Chornobyldorf – ein Blick zurück und einer nach vorne

Chornobyldorf – ein Blick zurück und einer nach vorne

Im Dunkel des Saales wird eine Männerstimme hörbar. Sie erzählt davon, dass das Gesprochene eigentlich das Ende eines Briefes sei; eines Briefes, der nie abgeschickt wurde, aber dennoch einmal geschrieben werden wird. Kurz darauf wird seine Stimme von einer Frau visuell begleitet, deren Portrait auf einem Video erscheint. Während der Mann spricht und auf Ukrainisch ein längeres Gedicht rezitiert, beginnt sie, sich mit lautmalerischen Geräuschen in einer unbekannten Kunstsprache auszudrücken. Obwohl man – wenn man nicht Ukrainisch spricht – weder dem Inhalt der Männerstimme folgen kann noch genau weiß, was die Frau sagen will, bekommt man ein Gefühl, dass das, was hier vermittelt werden soll, aus Erfahrungen resultiert, die schmerzhaft sind.

Tatsächlich ist der Titel „Chornobyldorf. Archeological opera“ bereits ein Hinweis darauf, dass eine Referenz dieser neuen Oper die Tragödie von Tschernobyl ist. Die Kombination mit dem Substantiv-Anhang ‚dorf‘ kam zustande, da das Ensemble zu Beginn der Arbeit Zwentendorf und seine Umgebung besuchte. Das nie in Betrieb genommene Kernkraftwerk in Österreich und jenes in der Ukraine, dessen Baubeginn 1970 war, also noch vor der Unabhängigkeit des Landes, veranlasste die ukrainischen Kulturschaffenden zur Idee einer globalen Sichtweise auf das Thema Kernkraftwerk und dessen dystopische Auswirkungen; unabhängig davon, wo diese Meiler stehen, stellen sie eine grenzübergreifende Bedrohung der Menschheit dar.

Die Oper spielt zwischen dem 23. – 27. Jahrhundert, in einer Zeit, in der wir längst Geschichte sind und verschwunden sein werden. Sie geht von der Annahme einer weltumspannenden Katastrophe aus, in der sich die Überlebenden erneut ihrer Identität bewusst werden müssen. In einer Zukunft, in der neue Rituale erschaffen werden und dennoch all das, was zwischenmenschlich in Gesellschaften abläuft, bewusst oder unbewusst auf historische Vorbilder zurückgreift.

Die sieben Kapitel, die ohne Pause, aber doch erkennbar, ineinander übergehen, tragen die Überschriften: Elektra, Dramma per musica, Rhea, The little Akkorden girl, Messe de Chornobyldorf, Orfeo ed Euridice sowie Saturnalia. Damit greifen die beiden Komponisten Roman Grygoriv und Illia Razumeiko einerseits große griechische Mythen auf, die zum primären Nährboden der europäischen Kunstproduktion wurden. Andererseits verweisen sie direkt auf slawische Musiktraditionen. Diese künstlerische Verzahnung, in der unterschiedliche musikalische Stilmittel verwendet werden, macht eines klar: Die Menschen, die hier auf der Bühne stehen und all jene, die an dieser Oper arbeiteten, verstehen sich zutiefst Europa zugehörig. Die aktuelle Diskussion, die Ukraine in die EU aufzunehmen, wird in den historischen Bezügen, die hier hergestellt werden, quasi kulturhistorisch legitimiert. Aber auch das, was Europa ausmacht, die Individualität der Länder und ihre darin befindlichen, unterschiedlichen Ethnien, kommt vehement zum Ausdruck. Immer wieder werden historisch-musikalische Zitate – umgewandelt in moderne Klangbilder – von bosnien-herzegowinischen und ukrainischen Volksweisen abgelöst. Klage- aber auch Hochzeitslieder werden dafür angestimmt und in ihrer typischen Melodieführung gesungen. Unisono-Linien trennen sich in eine kurz hörbar werdende Mikrotonalität, die jahrhundertealt ist und dennoch neu und frisch klingt. Sich davon ablösende, schon beinahe rein empfundene Sekunden, sowie anschließende Septsprünge verstärken den emotional-schmerzlichen Ausdruck. Mahler’sche Akkordabfolgen, chorisch gesungen, und eine Fuge von Bach, die außer Rand und Band zu geraten scheint, legen eine musikhistorische Spur in jenen Kern Europas, der vom Barock bis ins vergangene Jahrhundert im wahrsten Sinn des Wortes tonangebend war.

