen Stiftsspital in St. Lambrecht gezeigt und steht, laut Leiterin des Museums für Geschichte, Bettina Habsburg-Lothringen, am Beginn einer Reihe. In dieser sollen mehrmals pro Jahr weitere „Schaufenster“ in die Region gezeigt werden. Das Interessante der Schau „The sound of St. Lambrecht“ ist, dass sie nicht nur ein regionales Thema aufgreift. Vielmehr sensibilisiert sie die Besuchenden Geräusche und Klänge, Lautes und Leises, kaum Hörbares, aber auch laut Lärmendes mit einem neuen Fokus wahrzunehmen.
Dass der Komponist nach seiner Emigration während der Zeit des Nationalsozialismus in den USA am Broadway höchst erfolgreich war, ist bei uns wenig bekannt. Umso erfreulicher, wenngleich auch wagemutig war die Entscheidung, seine „Musical Comedy“ „Ein Hauch von Venus“ in der Grazer Oper als österreichische Erstaufführung zu bringen.
Der Wagemut ist dem skurrilen Inhalt zuzuschreiben – einer märchenhaften Geschichte nach einem Libretto von S.J. Perelman und Ogden Nash. Letzterer war in den USA für seine Limericks überaus bekannt und diesem, ihm eigenen Sprachwitz, kann man in einigen der Gesangtexte herrlich nachspüren. „Ohne seine Mitarbeiter wär‘ Vermeer noch heut‘ nicht weiter“ oder „Wo die Büffelherden weiden, lernt das Großstadtkind zu leiden“ sind nur zwei von vielen Beispielen, die an dem Abend zu beschmunzeln sind. Roman Hinze hat für diese Übersetzung ins Deutsche wahrlich eine Auszeichnung verdient. Allein der Text für „Ich liebe dich wie…“, köstlichst von Christof Messner interpretiert, ist atemberaubend.
Die Handlung selbst folgt einer Erzählung des Briten F. Anstey, der darin von einer Venusstatue berichtet, die lebendig wird und sich in einen einfachen Friseur verliebt. Nach vielen Irrungen und Wirrungen, in welchen Kunstführungen genauso vorkommen wie ein Beinahe-Überfall eines anatolischen Kriegers oder ein Besuch im Olymp, muss Venus letztlich doch feststellen, dass das langweilige Leben einer Hausfrau und Mutter nicht wirklich zu ihr passt. Dieser Handlungsstrang wurde in der Oper beibehalten, was zu höchst anachronistischen Unterhaltungsmomenten führt, die zeitweise ins Absurde abgleiten. Es ist primär die einfach gestrickte Geschichte, in der so gut wie jede Handlung der einzelnen Figuren vorhersehbar ist, die verblüfft und bei der man sich die Frage stellt, ob denn eine zeitgenössische Aufführung denn überhaupt Sinn macht.
Tatsächlich gelingt der Regisseurin Magdalene Fuchsberger aber das Kunststück, „Ein Hauch von Venus“ aus dem Jahr 1943 mit einer heutigen, bühnentauglichen Daseinsberechtigung auszustatten. Dabei behilflich ist ihr allen voran Henry Websdale, der die musikalische Leitung innehat. Mit Verve und viel Gespür für das Orchester, mit offenkundiger Freude am Dirigentenpult lässt er die Grazer Philharmoniker gleich zum Beginn in der Eröffnung als Big Band erklingen. Er achtet jedoch in den folgenden Nummern auch auf fein nuancierte Soli, wie jenes der zuckersüß erklingenden Geige im Vorspiel nach der Pause.
