Das Konzerthaus in Wien ist seit Langem ein Garant für ein vielfältiges Programm. Ob für Fans von alter Musik, Jazz- oder Klassikfreaks: Musikbegeisterte jeglicher Couleur werden hier fündig. Oft mit feinen Überraschungen, die über das Erwartete eines Konzertes hinausgehen. So gestaltete sich auch die Silvestergala, die das Jahr 2025 einleitete, nicht nur abwechslungsreich, sondern war auch mit so manch unerwartetem Schmankerl versehen.
Nikolaus Habjan (Foto: Herwig-Prammer)
Im ersten Konzert-Teil vor Mitternacht pfiff Nikolaus Habjan, vielen als „der“ österreichische Puppenspieler, tätig an den großen Theaterbühnen des Landes schlechthin bekannt, eine ganze Reihe von ihm titulierter „Albtraum-Arien“ für Tenor oder Sopran. Ob barocke Koloratur-Arien von Händel oder Mozart, ob innige Lieder aus Schuberts „Schöner Müllerin“ – das Können und damit zusammenhängend seine herausragende Musikalität beeindruckten vom ersten Moment an. Es war eine reine Freude ihm zuzusehen, wie sich mit dem Schwierigkeitsgrad der Arien auch seine Pfeiflust steigerte. In wunderbarer Unterstützermanier leitete Christoph Huber das ‚nexus now ensemble‘. Wohldosiert in der Dynamik, um den zarten Pfeifgesang nicht zu übertönen, dennoch aber mit Verve und fein ausdifferenzierten Einsätzen und ebensolchen Klangfarben zeigte sich das Können seines einfühlsamen Dirigates. Ines Schüttengruber am Klavier und an der Orgel war die Freude am Spielen ins Gesicht geschrieben. Tatsächlich empfanden dies wohl alle Musizierenden so, ganz abgesehen von der Tatsache, dass es nicht zu ihrem Alltagsjob gehört, Kunstpfeifer zu begleiten.
Eine kleine Einführung und Interessantes zum Thema Kunstpfeiffen ist auf der Website von Nikolaus Habjan zu lesen.
Mit der Mezzosopranistin Anna Sophia Richter holte sich der Multi-Künstler eine Sängerin auf die Bühne, die er bei ihrem Offenbach-Couplet aus der Operette ‚La Périchole‘ tatkräftig pantomimisch als inhaftierter Ehemann unterstützte. Besonders erheiternd gestaltete sich ihr zweiter Auftritt mit einem „Schwipslied“, ebenfalls von Jacques Offenbach. Mit verschmiertem Augen- und Mund-Make-up bot sie nicht nur einen amüsanten Anblick, sondern auch ein schauspielerisches Gustostückerl, das sie ihrem Gesang mühelos beifügte.
Neben all der hochkarätigen, musikalischen Unterhaltung stellte sich auch ein unerwarteter Erkenntnisgewinn ein. Bot doch die reine Stimmführung der Melodie, gänzlich ohne Text die seltene Möglichkeit, dieser ganz pur zu folgen. Dadurch ergaben sich auch Vergleichsmöglichkeiten von historischer, barocker Verzierungsstrategien oder ein klareres Schemata-Erkennen bei den Arien, die im 19. Jahrhundert geschrieben wurden. Wie schon erwähnt, zählten die Interpretationen der Schubert-Lieder nicht nur zu den innigsten des Programmes. Vielmehr zeigte sich gerade bei ihnen, auf welch engem Raum der Komponist Freud und Leid, starken Ausdruck und zarte Empfindung in Musik zu gießen wusste. Habjan sei Dank, wurde all dies deutlich nicht nur hörbar, sondern war auch nachzuempfinden.
Das eigentliche Neujahrskonzert, dirigiert von Petr Popelka, begann pünktlich nach den Schlägen der Pummerin. Selbstredend erklang ‚An der schönen blauen Donau‘ von Johann Strauss Sohn als erste musikalische Darbietung. Steffi Wieser choreografierte eine ungewöhnliche Walzer-Interpretation, aufgeführt von den Studierenden der Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien (MUK). Die jungen Damen und Herren tanzten nicht nur rund um das Orchester auf der Bühne, sondern auch in den Gängen im Parkett, direkt neben dem Publikum. Sabine Ebner schuf für sie Uni-Sex-Kostüme mit im Rücken geknoteten, ärmellosen Oberteilen, einem wadenlangen Tüll-Rock und schwarzen Shorts darunter. Die Lust am Leben, am eigenen Körper, aber auch die Lust an der Verführung und der Liebe durfte als Motto hinter der ersten Choreografie gelesen werden – ein perfekter Einstieg für ein neues Jahr.