Auf all dies trifft eine Füllte von neuem Klangmaterial: schräge Saitenklänge, unterschiedlichste, zum Teil stark akzentuierte Rhythmen, gespielt auf einem Percussion-Konstrukt, das aus verschiedenen Fundstücken zusammengesetzt wurde (Evhen Bal), sowie elektronische Ergänzungen, die Windstimmungen oder ein bedrohliches, undefinierbares Dröhnen hörbar machen.

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Chornobyldorf (Foto: Anastasiia Yakovenko eSel)

Eine rasche Abfolge von Bildern, unterstützt durch Video-Einspielungen, auf welchen fragile Menschenfiguren in ukrainische Landschaften zu sehen sind, häufige Personen- und Kostümwechsel sowie die Erzeugung von emotionalen Wechselbädern, bewirken eine Fülle von theatralen Ereignissen, die wie ein Tsunami über einen schwappen. Zugleich wird man in das zum Teil somnambule Geschehen derart sogartig hineingezogen, dass es einem schwerfällt, die kognitiven Fähigkeiten über die eigenen, starken Empfindungen zu stellen.

Die beinahe surreal, zugleich jedoch hochromantisch anmutende „Krönung“ einer jungen Akkordeonistin, unterstützt durch eine den Raum erweiternde Videoeinspielung, wird von religiösen Klängen und Bildern abgelöst. Ein passendes, in einem klassisch-harmonischen Gefüge gesungenes Agnus Dei wird durch ein ebensolches, jedoch explosiv-punkartiges unterbrochen. Schockartig befindet man sich im Hier und Heute, in einem Zustand, in dem Romantik keinen Platz mehr findet. Die Grablegung von Euridice, das Lamento ihres Orpheus wird in einer bildstarken Choreografie umgesetzt, in welcher die Nacktheit der Beteiligten besonders ihre Zerbrechlichkeit und ihr Schutzbedürfnis hervorhebt. Den Ausklang bildet eine saturnalische Orgie, um ein auf den Kopf gestelltes Papp-Portrait von Lenin.  Alles, was sich an unaussprechbaren Gefühlen und Leid zuvor angesammelt hat, alles, worüber man schwer sprechen kann, löst sich in dieser wilden, ausgelassenen Szene auf, in welcher man selbst gerne mittanzen würde. Dass das Ende mit seinem Windgeräusch an den Beginn der Produktion erinnert, mag wohl einen ewigen Kreislauf symbolisieren. Einen Kreislauf, in dem das existenziell Menschliche letztlich immer und immer wieder gelebt, aber auch neu erfunden wird, ja erfunden werden muss. Wenn nichts mehr so ist, wie es einmal war, dann muss auf das zurückgegriffen werden, was tief im Menschsein schlummert, aber auch das, was ihn als Lebewesen auf der Erde auszeichnet. Er ist ein Wesen, das sich ständig neu formiert und anpasst und dennoch seine vermeintlich gekappten Wurzeln in sich trägt.

Niemand der Künstlerinnen und Künstler hätte sich, als die Oper entstand, träumen lassen, dass so viel davon, was in ihr gezeigt wird, einen aktuellen Bezug erhalten würde. Die Kriegsgräuel und das Leid, das derzeit in der Ukraine herrschen, schwingen in der Rezeption im Moment stark mit. Die Bedrohung der Erde durch den technischen Fortschritt, hybride Menschenformen, die sich in Kunstgattungen üben, die von ihnen dennoch niemals beseelt werden können, auch das beinhaltet „Chornobyldorf“. Es ist zu wünschen, dass die Oper nach ihrer Uraufführung in Rotterdam und der zweiten Station im WUK in Wien, anlässlich der ‚Musiktheatertage Wien‘, noch viele weitere Stationen erleben darf. Und es ist zu wünschen, dass das Ensemble dabei vom Publikum übermittelt bekommt, dass eine Arbeit wie diese gerade in schwierigen Zeiten eine ist, die gebraucht wird, mehr noch: auch zum Überleben beiträgt. Angesichts der Brutalität der Geschehnisse meinte beim Publikumsgespräch eine Sängerin, sie sei nicht mehr davon überzeugt, dass das Theater etwas bewirken könne. Zu sehr stünde das Erlebnis von Gewalt, die alles verdrängt, dieser Idee diametral gegenüber.

