Auch Familie ist nur eine Konstruktion

Auch Familie ist nur eine Konstruktion

Was ist Familie? Dieser Frage geht Rebekka Kricheldorf pointiert und humorvoll in ihrem Stück „Alltag und Ekstase“ nach. Derzeit im Theater Drachengasse

Eiskalt scheint der Wind zu blasen. Zumindest akustisch ist dies zu erahnen. Zwei dick eingemummte Figuren mit dunklen Brillen, so wie man sie auf hohen Bergen zum Sonnenschutz trägt, klettern zwischen den Sitzreihen des Theater Drachengasse und imitieren einen gefährlichen Aufstieg. Man erfährt, dass Gunda für diesen Trip ihre Lebensversicherung verkauft und Jonas den Familienschmuck seiner Ex verscherbelt hat. Kostet ja auch, so ein Spaziergang auf den Himalaya in Nepal. Genauso halsbrecherisch wie die unwirtliche Umgebung ist auch der Dialog der beiden, der jedoch nicht lang andauert. Dann findet sich Jonas sterbend im zerklüfteten Gebiet der Theaterstufen zum Regieraum.

Szenenwechsel. Janne (Michael Smulik) muss sich von seiner Exfrau Katja (Katrin Grumeth) eine Belehrung über sein „Ficktempo“ anhören. Zu schnell ist er und lernt offenbar nichts dazu. Bald schon greift er zu einem Asthmaspray, denn emotionale Belastungen schlagen bei ihm direkt auf den Atmungsapparat. Erwachsen geworden ist der 40 Jährige noch nicht wirklich, lebt er doch, wenn´s brenzlig wird, von den Zuschüssen seiner Eltern. Günther, sein Vater (Rolf Schwab) und Sigrun, seine Mutter (Doina Weber) sind zwar längst geschieden, aber immer noch „die allerbesten Freunde“. Und permanent bemüht, sich gegenseitig auszutauschen und zu diskutieren, die eigenen Gefühlslagen in einer Art Permanentkommunikation den anderen mitzuteilen. Wer dialektisch ungeschult ist, bleibt hier auf der Strecke. Auch, wer sich nicht ununterbrochen in seine Seele schauen lassen möchte. Und so wird eifrig hinterfragt und diskutiert, attestiert, unterschwellig angeklagt und lächerlich gemacht, was das Zeug hält. Sohn, Mutter, Vater und Schwiegertochter halten mit nichts hinter dem Berg. Was die Allerjüngste, River, betrifft, kann man aus den Erzählungen über sie unschwer einen pubertären Entwicklungsschub diagnostizieren, mit dem eigentlich niemand wirklich richtig umgehen kann oder besser umgehen will. Zu sehr sind die Erwachsenen rund um sie herum mit sich selbst beschäftigt. Jeder und jede einzelne mit sich selbst.

Bis der junge Takeshi auftaucht. Ein angeblicher Geschäftspartner von Günther, der sich wiederum vornehmlich mit Riten fremder Kulturen beschäftigt. Der Japaner, stellt sich rasch heraus, wird zum Geliebten von Günther und bringt seine eigene Sicht auf das Brauchtum der Deutschen mit. „Ich habe ein Expertentum in“ – diesen Stehsatz wird man an dem Abend von ihm noch öfter hören. Egal ob es japanische Gartengestaltung, Robotik oder germanisches Brauchtum ist – Tekashi kennt sich dabei überall blendend aus. Und stellt bei Jonas fest, dass er nicht atmen kann, weil sein Gespenst gequetscht ist und er einmal eine Auszeit von sich selbst braucht.