2025 wurde in Wien zum ‚Strauss-Jahr‘ erkoren, welches von der Kulturstadträtin Veronica Kaup-Hasler nach dem Donau-Walzer mit einer Grußbotschaft erläutert und eröffnet wurde. Mehrfache Fledermaus-Orchester-Adaptionen, aber auch Polkas sowie eine Bearbeitung des „Schwipsliedes“ aus Johann Strauss‘ Operette ‚Eine Nacht in Venedig‘ von Erich Wolfgang Korngold, verbreitete im Nu eine fröhliche Neujahrsstimmung. Vor allem die Interpretation von Annkathie Koi brachte einen ordentlichen, humorigen Twist in das glanzvolle musikalische Geschehen. Agierte sie doch in einem aufsehenerregenden, beinfreien Barock-Kostüm mit hoch aufgetürmter Perücke in sichtlich angeheitertem Zustand. Die Bierdose samt Wurstsemmel, die sie sich aus dem eleganten Haargeflecht fischte, erheiterte das Publikum im selben Maße wie ihre lachende und weinende Gesangsinterpretation.
Mit‘ Def III‘ gelang schließlich eine weitere Programmüberraschung. Der Wiener Rapper wurde von Nikolaus Habjan, der zuvor schon zwei musikalische Darbietungen der Symphoniker pfeifend unterstützt hatte, als „Der Schnellste seines Faches“ angekündigt. Und tatsächlich rappte er sich durch Strauss’sches Operettengeschehen, dass einem Hören und Sehen vergehen konnte.
In der ebenfalls unerwarteten, tänzerischen Beigabe zu ‚Seid umschlungen Millionen‘ vermischten sich schließlich klassische Ballettfiguren mit expressivem Ausdruckstanz. Solistinnen und Solisten, Paare, aber auch Gruppen performten zeitgleich unterschiedliche Choreografien. Inniges Liebesgeplänkel und freundschaftlich-Gemeinsames stand dabei einem Geschlechterkampf gegenüber, bei dem man bis zum Schluss den Atem anhalten konnte. Dass sich die Choreografin Steffi Wieser abermals nicht gescheut hatte, einen Walzer gänzlich neu zu interpretieren, verlieh der Performance eine ganz besondere Note, die lange im Gedächtnis bleiben wird.
Die Programmierung der Silvestergala 2025 im Wiener Konzerthaus bot nicht nur einen bunten Reigen von Altbewährtem und gut Bekanntem. Vielmehr bereitete die interessante Mischung aus Tradiertem und Modernem dem Publikum einen Kunstgenuss, der eine Menge Freude und gute Stimmung bereitete.
Es gibt sie tatsächlich. Jene kleinen Inszenierungen, die ohne großes Brimborium durch die Welt reisen und egal, wo sie landen, das Publikum in jedem Land in ihren Bann ziehen.
Eine solche Inszenierung ist beim Festival der „wortwiege“ in den Kasematten in Wiener Neustadt gelandet. „fragil / fragile“ lautet das Motto dieser Saison und trifft damit auch den Kern des Stückes „The Anthology“. Smadar Yaaron und Moni Yossef vom Acco-Theater in Israel schaffen es, die Menschen in ihrem Salon über eine Stunde lang zu fesseln. Dabei darf auch gelacht werden, wenngleich einem das Lachen manches Mal auch im Hals stecken bleibt.
„The Anthology“ zu Gast beim wortwiege Festival in Wiener Neustadt. (Foto: Julia Kampichler)
Smadar spielt eine feine, alte, jüdische Dame am Klavier, die sich zu ihren Erzählungen über Gott und die Welt selbst musikalisch begleitet. Der spritzig-witzige Eingangsmonolog versteht sich in der Replik als das Konstrukt einer Identität, die aufgrund ihrer Zerbrechlichkeit und ihrer Beschädigung erhöht werden muss. Ohne diese Erhöhung wäre diese Frau längst untergegangen und so lacht man anfangs zwar über größenwahnsinnige Auslegungen der jüdischen Kultur, versteht aber erst nach geraumer Zeit, warum diese für die alte Dame pure Überlebensstrategie ist.