Die Aussage „vita brevis, ars longa“ möge ihr und dem Ensemble einen kleinen Shiftwechsel ermöglichen. Sie möge ihnen einen Hoffnungsschimmer bieten, dass die Kunst das Leben überdauert und somit auch diese, ihre Produktion. Sie wird späteren Generationen einmal – in welcher Art und Weise auch immer – zur Verfügung stehen und einen Einblick in jene aktuelle Gegenwart bieten, die für die ukrainische Bevölkerung, aber auch alle anderen, leidenden Beteiligten, so schwer zu ertragen ist.

Auf einer Mülldeponie kann man allerhand finden

Auf einer Mülldeponie kann man allerhand finden

Wer sich je gefragt hat, wer denn er Erzähler ist, der in den Krimis von Wolf Haas dem Antihelden Brenner permanent über die Schulter schaut, dem sei eine Lesung des Autors selbst ans Herz gelegt.

In Graz wurde die Location für eine solche kurzfristig von den Kasematten auf dem Schlossberg ins Orpheum verlegt. Die Spielstätte am Schlossberg war aufgrund von Wartungsarbeiten mit der Zahnradbahn nur erschwert erreichbar. Trotz des ausklingenden, verlängerten Wochenendes und der gerade hereingebrochenen Hitze war der Saal im Orpheum nicht schlecht gefüllt. Finden Lesungen im Normalfall in Buchhandlungen statt, so füllt jemand wie Wolf Haas tatsächlich größere Säle. Einerseits hat er eine treue Lesegemeinschaft, andererseits kennen ihn viele aufgrund der Verfilmungen einiger seiner Bücher. Josef Hader spielt darin Kommissar Brenner, der sich schon bald aus dem Polizeidienst verabschiedet und danach in Eigenregie so manchen Fall zu lösen hat.

Es ist einerseits diese spezielle Figur, die das Lesepublikum fasziniert. Dieser grantelnde, eigenbrötlerische und zugleich liebenswerte Mann rutscht in schöner Regelmäßigkeit wider Willen und ohne Zutun in die Kriminalfälle.

Dabei hat er – wie das Gros des Publikums – mit alltäglichen Unbillen zu kämpfen, denen er aber auf höchst unkonventionelle Weise aus dem Weg zu gehen versucht. Andererseits ist es aber auch die lockere Sprache, die viele anspricht. Trotz dieser Leichtigkeit, werden dabei en passant tiefgründige Weltprobleme erörtert, als wären sie Marginalien. Diese spezielle Mischung bürgt für einen großen Lesegenuss.

All diese Faktoren beinhaltet auch sein neuer Roman „Müll“, aus dem Haas in Graz vorlas. Dabei verlieh er dem Erzähler nicht nur seine Stimme, sondern man konnte den Eindruck gewinnen, dass dieser eine Art Alter-Ego von Wolf Haas ist. Allerdings mit dem Paradoxon, dass dieses Alter-Ego, würde man es zum Leben erwecken, mit dem Schriftsteller selbst gar nicht viel gemeinsam hat. Denn Haas hinterlässt auf der Bühne den Eindruck eines ruhigen, besonnenen und intellektuellen Menschen mit hohem sprachlichem Ausdrucksvermögen. Sein Erzähler hingegen spricht mit x-fach wiederholenden Stehsätzen wie „Das glaubst du nicht“, „Frage nicht“ oder „Du darfst eines nicht vergessen“ und liebt es, Kommentare in Sätzen ohne Verben von sich zu geben. In „Müll“ passt sich dieser Slang wie eine zweite Haut an die darin vorkommenden Charaktere an: Es sind sogenannte „Mistler“ einer Wiener Mülldeponie, die in ihren Müllwannen eine zerstückelte Leiche finden. Dass sich unter ihnen auch Simon Brenner befindet, hat einen Grund. Arbeitet er doch selbst dort und empfindet seinen Job als den allerbesten, den er bisher hatte. Ob Udo oder der Herr Nowak, ob der junge Praktikant oder Brenner selbst – Haas gelingen wunderbare Charakterstudien von Männern, die als unkündbare Angestellte der Stadt Wien zwar eine Menge Chefs über sich wissen. Dennoch sind sie in ihrem Arbeitsumfeld stolze Herrscher darüber, wer bei ihnen gratis Mist ablagern darf oder nicht. Mit Argusaugen überwachen sie den korrekten Einwurf in die dafür vorgesehenen Wannen und dass ein wenig Trinkgeld meist zu besonderer Hilfsbereitschaft führt – wer kennt dieses Vorgehen in Österreich nicht?