Schräge Figuren in einer schrägen Familienkonstellation

Rebekka Kricheldorf schuf mit der Komödie „Alltag & Ekstase“ ein intelligentes, witzig-rasantes Stück über familiäres und außerfamiliäres Zusammenleben. Eine Art Bestandsaufnahme unserer westlichen Gesellschaftsbefindlichkeit, die von Selbsterfahrungskursen, psychologischen Diagnosen und gesellschaftsliberalen Einstellungen geprägt ist. Jeder und jede darf alles, solange er oder sie dies auch argumentieren und kommunizieren kann. Für den einen, wie Günther, sind es Rituale, die unabdingbar notwendig sind, um sein Leben halbwegs im Griff zu haben. Ihm ist es egal, ob er den mexikanischen Totenritus oder Chanukka feiert, Hauptsache gut durchritualisiert und ein alljährlich wiederkommender Markstein im sonst so undurchschaubaren Alltag. Sigrun wiederum geht ganz im Bau ihres Holzhauses auf und scheut sich auch nicht, sich von ihrer Familie mit einer hübschen Summe Geld loszukaufen. Keinen Sohn mehr, keine Ex-Schwiegertochter und schon gar kein dickes Enkelkind, von dem sie ja ohnehin nie geliebt wurde. Da lieber Geld auf den Tisch und los ist man seine Verwandtschaft.

Mit der Figur des japanischen Liebhabers schafft es Kricheldorf, den Blick auf vielleicht allzu Vertrautes aus unserem Kulturkreis von einer gänzlich anderen Seite aus zu beleuchten. Was für Takeshi altes Brauchtum, ist für Janne nationalistisches Gedankengut. Das Feiern mit Tausenden auf dem Oktoberfest bedeutet für Janne eine intellektuelle Pein, der man schließlich nur durch den Suff entkommt, für Takeshi bedeutet es Spaß ohne Ende. Dass dabei manches in eine gewaltige Schieflage gerät, liegt auf der Hand.

Sandra Schüddekopf meistert den schwierigen Raum in der Drachengasse mit Bravour

Mit viel Witz aber auch äußerst intelligenten Dialogen vergehen die 110 Minuten wie im Flug. Sandra Schüddekopf, die für die Regie verantwortlich zeichnet, lässt keine Verschnaufpausen zu. Der hohen Gag-Taktung fügt sie einen raschen Wechsel von Auf- und Abtritten hinzu, in deren Abfolge es keine einzige Minute gibt, die eine Länge aufweist. Der schwierige Theaterraum, der fast keine Tiefe aufweist, wird von ihr und Andrea Fischer, die die wunderbar schrägen Kostüme und das Bühnenbild gestaltete, optimal verwertet. Die Musik von Rupert Derschmidt pendelt zwischen deutschem Gesangsgut, Bierzeltmusik und japanischer Pentatonik bis hin zu einer Neuauflage von „Muss i denn zum Städele hinaus“, bei der sich Takeshi an einem wahnwitzig-hybriden elektronischen Instrument selbst begleitet. Seine Sicht auf Familie und Spaß kann für so manchen Liebespuristen westlicher Prägung erhellend sein. Auch wenn Janne meint, dass die Trennung von Familie auf der einen und Spaß auf der anderen Seite in unserem Kulturkreis als etwas sehr Trauriges empfunden wird.

Was ist Familie nun aber wirklich? Was ist Freundschaft? Alles nur eine Konstruktion, die man nach eigenem Gutdünken umkonstruieren kann? Michael Smulik, dem die undankbare Rolle von Janne zugedacht ist, jenem Janne, der sich von seinem Umfeld als wohltuend unexaltiert abhebt, brilliert in jeder einzelnen Gefühlslage. Vor allem aber in jener Szene, in der er den Urin von Takeshi trinken soll, angereichert mit halluzinogenen Substanzen von getrockneten Pilzen. Und er bringt, offenbar erwachsen geworden, entgegen allen anderen sein Unwohlsein auf den Punkt. Will er doch einmal in seinem Leben nichts anders tun als Millionen anderer Väter auch. Einen Urlaub gemeinsam mit seiner Tochter genießen. Und er will vor allem nicht mehr ständig an seinem Ich herumschrauben müssen.

Die Stärke des Stückes von Rebekka Kricheldorf liegt nicht allein in seinen mit Humor aufgeladenen Dialogen und der andersartigen Sicht eines Nicht-Europäers auf unsere familiären Strukturen. Vielmehr ist es auch ihre sensible Wiedergabe der unterschiedlichen Charaktere, die trotz aller Klamaukhaftigkeit dennoch einen authentischen Kern besitzen. Egal ob dies eine Sehnsucht, eine übergroße Libido, die Angst des Versagens oder die Weigerung erwachsen zu werden ist. Emotionen, die niemandem unbekannt sind. Gerade deswegen ist das Lachen des Publikums ein befreiendes. Was auf der Bühne des Theater Drachengasse verhandelt wird, ist trotz aller theatralischen Exotik ein Teil unserer Lebenswirklichkeit. Schön, sie einmal von einem anderen Standpunkt aus betrachten zu können!