Smadar spricht in einem Sprachen-Misch-Masch in Hebräisch, englisch und deutsch über die Entstehung der Welt und dass das Judentum schlichtweg als Quelle allen Seins anzusehen ist – absurderweise auch jener des Blues oder Tangos. Sie berichtet über die Musik als Überlebensmittel genauso wie den Alkohol oder Tabletten, ohne welche sie schlichtweg ihre Bodenhaftung verlieren würde. Eine Bodenhaftung, die beim näheren Hinsehen jedoch gar keine ist. Aber die Geschichte dreht sich auch um eine Mutter-Sohn-Beziehung, die ungesünder nicht sein könnte. Grund dieses Missverhältnisses ist die ehemalige Internierung der alten Dame im KZ Auschwitz, dessen Trauma sie mit sich trägt und zu allem Überfluss auf ihren Sohn überstülpt. Dieser – auch schon 67 Jahre alt – erhält erst im zweiten Teil des Stückes seinen großen Auftritt und mischt sich sofort unter das Publikum, um sich mit ihm zu unterhalten. So sphärisch-künstlerisch seine Mutter die erste Halbzeit gestaltete, so gegensätzlich und direkt geht es im Anschluss bei ihm zu, der mit einer Gasmaske auf dem Kopf von Beginn an eine groteske Erscheinung ist.
In diesem psychologischen Kampf ums nackte Überleben, den die beiden Charaktere zeit ihres Lebens offenkundig spielen müssen, tun sich Abgründe auf. So tiefe, dass jegliche Political Correctness von Haus aus zum Scheitern verurteilt ist. Gerade aber die unverblümten, jedoch in charmante Worte verpackten Grauslichkeiten sind es, die verdeutlichen: Das, was einem Menschen in seinem Leben angetan wird, hinterlässt Spuren. Da kann er oder sie noch so kultiviert darüber hinwegleben wollen – das ihm oder ihr Böse zugefügte, bricht sich an gewissen Stellen dennoch seine Bahn und vergiftet die Nachkommen gleich mit.
Nichtsdestotrotz sind auch unerwartete, humorige Szenenwechsel zu erleben, dann aber auch zutiefst emotionale Ausbrüche. In einem solchen verwandelt sich der 67-jährige Mann in einen kleinen, wimmernden Jungen. Vom Grauen gepackt, von seiner Familie entfernt, knapp am Verdursten, brüllt er auf dem Klavier stehend seine Ängste heraus. Ob sich dieses Leid im KZ oder aktuellen Kampfgebieten abspielte oder abspielt, ist letztlich egal. Man wird Zeuge eines verzweifelten Menschenbündels, das völlig hilflos ist und sich nicht wehren kann. Weder gegen die Gewalt von außen, noch gegen die psychische seiner Mutter.
Smadar Yaaron und Moni Yossef schaffen das Meisterstück, mit intensivem Schauspiel, an dem man hautnah teilnimmt, tief in seelische Abgründe blicken zulassen, ohne anzuklagen. Vielmehr passiert im Laufe der Vorstellung eine Täter-Opfer-Umkehr, die fasziniert und abstößt zugleich. Das Aufplatzen von seelischen Wunden, die Sichtbarkeit von Wahnsinn, der nicht selbst verschuldet ist, sondern in den man getrieben wird, all das ist in einer Virtuosität umgesetzt, die unglaublich fasziniert.
Der Applaus, das Überlebensmittel jeder Schauspielerin und jedes Schauspielers, diese Anerkennung vom Publikum versagen sich die beiden. Was jedoch auf den ersten Blick als für sie bedauernswert erscheint, erweist sich schon wenige Augenblicke später, nachdem man den Raum verlassen hat, als psychologischer Rucksack, den sie unbemerkt dem Publikum umgehängt haben. Nicht klatschen zu dürfen und sich leise davonschleichen zu müssen, gleicht in seinem Gehabe einer Geste des Kopf-Einziehens, Schämens und Schuldbekenntnisses. Wie immer wieder postuliert wird, soll man nicht von Kollektivschuld sprechen. Wäre es aber nicht gerecht, Schuldgefühle genauso über Generationen hinweg weiterzutragen, wie auch Traumata an die kommenden Generationen weitergegeben werden?