Wohnhaft ist Brenner in einem schicken Appartement, hoch über den Dächern der Stadt – allerdings nur als „Bettgänger“. Als solcher nutzt er leer stehende Wohnungen, zur Übernachtung, mit dem hehren Ziel, keine Spuren zu hinterlassen.

Die große Kunst von Wolf Haas ist die Verzahnung gesellschaftlich relevanter Themen mit einer Kriminalgeschichte in einer Sprache, die – obgleich kunstvoll – so locker und flockig daherkommt, als hätte er jeden Satz in bierschwangeren Gasthäusern oder auf Zeltfesten aufgeschnappt und aufgeschrieben. Ob Müllproblem oder Organmafia, ob Beziehungsstress oder bourgeoise Lebensformen, es gibt scheinbar nichts, was Haas nicht tiefgründig und humorvoll zugleich verarbeiten kann. Zugleich wird die tragische Geschichte eines Mannes, dessen Leichenteile auf der Mülldeponie gelandet sind, in leicht verdaulichen Häppchen serviert.

Als Surplus bot Haas dem Publikum seiner Lesung eine höchst vergnügliche Geschichte über die Schwierigkeiten der Übersetzung seiner Texte ins Japanische an. Bei „Müll“ werden die Übersetzungsköpfe spätestens an jener Stelle zu rauchen beginnen, in der mit „Spuckerl“ ein kleiner Reinigungswagen benannt wird, den Brenner – klarerweise unautorisiert – in Betrieb nimmt. Die Szene, in welcher er durch den Defekt der Spritzanlage des Fahrzeuges, die sich nicht abstellen lässt, in Wien hunderten Passanten unfreiwillig die Schuhe putzt, gehört nicht nur zu den humorvollsten des Buches. Sie zeigt auch die literarische Könnerschaft von Haas, mit wenigen Sätzen in den Köpfen der Leserinnen und Leser eine komplette Filmszene ablaufen zu lassen.

Fazit: Lesungen von Wolf Haas lohnen sich. Das Lesen seiner Bücher sowieso.
 

Nur Stillstand bedeutet Freiheit

Nur Stillstand bedeutet Freiheit

Stell dir vor, dein Erlebnisradius ist auf vier Wände beschränkt und es macht dir gar nichts aus, sondern du findest das sogar bequem. Stell dir vor, du hast eine eigene Assistentin, die dir alles abnimmt. Nenne sie Isadora und rede mit ihr, wie mit deiner besten Freundin. Stell dir vor, alles ist für dich so bequem eingerichtet, dass du am virtuellen Mittagstisch sogar Freunde empfangen kannst. Stell dir vor, du bist völlig unabhängig von der Außenwelt und wunschlos glücklich – nur nach außen gehst du nie, weil du Angst davor hast.

Genau dieses Setting bot Caroline Peters mit der Gruppe Ledwald im Stück „Die Maschine steht nicht still“. Die Inszenierung ist eine Paraphrase auf einen Text von E.M. Forsters „The machine stops“ aus dem Jahr 1909 und entstand als Reaktion auf die Pandemie, in der die meisten von uns wesentlich stärker vom Computer und dem Internet abhängig wurden.

Verblüffende Visuals von Eric Dunlap, eine permanente Live-Kamera-Führung von Andrea Gabriel (auch zuständig für eingespielte Videos) und ein perfekt abgestimmtes Licht- und Sounddesign von Lars Deutrich fügen der Vorführung eine elektronische Ebene hinzu, die nicht nur absolut zeitgeistig ist, sondern hier auch Sinn ergibt. Der Text, den Caroline Peters adaptierte, erzählt von einer Frau, die eines Tages einen Anruf von ihrem Vater bekommt. Er lebt wie sie in einem wie oben beschriebenen Setting 2,5 km von ihr entfernt, möchte ihr etwas mitteilen und bittet sie, sich auf die Straße zu begeben und nicht nur virtuell, sondern leibhaftig zu ihm zu kommen.