Die Vokalbesetzung ist ohne Ausnahme gut gelungen. Dionne Wudu als Venus hat nicht nur das richtige Stimmmaterial, um ihre zum Teil schwierigen Nummern wie „Wie fühlst du dich“ – in diesem Fall nur von Georgi Mladenov am Klavier begleitet – leicht erscheinen zu lassen. Sie macht auch in mehreren ausnehmend schönen Kostümen (Valentin Köhler) eine venushafte Figur. Am bekanntesten ist wohl ihr Song „Sprich leis‘“ der in der Originalfassung ‚speak low“ zu einem Jazzklassiker avancierte und in dieser musikalischen Komödie mehrfach erklingt. Ivan Oreščanin als Whitelaw Savory, Kunstexperte und Leiter einer Kunstakademie, erfreut nicht nur durch die Wärme seines stimmlichen Ausdrucks, sondern auch mit seiner gut verständlichen Aussprache. An seiner Seite glänzt Monika Staszak als seine Sekretärin und spätere Frau Molly Grant, die in einem Song sehr genau die Vorzüge von Reichtum beschreibt, der dafür sorgt, auch einen alten Mann für Frauen attraktiv zu machen. Christof Messner als unbeholfener Jungfriseur, erweckt die Venusstatue durch das Anstecken des Verlobungsringes, der für seine Freundin Gloria gedacht ist, zum Leben. Er darf seine Rolle so gestalten, dass ihm das Publikum emotional zugetan sein kann. Zuerst der Liebe abschwörend, dann als Außenseiter – konkret als Jude – von der Gesellschaft verpönt und gehetzt – und schließlich verlassen und liebeskrank, wird der Charakter des jungen, unerfahrenen Mannes tatsächlich glaubhaft. Der Traum von einem gemeinsamen Leben mit seiner Venus in einem Vorstadthäuschen mit Kindern und Garten erfährt seinen Höhepunkt in der Anschaffung eines Fernsehapparates. Mit der Schwarz-Weiß-Projektion des sogenannten „Testbildes“, wie es in den 50er und 60er-Jahren auf den Bildschirmen flimmerte, verweist die Regisseurin auf das zukünftige, erträumte Glück.
Tatsächlich wurde „One touch of Venus“ zwischen 1943 und 1945 insgesamt 567 Mal aufgeführt. Das Stück galt als leichte Unterhaltung, als Ablenkung, während der Krieg in Europa tobte und auch die USA mit sich riss. Mitbeteiligt am Erfolg waren sicher auch die beiden kuriosen Frauenfiguren von Mrs. Kramer und ihrer Tochter Gloria. Regina Schörg darf alle komödiantischen Register ziehen, um Corina Koller in der Rolle ihrer herrschsüchtigen Tochter einer standesgemäßen Heirat zuzuführen.
Immer wieder tauchen auf der opulent bestückten Drehbühne, die mit Versatzstücken von weiblichen Körperteilen ausgestattet ist und sich auch als Kerker und letztlich als Olymp präsentiert, Soldaten und Soldatinnen im Chor auf. (Bühne Monika Biegler) Ein Hinweis, der eine direkte Verbindung zur Entstehungszeit des Stückes schafft. Es sind diese Kostüme, aber auch opulente Tanzeinlagen, ganz im Stile von Broadway-Inszenierungen, welche immer wieder imaginierte Zeit- und Ortssprünge ins New York der 40er-Jahre zulassen. Genau darin liegt der Charme dieser Inszenierung. Das subtile Spiel mit dem Zeitkolorit, in welchem die tragischen Geschehnisse des 2. Weltkrieges anklingen und spürbar werden, nie aber überhandnehmen, macht die Inszenierung so außergewöhnlich und letztlich auch sehenswert. Ganz abgesehen von den vielen Ohrwürmern, die prächtigst auch am Tanzparkett Verwendung finden könnten – was man gut an den vielen wippenden Publikumsbeinen erkennen konnte. So oberflächlich leicht „One touch of Venus“ sich auch anfühlen mag, wer genau hinsieht und hinhört, kann in den 2 3/4tel-Stunden inklusive Pause in eine Zeit eintauchen, die alles andere als leicht war.
Das Publikum durfte dabei in 70 Minuten eine visuelle Zusammenfassung von der Entstehung des Weltalls – inklusive Urknall-Effekt – bis hin zur Ausbildung unseres Sonnensystems erleben. Begleitet wurde die Video-Animation von 11 Musizierenden unter der Leitung von François-Pierre Descamps.
Für das Konzept und die Dramaturgie war Kristine Tornquist verantwortlich. Mit dem Astronomen und Leiter des Planetariums, Michael Feuchtinger und dem Astronomen Konstantin Kirner, zuständig im Planetarium für Wissensvermittlung, holte sie sich zwei profunde Kenner der Materie an Bord. Gemeinsam schufen sie ein Klang-Raum-Erlebnis der besonderen Art. Das Werk wurde für fünf Stimmen – zwei Countertenöre, zwei Tenöre und einen Bassbariton sowie sechs Instrumentalisten (Trompete, drei Posaunen und zwei Schlagwerker) geschrieben. Die Entstehung des Weltalls und letztlich auch der Erde und des Menschen an sich wurde – musikalisch anschaulich – auch durch einen sich erst im Laufe der Komposition entwickelten Sprachgesang wiedergegeben. Hörte man zu Beginn nur aneinandergereihte Silben, verdichteten sich diese mit der Zeit hin zu erkennbaren Worten und Sätzen.