Fazit: Ein tolles Stück und ein wunderbares Ensemble, das sich bis zum Letzten verausgabt. Empfehlung: Hingehen und ansehen!

Link: Theater Drachengasse

 

Weiß ist nicht immer auch unschuldig

Weiß ist nicht immer auch unschuldig

„Leuchtkraftformel“ so heißt jene Aufführung der „Kümmerinnen“, mit welcher das vierköpfige weibliche Ensemble die Saison im Theater in der Drachengasse eröffnete. Und tatsächlich scheinen ihre Outfits mit einem Leuchtkraft-Waschpulver gewaschen worden zu sein, so blendend weiß sind sie. Jung, schick, schlank, gestylt und strahlend präsentierten Anna Maria Eder, Katharina von Harsdorf, Constanze Passin und Lisa Schrammel dem Publikum einen Text, oder besser eine Textcollage von Katharina Tiwald. Im Untertitel trägt die Produktion den Titel „found footage opera“ womit dieser auf bereits vorgefundenen Zitate anspielt, die Tiwald zu einem Textmix veranlassten, welche über jene Probleme Auskunft geben, die frau dachte, schon lange hinter sich zu haben.

Von der Bühne in die Redaktion

Konstruiert wird dabei zu Beginn die Geschichte einer erfolgreichen „three women show“ welche sich unversehens in das Redaktionsteam einer Frauenzeitschrift samt Praktikantin verwandelt. Aber nicht nur hier, sondern durchgehend sorgt die Regisseurin Julia Nina Kneussel dafür, dass an diesem Abend das Tempo atemberaubend hoch gehalten wird. Das Publikum wird nach diesem kaum wahrnehmbaren Szenenwechsel Zeuge einer Redaktionssitzung in der vom Cover – blondes oder dunkles Model? – über den Inhalt und die Titelgebung der Stories so ziemlich alles verhandelt wird, was an Frauenklischees des 21. Jahrhunderts so in der Welt herumgeistert. „Stormen wir brain“ heißt es da zu Beginn und sogleich tauchen die vier in die weiblichen Problemfelder ein die da sind: Kosmetik, Mode und Sex. Von der richtigen Mascaramarke über die Segnungen und Versprechen von Brustverschönerungen bis hin zur Frage „habe ich beim Sex etwas falsch gemacht?“ wird singend und rezitierend jedes auch noch so peinliche und zugleich belanglose Interessensfeld abgehandelt in das frau sich – so wird hier unterschwellig suggeriert – verbeißen kann. Vom Weißen ins Schwarze driftet das Geschehen in jener Szene ab, in der klar wird, dass die Chefredakteurin eine schwangere Kollegin gekündigt hat und fortan von der Vorstellung des „Phantoms der Hausfrau“ geplagt wird.

Sprache als Exerzierfeld der weiblichen Identität

Es ist nicht die schrille Show, basierend auf einem eher seichten Handlungsablauf, die den Abend dennoch sehenswert macht. Vielmehr ist es die fulminante Sprachbeherrschung, die Tiwald in ihren Text einschreibt und die mit voller Power von den vier Frauen über die Bühne gebracht wird. Da wird gerappt und ge-dada-t, da werden Gebetsformeln bemüht oder einfach mehrstimmig schön-gesungen, was die Stimmbänder hergeben. Die Bühnenpräsenz der vier Protagonistinnen ist umwerfend stark und überdeckt den inhaltlichen Makel. Die Autorin präsentiert mit „Leuchtkraftformel“ einen Parforceritt durch konstruierte weibliche Identitäten, wie sie hauptsächlich von Medien verbreitet werden und leistet damit jedoch diesen verqueren Ideen auch Vorschub. Die Frage der Praktikantin, was sie denn im Kreis dieser Redakteurinnen mache und ob sie dafür 7 Semester Publizistik studieren hätte müssen, stellt ein zu geringes Gegengewicht dar, als das frau sich an diesem Abend im Geschehen auch tatsächlich wiederfinden kann.

Frauen – verfolgt euer Ziel!

Frauen – verfolgt euer Ziel!