„The Anthology“ ist nicht nur schauspielerisch von erster Güte. Auch der Inhalt, so einfach er auf den ersten Blick auch erscheinen mag, lebt von unglaublich vielen Ebenen, die jedem denkenden Menschen zwangsläufig eine ganze Reihe von Fragestellungen aufdrängen muss. Anna Maria Krassnigg bescherte dem Publikum mit der Einladung des israelischen Duos eine glanzvolle Premiere gegen Ende des Festivals in den Kasematten in Wiener Neustadt, das am 24. März 2024 endet.
Auf ihr blicken sie einerseits auf 20 Jahre Rabtaldirndln zurück, andererseits präsentieren sie ihr Programm für die kommenden 20 Jahre. Und schlagen den Subventionsstellen vor, langfristig nicht wie bisher auf drei, sondern gleich auf 20 Jahre das Geld bereitzustellen. Planungssicherheit ist alles.
Der Abend in Graz findet im Museum für Geschichte in der Sackstraße statt. Bevor man im adaptierten Theaterraum Platz nimmt, wird man durch einige Räume des Schau-Depots geleitet, um hier und da auf kleine Hinweise aus vergangenen Rabtal-Produktionen zu stoßen.
Rabtaldirndl - Halbzeit (Foto: Nikola Milatovic)
Barbara Carli, Rosa Degen-Faschinger, Bea Dermond und Gudrun Maier kommen als Frauen mit Langhaarperücken auf die Bühne, wohl eine Reminiszenz auf die vergangene Jugend. Weiße Blusen und schwarze Röcke, sowie flache schwarze Schuhe machen klar: Diese ist jedoch vorbei, jetzt ist ein anderer Look angesagt. (Kostüm und Ausstattung Helene Thümmel)
Die vier Frauen warten rasch mit der Horrorvorstellung auf, dem Publikum nun 40 kommende Produktionen vorstellen zu wollen und legen damit gleichzeitig einen Zukunftsstrahl fest, der anfänglich unverrückbar zu sein scheint. Im Laufe des Abends stellen sie jedoch Überlegungen an, welche so manchen Zweifel am determinierten Zukunftsprogramm aufkommen lassen. Was ist, wenn eine von ihnen ernstlich erkrankt? Gibt es außerhalb des Theatermachens nicht auch noch andere Zukunftsaussichten? Ist ein Leben ohne die eingeschworene Vierergemeinschaft eigentlich denkbar?
Nachdem man es tatsächlich geschafft hat, 40 Produktionen zumindest anzureißen, ist auch noch Zeit für eine Rückschau. Wie war das in ihren Anfängen, der gerichtliche Streit um das Recht für ihren Namen? Was waren die schrecklichsten Erlebnisse während ihrer Auftritte – nicht verschließbare Toiletten standen hier in der Replik ganz oben.
Rabtaldirndl - Halbzeit (Foto: Nikola Milatovic)
Die Regie (Felix Hafner) wartet an einer Stelle auch mit der Idee einer Publikumsprovokation auf – die allerdings prominente Vorbilder hat. Das Ensemble verharrt so lange, ohne etwas zu sagen, bis sich bei den Zusehenden Unruhe bemerkbar macht, dann verabschiedet es sich in „eine kurze Pause“. Die „Simpsons“ der Performancekunst, wie sie sich selbst an einer Stelle bezeichnen, rezitieren an einer Stelle auch eine Kapitalismus-Fürbitte, in welcher sie hoffen, als Einzelunternehmerinnen nicht in die Insolvenz zu schlittern oder auch vor einer Fernbeziehung geschützt zu werden.
„Halbzeit“ oszilliert zwischen witzigen Rabtaldirndl-Bonmots, musikalisch abwechslungsreichen Einlagen und einer melancholischen Grundstimmung. In ihr wird klar: „Zambleiben“ ist der Wunsch aller – mit Sicherheit auch jener ihrer Fangemeinde. Mögen ihre Bitten erhört werden!