Häufiger Posaunen- und Paukeneinsatz, ein Glockenspiel, sowie ein großer Schlagwerkapparat verliehen dem bunten Sternenspektakel eine ebenso farbenfrohe musikalische Untermalung. Von dramatisch bis hin zu kostbaren Schwebezuständen, erzeugt von den Stimmen, reichte die klangliche Palette. Obwohl Clemencic ein ausgewiesener Kenner Alter Musik war, griff er in diesem Werk ins volle Kompositions-Repertoire der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Atonales und Dissonantes überwog über lange Strecken, dennoch gelangen ihm zum Teil auch höchst sphärisch gestaltete Momente. Wer wollte, konnte auch Assoziationen zur Orff`schen Carmina-Burana-Klangwelt assoziieren. Raues und Unbehauenes Notenmaterial entwickelte sich zu Differenzierterem und Komplexerem und ließ zugleich Spielraum für eigene Empfindungen.
Einziger Wermutstropfen war die Raumakustik. So wunderbar die visuelle Aufarbeitung mithilfe des modernsten Sternenprojektors der Welt gelang, so fein austariert auch das Ensemble musizierte, das Klangstrahlen, das durchaus in der Komposition von Clemencic vorhanden ist, blieb aufgrund der Akustik, die mehr vom Klang schluckte als preisgab, leider aus. Kopfhörer hätten in diesem Fall wahrscheinlich eine Abhilfe geschaffen. Dennoch eine abermals beeindruckende Produktion des Sirene Operntheaters.
Eine Schauspielerin bewegt ihre Lippen zur Musik und tritt ganz bis vor an den Bühnenrand. Im selben Moment fällt der Vorhang, um sich kurz darauf ein zweites Mal zu heben.
War es das schon oder hat sich die Regisseurin kurzfristig doch für einen anderen Beginn entschieden? Eugène Ionesco hätte seine Freude an diesem Einstieg gehabt, nannte er sein Werk „Die kahle Sängerin“ doch auch „Anti-Theater“. Dieses Stück, von ihm nicht als Komödie konzipiert, avancierte jedoch aufgrund seiner Absurdität zumindest zu etwas Ähnlichem. Dass man dennoch sozialkritische Nuancen wahrnehmen kann, ist der Regisseurin Anita Vulesica zu verdanken. Zwar werden die Figuren – Mr. und Mrs. Smith sowie Mary, deren Dienstmädchen – von Beginn an in höchst absurder Manier dargestellt. Während der Herr des Hauses auf vielerlei akrobatische Arten versucht, am Sofa bequem Platz zu nehmen, parliert seine Gattin umständlich über ein Essen bei Freunden, während sie ihre Nägel am Oberteil ihres Kleides schärft, dass man es laut raspeln hört. Mary, das Dienstmädchen, tritt in kunstvoll-absurder Lockenpracht mit dunklem Schnurrbart auf und gibt körpersprachlich mit finsterer Miene zu verstehen, dass man sich mit ihr besser nicht anlegt.
Dass bei den Smith ein ungleiches Kräfteverhältnis besteht und sie gerne aneinander vorbeireden, wird schnell deutlich. Dass sie sich dennoch mit ihrem Dasein abgefunden haben, ist offenkundig. Ganz ähnlich geht es ihren Gästen, Mr. und Mrs. Martin. Auch sie haben in ihrer Zweisamkeit schon bessere Zeiten erlebt. Denn, wie sich bald herausstellt, haben sie sich so gar nichts mehr zu sagen, dass sie sich nicht einmal mehr daran erinnern, sich je gekannt zu haben.
