Eine Schauspielerin bewegt ihre Lippen zur Musik und tritt ganz bis vor an den Bühnenrand. Im selben Moment fällt der Vorhang, um sich kurz darauf ein zweites Mal zu heben.
War es das schon oder hat sich die Regisseurin kurzfristig doch für einen anderen Beginn entschieden? Eugène Ionesco hätte seine Freude an diesem Einstieg gehabt, nannte er sein Werk „Die kahle Sängerin“ doch auch „Anti-Theater“. Dieses Stück, von ihm nicht als Komödie konzipiert, avancierte jedoch aufgrund seiner Absurdität zumindest zu etwas Ähnlichem. Dass man dennoch sozialkritische Nuancen wahrnehmen kann, ist der Regisseurin Anita Vulesica zu verdanken. Zwar werden die Figuren – Mr. und Mrs. Smith sowie Mary, deren Dienstmädchen – von Beginn an in höchst absurder Manier dargestellt. Während der Herr des Hauses auf vielerlei akrobatische Arten versucht, am Sofa bequem Platz zu nehmen, parliert seine Gattin umständlich über ein Essen bei Freunden, während sie ihre Nägel am Oberteil ihres Kleides schärft, dass man es laut raspeln hört. Mary, das Dienstmädchen, tritt in kunstvoll-absurder Lockenpracht mit dunklem Schnurrbart auf und gibt körpersprachlich mit finsterer Miene zu verstehen, dass man sich mit ihr besser nicht anlegt.
Dass bei den Smith ein ungleiches Kräfteverhältnis besteht und sie gerne aneinander vorbeireden, wird schnell deutlich. Dass sie sich dennoch mit ihrem Dasein abgefunden haben, ist offenkundig. Ganz ähnlich geht es ihren Gästen, Mr. und Mrs. Martin. Auch sie haben in ihrer Zweisamkeit schon bessere Zeiten erlebt. Denn, wie sich bald herausstellt, haben sie sich so gar nichts mehr zu sagen, dass sie sich nicht einmal mehr daran erinnern, sich je gekannt zu haben.
Die Vorstellung der Personen und ihrer absurden Lebenseinrichtungen gerät durch die nicht enden wollenden Wortkaskaden zwischen den Martins ein wenig langatmig. Zwar dürfen Frieder Langenberger und Evamaria Salcher sich nach allen Regeln der Schauspielkunst ins Komödiantische fallen lassen, dennoch ist man sehr erfreut, als ihre Wiederholungsschleifen ein Ende finden. Der Satz – „Jetzt wird’s unterhaltsam – endlich“ kommt keine Minute zu früh. Mit ihm erreicht der Abend seinen ersten theatralen Höhepunkt. Muss doch die Frau des Hauses die steile Treppe erklimmen, um nachzusehen, wer denn an der Türe geklingelt hat. Dabei verliert sie beinahe das Gleichgewicht, um letztlich doch im hoch gelegenen Kämmerlein kurz zu verschwinden. Beatrice Frey irrlichtert als Mrs. Smith herrlich desorientiert auf der Bühne herum und präsentiert hintereinander gleich drei unmögliche Arten eine Stiege hochzusteigen. Dass einige ihrer Sätze schwer verständlich sind – immer dann, wenn sie nicht direkt in Richtung Publikum spricht – ist schade, denn bei Ionescos Text reiht sich Wortperle an Wortperle. Ein kleines Mikro würde hier Abhilfe schaffen.
Ihr Ehemann, Moritz Grove, reagiert zum Teil gereizt auf die banalen Aussagen und Fragen seiner Frau und scheut sich auch nicht, bei einem Wutausbruch richtig loszuschreien. Dass er mit keinem überragenden Intellekt ausgestattet ist, erfährt man in jener Szene, in welcher er die Geschichte von einer Schlange und einem Fuchs erzählt. Dabei erinnert er an den Kabarettisten Piet Klocke, der bei seinen Auftritten kaum einen vollständigen Satz hervorbringt. Die großartig spielende Katrija Lehmann versucht als Dienstmädchen in Männerkleidung der Absurdität der beiden Paare etwas entgegenzuhalten. Zum Zerkugeln, wie sie strengen Blickes von der Treppe rutscht oder mit dem Teppichklopfer Luftgitarre spielt. Großartig, wie sie das Gedicht vom Feuer deklamiert oder ihren Dienstgeber mit dem Staubwedel malträtiert.
Der unerwartete Auftritt des Feuerwehrhauptmannes gibt dem Geschehen einen zusätzlichen Drive. Raphael Muffs klare und deutliche Aussprache, sowie sein bestimmtes, feuerwehrmännisches Auftreten erweisen sich als wohltuender Gegenpol zu den überdrehten Charakteren der beiden Ehepaare. Bravourös löste die Regisseurin jene Szene, in welcher er lautlos zwei Geschichten erzählt. Das Sprichwort „an jemandes Lippen hängen“ erfährt eine eindringliche Visualisierung, so auf- und übereinander gruppieren sich die Smiths und die Martins um den Feuerwehrmann, um ihm besser zuhören zu können. Seine anschließende „Wer-mit-Wem-Verwandten-Erzählung“ und deren fulimant-witziger Schluss ist ganz große Komödie. Der Nonsense-Abgesang (Musik Camill Jammal) von Ionesco wird mit wunderbar kitschigen Pop-Kostümen von Janina Brinkmann umrahmt. Die Videoeinspielung von Roland Fischer, der sich als stimmgewaltige „Kahle Sängerin“ ganz und gar nicht kahl präsentiert, erweist sich als toller Regie-Einfall.
Entgegen der Zerwürfnis-Orgie, mit welcher der Autor sein Stück enden lässt, hat sich Anita Vulesica für einen anderen Schluss entschieden. Dazu erklärt sie im Programmheft: „Ich möchte das Stück nicht mit zwei aggressiven Paaren beenden, die sich anschreien, sondern ich möchte es zum Publikum hin öffnen und von der Bühne Liebe und Mitgefühl hinaussingen lassen.“ Und das tut sie auch nach allen Regeln der Theaterkunst. Wie gut und schnell das funktioniert und wie ansteckend gemeinsame, positive Vibes sein können, zeigen die letzten zehn Minuten. Es ist nicht nur das komödiantische Feuerwerk des Ensembles, sondern vor allem auch das Ende, welches diese Inszenierung für einen gelungenen Silvesterabend prädestiniert. Als solches hat ihn das Schauspielhaus in Graz auch programmiert.