Ein Ort, der erstmals bespielt wurde, ist ein ehemaliges Call-Center in Mariatrost. Der leerstehende Bau, von welchem früher aus einem Großraumbüro telefoniert wurde, erfuhr eine Umwandlung zum „Demon Radio“. Einem Ort, in dem sich das Dämonische in vielen Arten finden lässt.
Die Vier von der Tankstelle
Jos de Gruyter & Harald Thys, Die Vier von der Tankstelle (2023), Installationsansicht, Demon Radio, Foto: steirischer herbst / kunst-dokumentation.com, mit freundlicher Genehmigung der Künstler
Schon am Parkplatz, vor der Ausstellungslocation, erwartet das Publikum eine irritierende Installation: „Die Vier von der Tankstelle“ von Jos de Gruyter & Harald Thys. Seinen Titel erhielt das Werk in Anlehnung an den Film „Die Drei von der Tankstelle“ aus dem Jahr 1930, der von der NS-Zensur auf die Liste der verbotenen Filme gesetzt worden war. In dem Auto sitzen nicht drei Personen, sondern vier uniformierte Dobermänner. Hunde, die scharf abgerichtet, gerne im Umfeld von Personen auftauchen, die einen besonderen „Schutz“ benötigen. Die Nummerntafel des alten Mercedes ist dechiffrierbar, trägt sie doch verbrämt jenes Datum, an welchem Hitler 1938 die Menschenmassen in Klagenfurt begeisterte. Die beiden Künstler, die in Brüssel leben, lassen bei dieser Installation offen, ob die vier Insassen jemanden jagen oder ob sie auf der Flucht sind. Somit öffnet das Kunstwerk unterschiedliche Interpretationsfenster – eine Zugangsweise, die für die Ausstellung „Demon Radio“ signifikant ist. Die Arbeit korrespondiert mit jenen im Innenbereich – vorrangig mit jener über den ehemaligen deutschen Jazz-Experten Dr. Schulz-Köhn.
Ein zweiter künstlerischer Beitrag des Duos im Inneren der Ausstellungshalle trägt ebenfalls tierische Züge. Micro Mundo 3, 4, 5, 8 und 10, in diesem Jahr entstanden, sind kleine, surreale Terrarien, in welchen sich Nagetiere, Reptilien und anderes Getier mit menschlichen Köpfen tummeln. Faszinierend und abstoßend zugleich präsentieren sie sich den Betrachtenden und stellen ad hoc die Frage nach Genmanipulation und Mutationen, die der Mensch so nicht beabsichtigt hat.
Ein Jazzsammler, SA- und NS-Mitglied
Der Deutsche, Dietrich Schulz-Köhn, war ein Liebhaber und Kenner von Jazzmusik. Er vermachte dem Institut für Jazzforschung in Graz, zu dessen Mitbegründern er zählte, seine Sammlung von Jazz-Schallplatten, die er vor, während und nach dem 2. Weltkrieg gesammelt hatte. Selbst Mitglied der SA und der NSDAP, war er während des Krieges als junger Mann in Frankreich stationiert und konnte dort aufgrund seiner guten Kontakte zum amerikanischen Feind schnellstmöglich an die Neuerscheinungen kommen, für die er sich so interessierte. In der Ausstellung sind nicht nur einige seiner Schallplatten zu sehen, sondern es ist auch ein Radio-Mitschnitt zu hören. Als Moderator vieler Jazz-Sendungen im WDR und anderen Radiosendern gestaltete er eine Reihe von Sendungen zu diesem Thema. In jenem Beitrag, der in der Ausstellung zu hören ist, kann man gut nachvollziehen, wie nach dem Krieg bei Schulz-Köhn eine Art Dislozierung zum eigenen Tun während des Krieges stattgefunden haben musste. Spricht er doch dort über die Restriktionen während der Nazi-Herrschaft so, als wäre er nie Teil dieses Mörderregimes gewesen, sondern vielmehr von einem Sender außerhalb Deutschlands beauftragt worden, über dieses Thema zu sprechen.
In der Kontextualisierung mit den anderen Beiträgen, die sich in dieser Ausstellung noch befinden, wird deutlich, dass das Dämonische im Menschen ein Phänomen ist, das zeitabhängig unterschiedlich bewertet wird.