Die Vorstellung der Personen und ihrer absurden Lebenseinrichtungen gerät durch die nicht enden wollenden Wortkaskaden zwischen den Martins ein wenig langatmig. Zwar dürfen Frieder Langenberger und Evamaria Salcher sich nach allen Regeln der Schauspielkunst ins Komödiantische fallen lassen, dennoch ist man sehr erfreut, als ihre Wiederholungsschleifen ein Ende finden. Der Satz – „Jetzt wird’s unterhaltsam – endlich“ kommt keine Minute zu früh. Mit ihm erreicht der Abend seinen ersten theatralen Höhepunkt. Muss doch die Frau des Hauses die steile Treppe erklimmen, um nachzusehen, wer denn an der Türe geklingelt hat. Dabei verliert sie beinahe das Gleichgewicht, um letztlich doch im hoch gelegenen Kämmerlein kurz zu verschwinden. Beatrice Frey irrlichtert als Mrs. Smith herrlich desorientiert auf der Bühne herum und präsentiert hintereinander gleich drei unmögliche Arten eine Stiege hochzusteigen. Dass einige ihrer Sätze schwer verständlich sind – immer dann, wenn sie nicht direkt in Richtung Publikum spricht – ist schade, denn bei Ionescos Text reiht sich Wortperle an Wortperle. Ein kleines Mikro würde hier Abhilfe schaffen.
Ihr Ehemann, Moritz Grove, reagiert zum Teil gereizt auf die banalen Aussagen und Fragen seiner Frau und scheut sich auch nicht, bei einem Wutausbruch richtig loszuschreien. Dass er mit keinem überragenden Intellekt ausgestattet ist, erfährt man in jener Szene, in welcher er die Geschichte von einer Schlange und einem Fuchs erzählt. Dabei erinnert er an den Kabarettisten Piet Klocke, der bei seinen Auftritten kaum einen vollständigen Satz hervorbringt. Die großartig spielende Katrija Lehmann versucht als Dienstmädchen in Männerkleidung der Absurdität der beiden Paare etwas entgegenzuhalten. Zum Zerkugeln, wie sie strengen Blickes von der Treppe rutscht oder mit dem Teppichklopfer Luftgitarre spielt. Großartig, wie sie das Gedicht vom Feuer deklamiert oder ihren Dienstgeber mit dem Staubwedel malträtiert.
Der unerwartete Auftritt des Feuerwehrhauptmannes gibt dem Geschehen einen zusätzlichen Drive. Raphael Muffs klare und deutliche Aussprache, sowie sein bestimmtes, feuerwehrmännisches Auftreten erweisen sich als wohltuender Gegenpol zu den überdrehten Charakteren der beiden Ehepaare. Bravourös löste die Regisseurin jene Szene, in welcher er lautlos zwei Geschichten erzählt. Das Sprichwort „an jemandes Lippen hängen“ erfährt eine eindringliche Visualisierung, so auf- und übereinander gruppieren sich die Smiths und die Martins um den Feuerwehrmann, um ihm besser zuhören zu können. Seine anschließende „Wer-mit-Wem-Verwandten-Erzählung“ und deren fulimant-witziger Schluss ist ganz große Komödie. Der Nonsense-Abgesang (Musik Camill Jammal) von Ionesco wird mit wunderbar kitschigen Pop-Kostümen von Janina Brinkmann umrahmt. Die Videoeinspielung von Roland Fischer, der sich als stimmgewaltige „Kahle Sängerin“ ganz und gar nicht kahl präsentiert, erweist sich als toller Regie-Einfall.
Entgegen der Zerwürfnis-Orgie, mit welcher der Autor sein Stück enden lässt, hat sich Anita Vulesica für einen anderen Schluss entschieden. Dazu erklärt sie im Programmheft: „Ich möchte das Stück nicht mit zwei aggressiven Paaren beenden, die sich anschreien, sondern ich möchte es zum Publikum hin öffnen und von der Bühne Liebe und Mitgefühl hinaussingen lassen.“ Und das tut sie auch nach allen Regeln der Theaterkunst. Wie gut und schnell das funktioniert und wie ansteckend gemeinsame, positive Vibes sein können, zeigen die letzten zehn Minuten. Es ist nicht nur das komödiantische Feuerwerk des Ensembles, sondern vor allem auch das Ende, welches diese Inszenierung für einen gelungenen Silvesterabend prädestiniert. Als solches hat ihn das Schauspielhaus in Graz auch programmiert.
Die erste dieser beiden Produktionen – „Wendepunkte – eine Bürger*innenbühne über lebensverändernde Ereignisse und das alltägliche Glück“ – darf man als sehr gelungen bezeichnen. Das Stück zeigt auf, was Theater heute spannend macht. Ganz abseits von großen Stoffen, die man von einem Haus wie dem Schauspielhaus in Graz erwartet, macht diese Inszenierung deutlich, dass es Geschichten aus dem Leben von Menschen sind, die, spannend aufgearbeitet, das Publikum fesseln und ins Theater bringen können.