Diese Ausgangslage bringt seine Tochter in einen Zwiespalt, soll sie doch ihre schützende Umgebung wider alle Anordnungen verlassen und sich auf ein Terrain begeben, von dem sie keine Ahnung hat, was sie dort erwartet. Das Mindcontrol ist so weit fortgeschritten, dass jegliches Experiment außerhalb der eigenen vier Wände als nicht mehr wünschenswert erscheint und die Maxime gilt: Stillstand ist Fortschritt und was ich nicht ausprobiere, kann auch nicht schiefgehen. Tatsächlich gelingt es der Tochter gegen Schluss jedoch, sich von ihrer überwachenden Begleiterin Isadora zu befreien, bei der sich sofort der Vergleich mit Alexa, Siri oder derzeit schon anderen aktiven, elektronischen Helferinnen aufdrängt. Neben der Beschreibung des Alltages, den Peters mit hoher Schauspielkunst wiedergibt, egal ob es sich um ein Kochrezept handelt, das sie von Isadora umgesetzt haben möchte, die Entgegennahme von Sprachanrufen oder dem Zusehen von Videolectures, fasziniert sie in mehrfachen Rollen in der Szene bei Tisch mit ihren geladenen Freundinnen und Freunden. Sie wurden alle zuvor von ihr eingespielt und versammeln sich auf Knopfdruck im virtuellen Raum um den gedeckten Tisch, um – wie man es aus dem real life kennt – ganz nach den jeweiligen Charakteren zu protzen, ängstlich zu wirken, verblüfft zu sein oder sich bewundern zu lassen.

Lars Deutrich an der elektronischen Soundmachine und Andrea Gabriel in der Rolle der stummen Isadora, die alles mit ihrer Live-Kamera einfängt und zugleich auch abspeichert, sind auf der Bühne permanent präsent. Sowohl Peters als auch Gabriel tragen giftgrüne Kostüme mit einem Spinnenmuster – einem Symbol für die Gefangenschaft im Netz, die jedoch als schick und unerlässlich empfunden wird. (Kostüme Flora Miranda) Es ist nicht nur das illusionistische Setting, das beeindruckt, sondern auch der Text, der eine ganze Reihe von schillernden Satzperlen aufweist wie: „Seit der Pandemie wissen wir, dass Viren und die Technologie exponentiell wachsen“, „Wissen ist eine Art von Fiktion“, „Deep Intelligence ist auch nur eine andere Art von Schummeln“ oder „Der Zeit ihren Loop, dem Loop seine Freiheit“ – eine Überschreibung des Hevesi-Spruches, der über der Wiener Sezession prangt. Das sind nur einige, wenige Aussagen, die man gerne zu Hause ob der weiteren Fülle der philosophischen Ideen, Bonmots und Zukunftsvisionen nachlesen möchte.

Das kluge, offene Ende hinterlässt einen Geschmack von Erleichterung und Angst zugleich und beschönigt in keiner Weise unsere digitale Zukunft, in der wir uns bereits befinden.
 

Ein tierischer Wahlkampf

Ein tierischer Wahlkampf

Angelegt als „Spaziergang für die Figur“ lädt es die Zusehenden ein, mit einem Conferencier vom Hinterhof des Theaters in den gegenüberliegenden Arne-Karlsson-Park zu wechseln. Dort entdeckte es an verschiedenen Stationen eine ganze Reihe von tierischen Figuren, die sich mit flammenden Reden als Wahlkandidaten erweisen.

Der Affe Sunni, ausgezeichnet mit einer so großen Anzahl an Titeln, dass letztlich nichts anderes übrigbleibt, als ihn nur mit Sunni anzusprechen, entlässt die Zusehenden mit ihrem Begleiter Markus-Peter Gössler in die freie Wildbahn. Dort treffen sie auf eine Grinsekatze, unter deren Anleitung die Kandidaten für die Wahl aufgespürt werden können.

Eine Ratte aus dem Untergrund schwingt eine flammende Rede wider die Ungerechtigkeit, mit der die behenden Eichhörnchen ihnen gegenüber bevorzugt werden. Ein mysteriöses Kaninchen unterhält mit ebenso mysteriösen Wahlversprechen das Publikum, das nach deren Befragung ebenso wenig über es selbst weiß wie zuvor. Zwei antike Maden versuchen ihre Klientel mit poppigen Klängen auf ihre Seite zu ziehen – sehr zum Gaudium von anwesenden Kindern, die sich von ihrem Spiel losgerissen haben und sich am unerwarteten Maden-Spektakel erfreuen. Und schließlich bietet ein ehemaliger General in Ebergestalt dem anwesenden, interessierten Wahlvolk Leberkäse an, um mit dessen Stimmen seine Heimat vermehrt schützen zu können.