Serene Velocity in Practice: MC510 Signs & Wonders (Prerequisite for CS183 How to Build the Future) (2017–23)
Serene Velocity in Practice (Foto: mit freundlicher Genehmigung des Künstlers)
Gegenüber des kleinen Zimmers, in welchem die Radiosendung läuft, hat Michael Stevenson, mit Stoffbahnen begrenzt, eine Art Raum im Raum gestaltet. In diesem empfand er das Setting eines praktischen Kurses über Gesundbeten und Exorzismus, den der Kirchengründer John Wimber von 1982 bis 1985 am Fuller Theological Seminary in Pasadena unterrichtete, nach. Die künstlerische Verfremdung, die dort vorgenommen wurde, verschärft noch den beklemmenden Eindruck, dass man sich in einem Surroundig befindet, in welchem Menschen psychische Gewalt angetan wurde.
Indischer Freiheitskämpfer und aktuelle Nationalismen
Insgesamt vier Videobeiträge laden ein, sich dem Dämonenhaften auf völlig unterschiedliche Art und Weise gegenüberzustellen. Die indische Theatermacherin Zuleikha Chaudhari schuf einen Film über Subhas Chandra Bose, einen Kämpfer gegen die englische Kolonialmacht. Er hatte sich in den 30er-Jahren die Unterstützung von Hitler erhofft und war deshalb nach Berlin gereist. Auf dieser Reise, aber auch anderen, die danach folgen sollten, als er unverrichteter Dinge Deutschland wieder verließ, nahm er unterschiedliche Identitäten mit unterschiedlichen Nationalitäten an. Ähnlich wie bei Schulz-Köhn ist man verblüfft, wie sehr in gewissen Lebensabschnitten Realität und Ideal auseinanderklaffen, sich zum Teil sogar ins Gegenteil verkehren. Zusätzlich vermischt die Künstlerin in dem Video auch Mitschnitte von Vorlesungen über den Nationalismus, die bei Teach-ins während der Studentenbewegung 2016 an der Jawaharlal Nehru University in Neu-Delhi gehalten wurden.
Mechanisches und zutiefst Menschliches
Der israelitische Künstler Dani Gal wurde vom Steirischen Herbst mit zwei Auftragsarbeiten bedacht. In seinem Film „Book of the Machines“ werden anhand von Nahaufnahmen von mechanischen Puppen aus dem 19. Jahrhundert, die menschliche Züge tragen und sich so benehmen wie Menschen, Fragen gestellt, die deckungsgleich mit jenen sind, die sich unsere Gesellschaft im Moment angesichts der allgegenwärtigen KI-Anwendungen stellen muss.
Book of the Machines, mit freundlicher Genehmigung des Künstler
Extrem berührend ist sein Film „Dark Continent“ geworden, der eine Fallstudie aus dem Buch Schwarze Haut, weiße Masken (1952) des Psychiaters und antikolonialen Autors Frantz Fanon nachstellt: Darin geht es um ein Mädchen, das im Alter von 12 Jahren nervöse Ticks zu entwickeln begann. Sie landete letztlich in einer Nervenheilanstalt, in welcher der leitende Primar in seiner abschließenden Diagnose Freud zitierte und meinte, dass die Sexualität von Frauen ein schwarzer Kontinent sei. Während des Filmes erfährt man, dass schon bald nach der Kolonialisierung in Afrika Buschtrommeln verboten worden waren, schlicht aus dem Grund, weil man damit über große Distanzen Nachrichten übermitteln konnte und somit die Gefahr von Revolten nicht auszuschließen war. Der Vater des jungen Mädchens, selbst ehemals in Afrika eingezogen, legte abends Musik auf, in welchem diese Trommeln zu hören waren. Eine eindeutige Bildsprache, die auf einen grausamen Zug des Mannes rückschließen lässt und die Fantasie, die man als Zusehende selbst entwickelt, lassen am Ende des Filmes an einen Kindesmissbrauch innerhalb der eigenen Familie denken. Die perfide Art, wie das Trommeln der schwarzen Bevölkerung, die als rückständig und bedrohlich dargestellt wird, aufgezeigt wird, macht sprachlos.