Wendepunkte (Foto: Johanna Lamprecht)
Wie der Titel schon andeutet, handelt es sich bei diesen Geschichten um einschneidende Erlebnisse, oder auch zum Teil um Erdachtes, das von den Schauspielenden in Soloauftritten erzählt wird. Es sind Geschichten über eine nervenaufreibende Betreuung von Kindern in einem Sommerlager, über den schweren Weg aus der Alkoholsucht, über den Wechsel des Berufes, eine schwere Krankheit, die einen normalen Tagesablauf nicht mehr zulässt, über das Leben vor und nach einer Geschlechtsanpassung oder auch die Erzählung einer aktuellen Flucht aus der Ukraine.
Alles, was man vorgespielt bekommt, weist kluge, theatrale Momente auf. Die junge, ukrainische Regisseurin Natasha Syvanenka verwendet dafür auch clever eingesetzte musikalische Untermalungen, bis hin zu einem unerwarteten Soloauftritt. Damit, aber auch mit der Nutzung des Raumes – der nicht in seiner Tiefe, sondern seiner Länge bespielt wird, schafft sie eine Atmosphäre, die über reine Erzählungen hinaus geht und so nur im Theater zu erleben ist.
Renate Eichberger, Alina Fedorova, Aylin Maviengin-Kozak, Florian Gamillscheg, Johannes Haid und Verena Albertz beeindrucken mit ihren Auftritten und bilden ein Ensemble, wie aus einem Guss. Einige ihrer Gedanken dürften viele aus dem Publikum aus eigenem Erleben bekannt vorkommen. Wie mehrere, gegeneinander streitende Meinungen, die sich in einem auftun, wenn man eine wichtige Entscheidung vor sich hat.
Anderes wiederum ist Neuland, wie die Verwendung des Substantivs „Geschlechtsanpassung“ für eine dementsprechende Operation und all jene Herausforderungen, mit denen Menschen dabei konfrontiert sind.
Ein literarisches Gustostückerl dabei ist die Neuinterpretation des „Vater unser“, in der der Wunsch des Individuums zur Selbstbestimmung zur zentralen Aussage wird. Die Aufzählung eines trockenen Alkoholikers, der Schritt für Schritt errungenen Ziele bis dahin, letztlich ganz vom Alkohol loszukommen, lässt erahnen, welch gewaltige Leistung dahintersteckt.
Die Überforderung eines jungen Menschen, der erstmalig erlebte, was es heißt, auf Kinder aufzupassen, die ganz und gar nicht zu bändigen sind, löst so manche Erinnerung an die eine oder andere misslungene Erziehungsmaßnahme aus, die man selbst erlebte oder auch auslöste. Was es heißt, aufgrund einer Erkrankung seine Tage am WC verbringen zu müssen, die Auflehnung gegen dieses am eigenen Leib erfahrene „Unrecht“ und der Ausbruch daraus – auch das wird in Wendepunkte anschaulich und kunstvoll zugleich thematisiert.
Mit Alina Fedorova rückt der Krieg in der Ukraine ganz nah ans Publikum. Die Lebensschilderung der jungen Sängerin berührt vom ersten Moment an. Aber es ist nicht nur das Vergangene, das ihren Auftritt so emotional macht. Es ist ihre nach wie vor prekäre Situation, von der niemand ihrer Kolleginnen und Kollegen, aber auch niemand im Publikum sagen kann, wie sie sich weiterentwickeln wird, die betroffen macht.
Ein Abend zum Nachdenken, Schmunzeln und Staunen, zum Dazulernen und Zurücklehnen. Was soll Theater noch mehr bieten?!
Beinahe als Geheimtipp zu bezeichnen ist das Schauspielhaus, von dem aus man auf die Rückseite der Feste Salzburg blickt. Obwohl es das größte freie Theater mit einem fixen Ensemble ist, wird es erstaunlicherweise überregional nicht wirklich stark wahrgenommen. Zu Unrecht. Denn es bietet eine große Vielfalt an Produktionen mit derzeit 10 Premieren pro Saison. Für die zweite Inszenierung in dieser Saison, „Frankenstein“, zeichnet Jérôme Junod, derzeitiger Spielleiter und Chefdramaturg, verantwortlich. Seinen Einstand feierte er am Haus im vergangenen Jahr mit „König Arthur“, einer eigenen Neufassung des historischen Stoffes. Aufgrund eines Lockdowns wurde diese beachtenswerte Produktion leider nur wenige Male gespielt. Nun schrieb er eine eigene Bühnenfassung des Stückes von Mary Shelley, das im Jahr 1816 entstand und verpasste ihm einen ganz speziellen, neuartigen Drive.