Laut einer Studie des Wirtschaftsministeriums würden 55% aller jungen Frauen zu Hause bleiben, wenn der Mann genügend verdienen würde. Diese Zahl stammt nicht etwa aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts, sondern sie ist gerade einmal drei Jahre alt. Dass noch immer der Großteil der weiblichen Jugendlichen Lehrberufe wählt, die traditionell von Frauen besetzt sind wie z.B. Verkäuferin oder Friseurin, ist nichts Neues. Änderungen hin zu qualifizierteren und auch besser bezahlteren Jobs geschehen nur ganz langsam. Nicht viel anders sieht es bei der Wahl der Studienfächer von Frauen aus. Im Semester 2012/13 weisen die Studierenden im Bereich Naturwissenschaften und Informatik an den österreichischen FHs auch nur einen Frauenanteil von 23 Prozent auf. Es gibt wahrscheinlich mannigfache Gründe, warum das so ist. Ganz gewiss ein wichtiger ist das Fehlen von Role-Models, also von Vorbildern in diesem Bereich.

Das Theater Drachengasse kann hier im Moment gehörig Abhilfe schaffen. Unter dem zugegebenermaßen etwas sperrigen Titel „Curie_Meitner_Lamarr_unteilbar“ werden dort gleich drei vorbildhafte Frauen aus dem vorigen Jahrhundert zum Leben erweckt, die an der Entwicklung im technisch-naturwissenschaftlichen Bereich erheblichen Anteil hatten. Die zweifache Nobelpreisträgerin und Entdeckerin der Radioaktivität Marie Curie, die österreichische Atomphysikerin Lise Meitner und die österreichische Hollywoodschauspielerin Hedy Lamarr, die 2014 ihren 100. Geburtstag gefeiert hätte. Vor allem Letztere ist im allgemeinen Bewusstsein nicht als technische Pionierin verankert, hat aber tatsächlich das Frequenzsprungverfahren entwickelt, welches heute als eine der Grundlagen für Bluetooth und WLAN gilt.

Das Portraittheater, mit dem das Theater Drachengasse abermals in Kooperation ging, lässt in einer 90-minütigen Show das Publikum nicht nur an den verschiedenen Entdeckungen und Erfindungen – wie in Lamarrs Fall – teilhaben, sondern gewährt auch ganz persönliche Einblicke in die Lebensgeschichten der drei Frauen. Verantwortlich für die Kurzweil und die gehörige Portion Unterhaltung des Abends ist Anita Zieher, die nacheinander in alle drei weiblichen Rollen schlüpft. Mit ihrem Studienabschluss in Politikwissenschaft und Publizistik sowie ihrer Ausbildung zur Schauspielerin ist sie selbst ein Multitalent, das wie geschaffen ist, anderen Frauen – und vor allem Mädchen – Mut zu machen. Sie kämpft als Mme. Curie gegen die Missachtung ihrer Arbeit an, in der sie zeitweise nur als „Helferin“ ihres Mannes tituliert wurde, ein Umstand, den auch Lise Meitner zu spüren bekam. Bei ihr war es nicht ihr Ehemann – Meitner war nie verheiratet – sondern Otto Hahn, der Entdecker der Kernspaltung, dem sie mit ihren Berechnungen die physikalisch-theoretische Grundlage beisteuerte. Im Gegensatz zu ihm wurde sie bei der Verleihung des Nobelpreises eben für diese bahnbrechende wissenschaftliche Entdeckung nicht berücksichtigt. Zieher brilliert in beiden Rollen, kehrt vor allem die Besessenheit der Frauen zu ihrem Beruf schlüssig hervor und schafft es in der klaren Regie von Sandra Schüddekopf die naturwissenschaftlichen Leistungen so zu erklären, dass auch völlige Dummies auf diesem Gebiet ihre Aha-Erlebnisse haben. Unterstützt wird Zieher dabei von den drei Mädchen Johanna Braendle, Carla Götze und Marielies Willensdorfer, die in Videoeinspielungen im Stil von unterhaltsamen Wissenschaftsmagazinen die jeweiligen Entdeckungen anschaulich mit praktischen Beispielen unterfüttern.