In der Koppelung mit den Ausdrücken, mit welchen Schulz-Köhn die schwarzen Jazzer aus Amerika im NS-Diktum erwähnte, gelingt auch hier ein Brückenschlag zwischen den einzelnen künstlerischen Beiträgen. Das Kuratorenteam rund um Ekaterina Degot – David Riff, Pieternel Vermoortel, Gábor Thury und Barbara Seyerl – hat hier ganze Arbeit geleistet.
Anna Engelhardt und Mark Cinkevic Trailer, mit freundlicher Genehmigung der Künstler:innen
Mit einem Video von Anna Engelhardt und Mark Cinkevic (Russland und Belarus), in welchem sie auf die dämonische Macht von russischen Hightech-Stützupunkten in besetzten Staaten verweisen, reicht der Bogen des Ausstellungsthemas in unsere Gegenwart.
Genauso wie eine Klang-Installation von Anton Kats, in welcher er sich an seine Kindheit und den Krieg in Cherson erinnert, eingesprochen von einer ruhigen Frauenstimme (Susanne Sachsse) auf dem Soundlayer „Palladium“ von Weather Reports. Jener einflussreichen Jazzband, die vom Österreicher Joe Zawinul gegründet wurde. Ausgerechnet in der UDSSR hatte Palladium Kultstatus. Fein und schön anzuhören, fließend und harmonisch täuscht die Musik und überdeckt das Grauen, das ihr in dem Text additiv zugeführt wurde.
Was von außen bunt beflaggt, sich als Spaßszenerie geriert, ist im Inneren voll von dunklen Flecken, die es wert sind, aufgedeckt zu werden.
Der Eintritt zur Ausstellung ist dank eines großzügigen Sponsor-Angebotes der AK-Steiermark gratis.
„IX KLA VIER E“ nannte sich die rund halbstündige Performance von Nick Acorne, für die im Vorraum 3×3 Klaviere übereinander aufgebaut worden waren. Vor ihnen erstreckte sich ein Gerüst, das von Acorne behende erklommen werden konnte. Ausgestattet mit einem Helm und einem Hüftgurt, an dem allerlei Küchengerät hing, durch ein Seil gegengesichert, schwang er sich nicht von Ast zu Ast, sondern von Klavier zu Klavier, um auf jedem kurze Passagen zu spielen. Sie alle ergaben eine wahrlich atemraubende Komposition – zuallererst jedoch für den Pianisten selbst. Musste er doch jedes Mal einige Höhenmeter überwinden, sowohl nach oben als auch nach unten oder auf den Metallverstrebungen sich quer entlanghangelnd, um zum nächsten Instrument zu gelangen. Die Klaviere selbst waren präpariert und wiesen unterschiedliche Klangcharakteristiken auf.
„IX Kla vier e“ (Foto: ORF musikprotokoll/Martin Gross)
Das Um und Auf jeder Klavierlektion – die richtige Sitz- und Handhaltung führte sich bei dieser Performance ad absurdum. Musste Acorne in den höheren Regionen doch hängend im Seil Halt finden oder sich zum Teil im untersten Bereich vor die Klaviere knien. Erstaunlich war, dass sich trotz der sportlichen Unbillen dennoch eine improvisierte Komposition ergab, die sich auch ohne Klettereinlagen hören lassen konnte. Dass sich jede Vorstellung – insgesamt waren es drei – anders gestaltete, liegt bei dem Konzept auf der Hand. Der Künstler, der zuvor einen Kletterkurs für Anfänger absolvierte, stellte in einem Interview mit Daniela Fietzek fest, dass er die körperliche Anstrengung nicht unterschätzen würde, „aber ich weiß von mir selbst, sobald es um die Kunst geht, finde ich immer Ressourcen in meinem Körper.“
„IX Kla vier e“ (Foto: ORF musikprotokoll/Martin Gross)
Die farblich unterschiedlichen Socken bei der 2. Aufführung – einer war gelb, der andere blau – sowie die kurze Zugabe – auf dem Kopf im Seil hängend, sprachen eine deutliche Sprache.
Man darf zwar die körperliche und künstlerische Leistung von Nick Acorne würdigen, zugleich aber nicht vergessen, dass sein Tun auch mit einer großen Menge Humor gespickt ist. Lachen und Staunen waren gleichermaßen erlaubt.