Die Erzählung darf man sich metaphorisch wie eine russische Matroschka-Puppe vorstellen – als Stück, im Stück, im Stück. Nacheinander entwickeln sich unterschiedliche Erzählstränge, die ihren Ausgang und ihr Ende bei Roberta Walton nehmen. Diese – reichlich mit einer männlichen Dominanz ausgestattet – ist eine Abenteurerin reinsten Wassers, die mit einer kleinen Besatzung auf ihrem eigenen Schiff zum Nordpol gelangen möchte. Petra Staduan verkörpert nicht nur diesen weiblichen Freigeist, sondern ebenso großartig auch die zum Tode verurteilte Justine im Büßeraufzug, sowie die rebellische Agatha, welche die Ungleichheit zwischen Arm und Reich anprangert. Als Walton ist sie beinahe durchgängig auf der Bühne präsent und lauscht den Erzählungen des jungen Victor Frankenstein.
Dieser, von ihr aus der nordischen Eishölle gerettet, berichtet ihr über seine Jugend- und Studienjahre an der Universität in Ingolstadt unter der Dominanz von zwei schrulligen Professoren. Diese unterstützten ihn bis zur absoluten Selbstaufgabe in seinem Bestreben, aus toter Materie eine lebendige zu machen und einen künstlichen Menschen zu erschaffen. Antony Connor und Olaf Salzer haben in diesen herrlich angelegten Rollen die Lacher auf ihrer Seite. Ihr komödiantisches Talent beweisen sie auch als Matrosen und wechseln ebenso gekonnt in die ernsten Charaktere des Vaters von Frankenstein und eines blinden Revolutionärs.
Wolfgang Kandler verkörpert den wissbegierigen, jungen Wissenschaftler, der schon bald erkennen muss, welch Unglück er mit der Erschaffung seiner „Kreatur“ über sein und das Leben seiner Familie gebracht hat. Magdalena Oettl in der Rolle von Elisabeth, seiner Verlobten, umrahmt die Erzählung auch als eine von Junod neu eingeführte Person, Margaret Saville, einer Gesellschaftskolumnistin, die eine erstaunliche, charakterliche Entwicklung erleben darf. Paul Andre Worms‘ Hauptcharakter, Henry, Jugendfreund von Victor Frankenstein, ist nicht nur von der Figurenanlage, sondern auch optisch sein ganzes Gegenteil. Fröhlich und lebenslustig, hilfsbereit und offen, wird er von Frankensteins Monster dennoch aus Rachedurst ermordet.
Dieses tritt bis auf die allerletzte Szene in schwarzen, anliegenden Hosen mit einem großen, schwarzen Kapuzenpullover so auf, dass man sein Gesicht kaum erkennen kann. (Kostüme Antoaneta Stereva) Hussan Nimr agiert als Frankensteins Kreatur permanent in Bewegung, mit dunkler Drohstimme und macht seine unnatürliche Herkunft durch seine tierisch entlehnten Fortbewegungen deutlich. Er macht sich auf allen Vieren aus dem Staub, er klettert behände auf Gerüste und steht meist gesenkten Hauptes, während er seine Geschichte zu erzählen versucht. Es ist die Ambivalenz dieses Charakters und vor allem auch das Erkennen, warum er selbst zum Monster geworden ist, was stark berührt und der Geschichte im Schauspielhaus in Salzburg ihre ganz eigene Färbung gibt. Bernhard Eder begleitet das Geschehen musikalisch live sowohl stimmlich als auch an der E-Gitarre und den Electronics und verleiht diesem dadurch zusätzliche emotionale Momente.
Junods „Frankenstein“-Interpretation setzt an erster Stelle nicht auf Horror-Effekte und die Erzeugung von Gänsehaut. Vielmehr beeindruckt diese durch ein fein herausgearbeitetes Psychogramm eines Außenseiters, dessen größtes Manko seine Einsamkeit ist, die er durch Rachegefühle zu sublimieren versucht und dadurch zum Massenmörder wird. Ein gelungener Theaterabend in einem Herbst, in dem es weltgeschichtlich leider nur so von Monstern wimmelt.