Für all jene, die zum Stammpublikum des Schubert-Theaters gehören, ist der kleine Trip auch eine wunderbare Gelegenheit, die einzelnen Figuren wiederzusehen. Die zwei fetten, gierigen Maden hatten ihren großen Auftritt in Wolkenkuckucksheim XX, das Rattentier ebenso in Ochkatzlschwoaf. Der Ebergeneral entstammt dem Stück Go West! Und das weiße Kaninchen war in ALICE zu sehen.

Ob man sich nun als Neuling oder als Alt-Bekannte der kleinen Rundreise anschließt, macht jedoch keinen Unterschied. Die Freude am Puppenspiel und ihr allseits bekanntes Geheimnis, dass die Menschen, welche sie bedienen, hinter ihnen verschwinden und dennoch sichtbar bleiben, ist immer gleich.

Unter der Regie von Simon Meusburger verschmelzen Soffi Povo, Angelo Konzett und Markus-Peter Gössler mit ihren Puppen und bleiben dennoch in ihrer sympathischen Schauspielperformance sichtbar.

Weitere Termine jedes Juni-Wochenende, samstags 14:30 & 17:30 Uhr, sonntags 11:00 & 15 Uhr.

Quo vaditis, Rabtaldirndln und toxic dreams?

Quo vaditis, Rabtaldirndln und toxic dreams?

Es gab eine Zeit, da blieb einem bei einigen ihrer ausformulierten Gedanken beinahe im Minutentakt das Herz stehen. Es gab eine Zeit, da wusste man: Wo Rabtaldirndl draufsteht, ist Witz, Esprit und Intelligenz drin. Aufmüpfigkeit und demonstrative Selbstermächtigung, aber auch intelligente Fragen zur weiblichen Befindlichkeit liefen leichtfüßig neben dem großen Plot des jeweils ausgesuchten Titels einher. Ob Marmelade zu einem „Goldenen Satz“ veredelt wurde, oder man hinter der „Uschi Kümmernis“ im Freien mit prozessieren durfte, stets sprühten die Geistesblitze und immer regte das Ensemble zum Nach- und Umdenken an.

Der Name Toxic dreams steht für unkonventionelle Theatererlebnisse. Er steht dafür, gesellschaftliche Zustände in ein theatrales Licht zu setzen, das enthüllt, was ohne dieses schier unsagbar erscheint.

In der Produktion „The unreal Housewife of Vienna vs. The unreal Housewives of Graz” haben sich die beiden Companies zusammengetan, um sich dem Thema der „vermögenden Hausfrauen“ zu widmen. Als Vorlage dazu diente das Reality Format „The real housewives“, in welchen die Zusehenden in das vermeintliche Innen- aber auch Außenleben der Schönen und Reichen blicken dürfen.

Die aktuelle Inszenierung unter der Regie von Yosi Wanunu, dem künstlerischen Leiter von toxic dreams und erfahrenem Theatermann, kann jedoch den Erwartungen dieser Kollaboration nicht wirklich standhalten. Dieser Umstand hat mehrere Ursachen. Die Übersetzung eines TV-Formates ins Theater ist keine leichte Aufgabe, zumal es gerade für diese Serie bereits Bühnenparodien gibt.
Zweitens mag es sein, dass der eine oder die andere es unterhaltsam finden, wenn Frauen sich psychologisch demaskieren und wie Krähen aufeinander losgehen. Diese Art von Unterhaltung riss das anwesende Publikum aber nicht wirklich von den Sitzen.

Drittens stellt sich die Frage nach dem Sinn, Wiener und Grazer Frauencliquen aus dem begüterten Milieu gegenüberzustellen und sie wie in einer Arena in einem Showdown gegeneinander antreten zu lassen. Die schwarz-weiße Großstadt-Eleganz, versus der bunten, modischen Tracht stellt klar, welche Haifischfrauen hier international und welche maximal national das Sagen haben. Wobei die Kostüme von Susanne Bisovsky, einer Wiener Modegröße, die absoluten Highlights der Produktion darstellen. Dass sich die Grazerinnen mehr über ihr Hab und Gut definieren und darüber schwadronieren, die Wienerinnen sich von Beginn an stärker Introspektionen hingeben, um sich dann aber ebenfalls abfällig über das jeweils Gehörte zu äußern – dieser Unterschied macht allein den Abend nicht spannend.

