Beinahe als Geheimtipp zu bezeichnen ist das Schauspielhaus, von dem aus man auf die Rückseite der Feste Salzburg blickt. Obwohl es das größte freie Theater mit einem fixen Ensemble ist, wird es erstaunlicherweise überregional nicht wirklich stark wahrgenommen. Zu Unrecht. Denn es bietet eine große Vielfalt an Produktionen mit derzeit 10 Premieren pro Saison. Für die zweite Inszenierung in dieser Saison, „Frankenstein“, zeichnet Jérôme Junod, derzeitiger Spielleiter und Chefdramaturg, verantwortlich. Seinen Einstand feierte er am Haus im vergangenen Jahr mit „König Arthur“, einer eigenen Neufassung des historischen Stoffes. Aufgrund eines Lockdowns wurde diese beachtenswerte Produktion leider nur wenige Male gespielt. Nun schrieb er eine eigene Bühnenfassung des Stückes von Mary Shelley, das im Jahr 1816 entstand und verpasste ihm einen ganz speziellen, neuartigen Drive.
Die Erzählung darf man sich metaphorisch wie eine russische Matroschka-Puppe vorstellen – als Stück, im Stück, im Stück. Nacheinander entwickeln sich unterschiedliche Erzählstränge, die ihren Ausgang und ihr Ende bei Roberta Walton nehmen. Diese – reichlich mit einer männlichen Dominanz ausgestattet – ist eine Abenteurerin reinsten Wassers, die mit einer kleinen Besatzung auf ihrem eigenen Schiff zum Nordpol gelangen möchte. Petra Staduan verkörpert nicht nur diesen weiblichen Freigeist, sondern ebenso großartig auch die zum Tode verurteilte Justine im Büßeraufzug, sowie die rebellische Agatha, welche die Ungleichheit zwischen Arm und Reich anprangert. Als Walton ist sie beinahe durchgängig auf der Bühne präsent und lauscht den Erzählungen des jungen Victor Frankenstein.
Dieser, von ihr aus der nordischen Eishölle gerettet, berichtet ihr über seine Jugend- und Studienjahre an der Universität in Ingolstadt unter der Dominanz von zwei schrulligen Professoren. Diese unterstützten ihn bis zur absoluten Selbstaufgabe in seinem Bestreben, aus toter Materie eine lebendige zu machen und einen künstlichen Menschen zu erschaffen. Antony Connor und Olaf Salzer haben in diesen herrlich angelegten Rollen die Lacher auf ihrer Seite. Ihr komödiantisches Talent beweisen sie auch als Matrosen und wechseln ebenso gekonnt in die ernsten Charaktere des Vaters von Frankenstein und eines blinden Revolutionärs.
Wolfgang Kandler verkörpert den wissbegierigen, jungen Wissenschaftler, der schon bald erkennen muss, welch Unglück er mit der Erschaffung seiner „Kreatur“ über sein und das Leben seiner Familie gebracht hat. Magdalena Oettl in der Rolle von Elisabeth, seiner Verlobten, umrahmt die Erzählung auch als eine von Junod neu eingeführte Person, Margaret Saville, einer Gesellschaftskolumnistin, die eine erstaunliche, charakterliche Entwicklung erleben darf. Paul Andre Worms‘ Hauptcharakter, Henry, Jugendfreund von Victor Frankenstein, ist nicht nur von der Figurenanlage, sondern auch optisch sein ganzes Gegenteil. Fröhlich und lebenslustig, hilfsbereit und offen, wird er von Frankensteins Monster dennoch aus Rachedurst ermordet.
Dieses tritt bis auf die allerletzte Szene in schwarzen, anliegenden Hosen mit einem großen, schwarzen Kapuzenpullover so auf, dass man sein Gesicht kaum erkennen kann. (Kostüme Antoaneta Stereva) Hussan Nimr agiert als Frankensteins Kreatur permanent in Bewegung, mit dunkler Drohstimme und macht seine unnatürliche Herkunft durch seine tierisch entlehnten Fortbewegungen deutlich. Er macht sich auf allen Vieren aus dem Staub, er klettert behände auf Gerüste und steht meist gesenkten Hauptes, während er seine Geschichte zu erzählen versucht. Es ist die Ambivalenz dieses Charakters und vor allem auch das Erkennen, warum er selbst zum Monster geworden ist, was stark berührt und der Geschichte im Schauspielhaus in Salzburg ihre ganz eigene Färbung gibt. Bernhard Eder begleitet das Geschehen musikalisch live sowohl stimmlich als auch an der E-Gitarre und den Electronics und verleiht diesem dadurch zusätzliche emotionale Momente.
Junods „Frankenstein“-Interpretation setzt an erster Stelle nicht auf Horror-Effekte und die Erzeugung von Gänsehaut. Vielmehr beeindruckt diese durch ein fein herausgearbeitetes Psychogramm eines Außenseiters, dessen größtes Manko seine Einsamkeit ist, die er durch Rachegefühle zu sublimieren versucht und dadurch zum Massenmörder wird. Ein gelungener Theaterabend in einem Herbst, in dem es weltgeschichtlich leider nur so von Monstern wimmelt.
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