Es gibt sie tatsächlich. Jene kleinen Inszenierungen, die ohne großes Brimborium durch die Welt reisen und egal, wo sie landen, das Publikum in jedem Land in ihren Bann ziehen.
Eine solche Inszenierung ist beim Festival der „wortwiege“ in den Kasematten in Wiener Neustadt gelandet. „fragil / fragile“ lautet das Motto dieser Saison und trifft damit auch den Kern des Stückes „The Anthology“. Smadar Yaaron und Moni Yossef vom Acco-Theater in Israel schaffen es, die Menschen in ihrem Salon über eine Stunde lang zu fesseln. Dabei darf auch gelacht werden, wenngleich einem das Lachen manches Mal auch im Hals stecken bleibt.
Smadar spielt eine feine, alte, jüdische Dame am Klavier, die sich zu ihren Erzählungen über Gott und die Welt selbst musikalisch begleitet. Der spritzig-witzige Eingangsmonolog versteht sich in der Replik als das Konstrukt einer Identität, die aufgrund ihrer Zerbrechlichkeit und ihrer Beschädigung erhöht werden muss. Ohne diese Erhöhung wäre diese Frau längst untergegangen und so lacht man anfangs zwar über größenwahnsinnige Auslegungen der jüdischen Kultur, versteht aber erst nach geraumer Zeit, warum diese für die alte Dame pure Überlebensstrategie ist.Smadar spricht in einem Sprachen-Misch-Masch in Hebräisch, englisch und deutsch über die Entstehung der Welt und dass das Judentum schlichtweg als Quelle allen Seins anzusehen ist – absurderweise auch jener des Blues oder Tangos. Sie berichtet über die Musik als Überlebensmittel genauso wie den Alkohol oder Tabletten, ohne welche sie schlichtweg ihre Bodenhaftung verlieren würde. Eine Bodenhaftung, die beim näheren Hinsehen jedoch gar keine ist. Aber die Geschichte dreht sich auch um eine Mutter-Sohn-Beziehung, die ungesünder nicht sein könnte. Grund dieses Missverhältnisses ist die ehemalige Internierung der alten Dame im KZ Auschwitz, dessen Trauma sie mit sich trägt und zu allem Überfluss auf ihren Sohn überstülpt. Dieser – auch schon 67 Jahre alt – erhält erst im zweiten Teil des Stückes seinen großen Auftritt und mischt sich sofort unter das Publikum, um sich mit ihm zu unterhalten. So sphärisch-künstlerisch seine Mutter die erste Halbzeit gestaltete, so gegensätzlich und direkt geht es im Anschluss bei ihm zu, der mit einer Gasmaske auf dem Kopf von Beginn an eine groteske Erscheinung ist.
In diesem psychologischen Kampf ums nackte Überleben, den die beiden Charaktere zeit ihres Lebens offenkundig spielen müssen, tun sich Abgründe auf. So tiefe, dass jegliche Political Correctness von Haus aus zum Scheitern verurteilt ist. Gerade aber die unverblümten, jedoch in charmante Worte verpackten Grauslichkeiten sind es, die verdeutlichen: Das, was einem Menschen in seinem Leben angetan wird, hinterlässt Spuren. Da kann er oder sie noch so kultiviert darüber hinwegleben wollen – das ihm oder ihr Böse zugefügte, bricht sich an gewissen Stellen dennoch seine Bahn und vergiftet die Nachkommen gleich mit.
Nichtsdestotrotz sind auch unerwartete, humorige Szenenwechsel zu erleben, dann aber auch zutiefst emotionale Ausbrüche. In einem solchen verwandelt sich der 67-jährige Mann in einen kleinen, wimmernden Jungen. Vom Grauen gepackt, von seiner Familie entfernt, knapp am Verdursten, brüllt er auf dem Klavier stehend seine Ängste heraus. Ob sich dieses Leid im KZ oder aktuellen Kampfgebieten abspielte oder abspielt, ist letztlich egal. Man wird Zeuge eines verzweifelten Menschenbündels, das völlig hilflos ist und sich nicht wehren kann. Weder gegen die Gewalt von außen, noch gegen die psychische seiner Mutter.
Smadar Yaaron und Moni Yossef schaffen das Meisterstück, mit intensivem Schauspiel, an dem man hautnah teilnimmt, tief in seelische Abgründe blicken zulassen, ohne anzuklagen. Vielmehr passiert im Laufe der Vorstellung eine Täter-Opfer-Umkehr, die fasziniert und abstößt zugleich. Das Aufplatzen von seelischen Wunden, die Sichtbarkeit von Wahnsinn, der nicht selbst verschuldet ist, sondern in den man getrieben wird, all das ist in einer Virtuosität umgesetzt, die unglaublich fasziniert.
Der Applaus, das Überlebensmittel jeder Schauspielerin und jedes Schauspielers, diese Anerkennung vom Publikum versagen sich die beiden. Was jedoch auf den ersten Blick als für sie bedauernswert erscheint, erweist sich schon wenige Augenblicke später, nachdem man den Raum verlassen hat, als psychologischer Rucksack, den sie unbemerkt dem Publikum umgehängt haben. Nicht klatschen zu dürfen und sich leise davonschleichen zu müssen, gleicht in seinem Gehabe einer Geste des Kopf-Einziehens, Schämens und Schuldbekenntnisses. Wie immer wieder postuliert wird, soll man nicht von Kollektivschuld sprechen. Wäre es aber nicht gerecht, Schuldgefühle genauso über Generationen hinweg weiterzutragen, wie auch Traumata an die kommenden Generationen weitergegeben werden?
„The Anthology“ ist nicht nur schauspielerisch von erster Güte. Auch der Inhalt, so einfach er auf den ersten Blick auch erscheinen mag, lebt von unglaublich vielen Ebenen, die jedem denkenden Menschen zwangsläufig eine ganze Reihe von Fragestellungen aufdrängen muss. Anna Maria Krassnigg bescherte dem Publikum mit der Einladung des israelischen Duos eine glanzvolle Premiere gegen Ende des Festivals in den Kasematten in Wiener Neustadt, das am 24. März 2024 endet.
Dieser Artikel ist auch verfügbar auf: Englisch