Ob schickes, weißes Hausinterieur einer Ruckerlberger Villa oder gediegene braune Ledersofas im Appartement mit Blick auf den Stephansdom (Bühne Götz Bury, Paul Horn), ob die Damen sich in Tennisoutfits oder Saunamäntel beflegeln – die Nabelschau der Grazer Hautevolee oder der Wiener Highsociety ermüdet relativ rasch. Möglicherweise wurde dieses Gefühl auch durch die permanent steigende Hitze im Saal des Kristallwerks noch zusätzlich verstärkt.

Da helfen auch die musikalischen Einlagen nicht weiter, die gegen Ende hin live performt werden. Der Text, der dabei verwendet wird, gibt nichts anderes wieder, als man vorher schon erfahren durfte. Wer reich und schön ist, darf sich alles erlauben, wer reich und schön ist, egal wie er oder sie dazu kam, braucht sich um andere nur der Form halber zu kümmern. Und – nicht zu vergessen: Wer reich und schön ist, der leidet unter seinem sinnentleerten Leben. Die eine etwas mehr, die andere etwas weniger, aber leicht, ja leicht haben sie es bitte schön ja wirklich auch nicht!

Was fehlt, ist der beißende Witz, der gesellschaftlich toxische Strukturen bloßstellen kann, die ausschließlich nach dem Prinzip mein Haus, mein Auto, meine Jacht, ausgerichtet sind. Was fehlt, sind sprachliche Finessen, für die vor allem die Rabtaldirndln stehen. Ihre oft so salopp hingeworfenen steirischen Mundartbrocken sind in ihrer Prägnanz dem Hochdeutschen meist weit überlegen und lassen so manche vermeintliche Nebenbemerkung zu einem lange funkelnden, gedanklichen Diamanten werden.
Es fehlt aber auch das Gespür, wie viele Plattitüden ein Text verträgt, ohne in Langeweile, Wiederholung und Voraussagbarkeit zu münden.

Kurz, was fehlt, ist jener Moment, bei dem der Funke ins Publikum überspringt und dessen Emotionen anzündet. Wer zu jener Bevölkerungsschicht gehört, die hier mit nicht besonders tauglichen Mitteln aufs Korn genommen wird, wird sich nicht wirklich angesprochen fühlen. Und wenn, sich dann in einer Art Verteidigungsposition heftigst dagegen verwehren. Jene, die nicht zur Schickeria dazugehören, dürfen sich keine tiefgründigen, psychologischen Einblicke in die Damen erwarten, die auf der Bühne verkörpert werden. Ihnen allen bietet der Text zu wenig persönliche Kontur, als dass man eine Identifikation mit ihnen herstellen könnte.

Die zweite Spielserie findet ab Herbst im brut in Wien statt. Vielleicht gibt es bis dahin Adaptionen, die dann einen Besuch lohnenswerter erscheinen lassen. Ausrutscher dürfen sein und gehören zum Theatergeschäft dazu. „The unreal Housewife of Vienna vs. The unreal Housewives of Graz” sollte auf keinen Fall dazu beitragen, die kommenden Inszenierungen der Rabtaldirndln und von toxic dreams nicht zu besuchen. Die Besinnung auf die jeweils eigenen Kernkompetenzen und vor allem auf spannende Themen werden dem Publikum sicher auch wieder interessante und hochemotionale Theaterabende bereiten.

Eine spannende Mischung

Eine spannende Mischung

Bouchra Ouizguen ist seit einigen Jahren im Tournee-Plan von Kooperationspartnern des zeitgenössischen Tanzes anzutreffen. Frankreich und Belgien spielen dabei eine herausragende Rolle; die Idee, Produktionen länderübergreifend zu unterstützen, findet aber auch gerade im Festival-Business hierzulande immer mehr Zuspruch.

Obwohl sie mittlerweile ihre siebente Produktion auf die Beine gestellt hat, ist sie doch eine Grenzgängerin im zeitgenössischen Tanzgeschehen. In Interviews erzählt sie immer wieder, dass weder sie noch ihre Tänzerinnen eine dementsprechende Ausbildung genossen hätten. Das, was ihre Arbeit auszeichnet, oder vielmehr der Beginn ihrer Arbeit zu diesem Projekt, ist das Aufspüren von Menschen, die noch tradierte Lied- und Tanzformen beherrschen.