Erzählt wird darin die Geschichte von vier Frauen, die – ohne es zu wissen – denselben Mann lieben. Dieser flattert, wie es ihm gefällt, von einer zur anderen und versucht die Frauen in emotionale Abhängigkeiten zu manövrieren und zu halten. Ingo Kerkhof – KUG-Professor für Musikdramatische Darstellung (szenische Interpretation) führte Regie, Katharina Zotter sorgte für die Ausstattung und Gerrit Prießnitz war für die musikalische Leitung verantwortlich.
Das Orchester war an die linke Saalwand gerückt, der Dirigent stand mit dem Rücken zur Wand und hatte so sowohl das Instrumentalensemble als auch die Sängerinnen im Blick. Eine quadratische, weiß bespannte, wenige Zentimeter hohe Drehplattform markierte jenen Bereich, auf dem gespielt und gesungen wurde. Zusätzlich agierten die Sängerinnen abwechselnd an einem Schreibtisch, der am rechten Bühnenrand dem Publikum zugewandt war.
Die Studentinnen schlüpften in unterschiedliche Rollen und mimten dabei unter anderen auch eine Partie von Fabrikarbeiterinnen. Ein junges Mädchen erlebte gleich zu Beginn ihren tragischen Tod auf einer Krankenhausbahre. Ihr Alter-ego besang diesen Vorgang so, als würde die Sterbende sich selbst dabei zusehen. Die genauen Umstände, die zu diesem Tod führten, blieben nicht aufgeklärt – Spekulationen dürfen dazu klarerweise individuell ausfallen.
Das bestechende Libretto, bestehend aus kurzen, knappen Sätzen, mit Wiederholungen und zum Teil rüden Ausdrücken, bot der Komponistin eine große Menge an emotionalem Futter, das es galt, klanglich umzusetzen. Dabei gelang es Šenk die Stimmen im Vordergrund außerordentlich hörbar zu lassen und den instrumentalen Part lediglich unterstützend einzusetzen.
Nur an einer Stelle, in welcher von einem sexuellen Missbrauch erzählt wird, spielt das Orchester eine wesentlich stärkere Rolle. In diesem Teil wird der Text zum größten Teil gesprochen und der gewalttätige Vorgang durch das Wüten in den Instrumenten mit krachenden und scheppernden Geräuschen verdeutlicht. In dieser Szene stehen alle Frauen regungslos, in Schwarz gekleidet, auf dem Podest und harren in dieser Position aus, bis eine von ihnen flüstert: „I have to be quiet when it’s time to be quiet.“ Dieser Satz wird von den anderen aufgenommen und in einen Flüstergesang verwandelt, der unter die Haut geht.
„canvas“ (Foto: ORF musikprotokoll/Martin Gross)
Gut herausgearbeitet wurden die verschiedenen Charaktere – verheiratete Frauen, die Angst um das Entdecken ihrer Affäre haben, ein junges Mädchen, das Gott bittet, sie zu erlösen, eine Fabrikarbeiterin, die in dem Mann die höchste Erfüllung sieht, eine Dame, die sich durch das Liebesglück wieder jugendlich zu fühlen beginnt. Der Womanizer selbst kommt – auch von einer der Frauen dargestellt – nur kurz ins Spiel und wird dabei weder verführerisch, noch gewalttätig gezeigt. Nur eine Frau steht außerhalb der Liebesspirale. Sie wird als dicke Italienerin angekündigt, welche ohne zu singen auf die Bühne kommt und wieder abgeht. Sie ist die einzige, die emotional nicht abhängig zu sein scheint, aufgrund der Körperbeschreibung jedoch eine starke sexuelle Anziehungskraft ausüben dürfte.
Die Komponistin setzt Quartette, aber auch Solo-Arien ein und markierte die Szenenwechsel mit lauten Atemgeräuschen, die mit Mikrofon verstärkt werden. Es ist die besonders gelungene Balance aus Sprache und Musik, die diese Aufführung so besonders macht. Hilfreich, aber ästhetisch auch gut gelöst, war die Projektion des englischen Textes auf eine große Leinwand hinter den Sängerinnen. Dazu kommt, dass diese, Studierende der Musikuni Graz, allesamt bestens disponiert waren.
Melis Demiray, Lavinia Husmann, Laure-Cathérine Beyers, Marija-Katarina Jukić, Ellen Rose Kelly, Christine Rainer und Ana Vidmar darf zu ihrer tollen Leistung gratuliert werden.