Mit Hedy Lamarr schließlich verlässt Zieher die trockene wissenschaftliche Umgebung von Laboren mit technischen Apparaturen und taucht ein die glitzernde Welt von Hollywood. Lamarr, mit bürgerlichem Namen Hedwig Eva Maria Kiesler war sechs Mal verheiratet, ein Star mit einem Einkommen von Millionen von Dollar und eines der ersten Sexsymbole. Gemeinsam mit ihrem Nachbarn dem Komponisten Georg Antheil entdeckte sie, wie schon beschrieben, das Frequenzsprungverfahren. Zwar gelang es den beiden ein Patent zu erhalten, aber erst nach dessen Ablauf wurde ihre Erfindung in der Waffentechnologie gewinnbringend sowohl in der Kuba-Krise als auch im Korea-Krieg umgesetzt. Wie sehr sie sich auch über sich selbst lustig machen konnte, erfährt man mit ihrem Ausspruch, wonach jedes Mädchen glamourös aussehen könnte. Es müsste nur still stehen und dumm schauen.

Durch das geschickte Bühnenbild und vor allem auch die perfekte musikalische Untermalung von Rupert Derschmidt, in die sich auch zum Teil technische Klangphänomene mischen, erlebt man eine plausible Zeitreise, die sich vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis hin in dessen Mitte ausdehnt.

Neben dem technischen Verständnis, das die drei Frauen vereint, war es auch die Liebe zu ihren Vätern und ihr unbeugsamer Wille, das zu verfolgen und zu erreichen, wofür sie „brannten“. Ihr Selbstverständnis, als Frau neben ihren Kollegen in einer technisch dominanten Berufsumgebung anerkannt zu werden, war ebenfalls ein gemeinsamer Charakterzug, oder besser ausgedrückt ein unumstößliches Anliegen. Curie_Meitner_Lamarr_ unteilbar ist ein Theaterabend mit vielen Ansprüchen. Informativ soll er sein, unterhalten soll er und Mut soll er machen – all das ist dem Team vom Portraittheater tatsächlich geglückt.

Schmusepatschen und Highheels

Schmusepatschen und Highheels

Spitzendeckchen aus Plastik, rote Vorhänge vor den Fenstern, kleine Geldkassetten auf den Tischen. Mehr braucht es nicht, um jenes Ambiente zu erzeugen, in dem Diana ihrem Beruf nachgeht. „Love for sale“ – der Klassiker von Cole Porter, erklingt an diesem Abend mehrfach – in der Interpretation der drei Protagonistinnen Franziska Singer, Sonja Pikart und Prisca Schweiger, begleitet von Birgit Michlmayr an den Instrumenten. Der Vergleich zu den drei Grazien aus der Antike drängt sich förmlich auf. Wenngleich jene, die derzeit am Fleischmarkt 22 zu sehen sind, die aktuellen Körpercodes des Männerwerbens perfekt beherrschen und sich nicht mehr grazil nur an den Händen halten müssen, um in verdrehten Posen die Vorzüge ihrer körperlichen Schönheit zu präsentieren.

Appetizing young love for sale – love thats fresh and still unspoiled – love thats only slightly soiled – was sich so frisch und anregend in den Lyrics des Jazzoldies anhört, ist in die Sprache des harten Prostitutionslebens übersetzt nichts anderes als der nackte, schutzlose Körper von Mädchen und Frauen, missbraucht und geschunden, besudelt und verachtet. Das Geld, das für ihre Dienste bezahlt wird, ist Dreckiges. Und was Diana davon an einem Tag übrig bleibt, an dem sie zwischen 30 und 40 Männer bedient, ist gerade einmal der Stundenlohn eines mittleren Angestellten.