In „Elephant“ hat sich Ouizguen zum Ziel gesetzt, marokkanischen Tanz und Musik auf die Bühne zu holen, um sie dem Vergessen und Verschwinden zu entreißen. Als Metapher hat sie sich dafür den Elefanten auserkoren, der eine bedrohte Tierart ist und vielleicht im kommenden Jahrhundert schon ausgestorben sein wird.

Mit drei weiteren Protagonistinnen – einer jüngeren und zwei älteren Frauen, die schon mit Ouizguen zusammengearbeitet haben, präsentierte sie im Programm der Wiener Festwochen im Odeon das Ergebnis ihrer musikalischen und tänzerischen Spurensuche. Das gefundene Material wird bei ihr intuitiv-kreativ zu einem einstündigen Stück verarbeitet. Einem Stück, das nicht nur Traditionelles aufzeigt, sondern dieses Traditionelle in einen neuen Mantel hüllt.

Bevor jedoch ihr Spektakel tänzerisch beginnt, wird erst einmal der Bühnenboden von zwei Frauen mit großen Bodenreibtüchern sauber geputzt. Danach kommen sie – ausgestattet nicht mehr wie Putzfrauen, sondern in Festgewand, mit zwei weiteren Tänzerinnen auf die Bühne, um den Raum nun mithilfe von Weihrauch zu reinigen. Hier wird klar, dass sich das, was gezeigt werden wird, zum Teil im rituellen Bereich abspielt. Und tatsächlich erscheint ein tanzendes Wesen mit einer bunten Kopfbedeckung, die rundum mit hellen Bastschnüren bestückt ist. Bald schon wirbelt es quer durch den Raum.

Anders als ganz zu Beginn kommt die Musik jetzt nicht vom Band. Nun sind es die Frauen selbst, die auf der Bühne live singen. Vielstrophige Litaneien bilden das Hauptkonvolut des musikalischen Geschehens. Sie finden, von einer Vorsängerin ausgehend, ihren Widerhall bei den anderen und werden von ihnen gleichzeitig mithilfe von Djenbes, kleinen Bongotrommeln, rhythmisiert. Dieses musikalische Setting bleibt die ganze Aufführung über so, die einzelnen getanzten Szenen jedoch verändern sich. Man wird Zeuge einer solistischen Einlage, vorgeführt von der jüngsten Frau, die, aufgepeitscht von der Musik, die immer schneller wird, erschöpft zusammenbricht. Aber die Frauen treten auch in einer beeindruckenden Gruppenchoreografie auf.

Sie bildet den künstlerischen Höhepunkt der Performance. Als Kontakt-Improvisation angelegt, ist sie jedoch alles andere als improvisiert. Nachdem zuvor Kleidungsstücke ins Off gezogen wurden – was als eindringliche Metapher vom menschlichen Ableben verstanden werden kann, und die Frauen eine Klagelitanei anstimmten, gruppieren sich die drei Tänzerinnen zu einem einzigen Organismus. Sie bewegen ihn in immer wieder neuen Kombinationen mithilfe von Hebetechniken durch den Saal. Dabei entsteht der Eindruck, dass sie einander in ihrer Trauer und ihrem Schmerz halten und niemals fallen lassen. Es ist dies eine hochemotionale und aussagekräftige Szene. Zeigt sie doch Menschen in einer Ausnahmesituation, die für sie nur durch gegenseitigen Zusammenhalt zu bewältigen ist. Wie sie sich miteinander verbinden, sich in die anderen fallen lassen, von ihnen gezogen oder geschoben werden, wie sie in ihrem laut artikulierten Schmerz dennoch nicht zu Boden gehen, sondern sich immer und immer wieder gegenseitig stützen und halten, ist auch in höchstem Grade metaphorisch zu lesen.

Die Mischung aus tradierter Musik und neuer Choreografie erscheint in diesem Moment nicht aufgesetzt, sondern ganz natürlich. Sie versetzt das Publikum in die Lage, weit über das tänzerische Geschehen hinauszudenken. Dass sich dabei die Arbeit von Bouchra Ouizguen beinahe automatisch in einem größeren, kulturhistorischen Kontext, wiederfindet, macht ihr Werk auch für andere Disziplinen wie der Musikwissenschaft, der Kulturanthropologie oder der Soziologie interessant.