In der neuen Koproduktion des Theater Drachengasse und dielaemmer „Erst war es leer ohne Herz, aber jetzt geht`s wieder“ der jungen Dramatikerin Lucy Kirkwood, wird gleich zu Beginn klar, dass Prostitution – außer für den Zuhälter – beileibe kein lohnendes Geschäft ist. Diana, die von ihrem Freund und Vater ihrer Tochter zur Prostitution gezwungen wird, erlebt an diesem Abend noch einmal alle Höhen und Tiefen ihres jungen Lebens. Angefangen von der großen Liebe bis hin zu ihrer Verhaftung, gerade in jenem Moment, als sie ein Stückchen vermeintliche Freiheit zurückerlangt, verfolgt das Publikum ihren Lebens- und Leidensweg hautnah. Die Bühne ist an diesem Abend zweigeteilt. Die meiste Zeit über agieren die jungen Schauspielerinnen an der Längsseite des Raumes, was sie ganz nahe an die ZuseherInnen bringt. Ein kluger Schachzug, der die Körperlichkeit, mit der sie ihr Geld verdienen, spürbar werden lässt. Dass aber in manchen Szenen auch die Ursprungsbühne bespielt wird, erweist sich dann doch als sportliche Publikumsherausforderung. Die Spiegel, die das Geschehen indirekt ins Blickfeld der ZuseherInnen leiten sollen, sind zu klein, um diesen Effekt durchgehend aufrechtzuerhalten. Und so bleibt einem nichts anderes übrig, als streckenweise das Risiko eines Hexenschusses einzugehen oder dem Geschehen nur akustisch zu lauschen. Was schade ist. Denn Sonja Pikart als Gefängnisfreundin zieht gerade in dieser Szene, in der sie „ins letzte Eck“ gestellt wird, alle Register ihres Könnens. Zuvor jedoch vervielfältigen sie und Prisca Schweiger Dianas Agieren im Freierzimmer flankierend direkt vor dem Publikum und machen mit der Verdreifachung der Hauptakteurin deutlich: Hier handelt es sich nicht um ein Einzelschicksal.

Franziska Singer bringt alle Facetten der jungen Beinahe-Mutter Diana, die ihr Kind im fünften Monat unter traumatisierenden Umständen verloren hat, zum Leuchten. Von kindlich naiv bis hin zu völlig abgebrüht nach ihrer erzwungenen Prostitutionszeit, verkörpert sie glaubhaft die seelische Wandlung, die nur eine Konstante kennt: Die Liebe zu ihrer Tochter, zu der sie sich mit jeder Faser ihres Herzens sehnt. Schockierend – berührend agiert sie auch in jenem Teil, in welchem sie den Geschlechtsakt mit ihrem letzten Freier nachvollzieht. Hier hat die Regisseurin Alex. Riener ein Glanzstück hingelegt. Ohne nackte Haut zeigen zu müssen, springt der Funke des Entsetzens über jene sexuelle Gewalt aufs Publikum über, die die junge Frau wohl tausendfach erleben musste. Von ihren zuvor erklärten Rechtfertigungsschleifen, dass Sex etwas sei, das sie liebe und dass sie stolz darauf sei, eine der Besten zu sein, bleibt in diesem Moment kein Fädchen mehr übrig.

Prisca Schweiger beeindruckt neben ihrer lasziven Ausstrahlung vor allem mit ihrer Stimme. In den vielen musikalischen Einlagen ist es ihr Gesang, der die Melodien so professionell trägt, dass ein Playback schade wäre. Die wichtigsten Kleidungsstücke – Schmusepatschen und Highheels markieren die jeweiligen emotionalen Befindlichkeiten wie vermeintliche häusliche Geborgenheit und sexuelle Zurschaustellung des eigenen Fleisches – ein Dazwischen – scheint es nicht zu geben. Birgit Michlmayr baut mit ihren harten Gitarrenbeats und sanften Keybord-Klängen stimmige musikalische Räume, die Schein und Sein, zur Schau gestellte Lust und menschliches Leid adäquat unterstreichen.

So plakativ das Geschehen auf den ersten Blick auch scheinen mag – so viele unterschwellige gesellschaftliche Zustandsbeschreibungen hält es zugleich parat. Wie zum Beispiel jene, als Prostituierte noch nicht am Ende jener Skala angekommen zu sein, die ein „beschissenes“ Leben markiert. Das wird dann doch noch für jenen Freier bereitgehalten, der gelähmt im Rollstuhl sitzt. Und auch jene Schwarze, die Dianas Zuhälter vor ihr zur Prostitution genötigt hat, bleibt ihrem Gefühl nach weit unter ihrer eigenen Wertigkeit. Interessant auch die Beschreibung eines der höchsten Glücksgefühle, das Diana als I-Phone-Besitzerin erleben darf. Eine scharfe Konsummetapher, die aufzeigt, dass der Besitz von zeitgeistigen Gütern als so erstrebenswert empfunden wird, dass die eigene Ausbeutung dafür in Kauf genommen wird. Dass am Ende des Elends nur noch ein Haarshampoo der Marke L´Oréal das eigene Ich mit dem markigen Spruch „Weil ich es mir wert bin“ trösten kann, ist fast schon als logische Konsequenz anzusehen.

Der breit ausgewalzte Schlussteil erklärt zwar anschaulich die Genese der Beziehung Dianas zu ihrem Zuhälterfreund und klärt vor allem auch ihre zerrüttete Psyche, steht aber im Grundmotiv der naiven Unschuld in scharfem Kontrast zu den ersten beiden Dritteln des Abends. Was in der Textfassung funktioniert, beinhaltet in der Bühnenfassung ein Absinken der bis dahin stark aufgebauten Dramatik. Die Entschuldigung bei der Garderobe einer älteren Dame ihrer Freundin gegenüber, sie in „so ein Stück“ mitgenommen zu haben, bestätigt jedoch die Brisanz und lebensnahe Aufarbeitung des Themas. Auch wenn es manche nicht wahrhaben wollen: Dianas Schicksal ist eines von Hunderttausenden. Wegschauen und falsche moralische Maßstäbe anlegen, macht alles noch schlimmer.

Fazit: Hervorragende Besetzung und eine mutige Inszenierung mit kleinen Fallstricken. Sehenswert.

Links:

Webseite dielaemmer
Spielplan Theater Drachengasse
Theater Drachengasse bei European Cultural News

Das Leben ist eine Folge von Stichen ins Herz

Das Leben ist eine Folge von Stichen ins Herz

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Anita Zieher als George Sand (Foto: © Armin Bardel)

George Sand trifft Frédéric Chopin, lautet die derzeitige Produktion des „Portraittheaters“, einem Verein, der sich zum Ziel gesetzt hat „Personen, die durch ihr politisches, philosophisches, wissenschaftliches oder künstlerisches Wirken oder andere besondere Leistungen eine herausragende Rolle in der Gesellschaft erreicht haben, einem breiteren Publikum durch künstlerische Darstellung vorzustellen. Einen Schwerpunkt bildet die Porträtierung von herausragenden Frauen, um deren Wirkung oder Bedeutung in der Öffentlichkeit besser sichtbar zu machen.“ Soweit die Information laut Website. Dass dieses Ziel auch tatsächlich erreicht werden kann, zeigt noch bis 31. Mai das Theater Drachengasse.

Es genügen ein Stuhl und ein Tisch, eingehüllt in dunkelroten Brokat, ein Klavier samt Pianist und Anita Zieher, die in die Rolle von George Sand schlüpft und aus deren Texten liest. Und schon entsteht ein lebendiges Bild nicht nur jener Frau, die sich im 19. Jahrhundert in Frankreich Freiheiten nahm, die zu jener Zeit schier undenkbar waren. Vielmehr klingt ganz nebenbei auch eine gehörige Portion Zeitgeist mit, gewürzt mit einer Prise Musik von Chopin, die von Werner Lemberg am Pianino beigesteuert wird.

Brigitte Pointner, für die Regie verantwortlich, lässt George Sand, bekleidet mit Zylinder, schwarzem Gehrock, weißer Weste und Nadelstreifhose – ganz Dandy der Romantik – mit wenigen Hinweisen die Umrisse ihres Lebens skizzieren. Das Hauptaugenmerk jedoch legt sie auf ihr Gefühlsleben, das ständig von himmelhochjauchzend bis zu Tode betrübt schwankte. Ihre 9jährige Affäre mit Chopin war von ebensolchen Emotionen geprägt, von „einer Reise zu den Sternen“, wie Sand es selbst ausdrückte, bis hin zu jener Beziehungshölle, in der ihr die Luft zum Atmen fehlte. Interessant dabei, dass Chopin fast unbeachtet bleibt und einzig durch seine Musik sprechen darf.
All dies sind wäre nun keiner großen Erwähnung wert, hätte Sand nicht ein umfangreiches literarisches Oeuvre hinterlassen, war sie doch zeitlebens besessen von ihrer Arbeit. Gerade das ist es, was Frauen heute in eine ähnliche Situation bringt – die Hin- und Hergerissenheit zwischen Beruf, Liebe und Kindern. Die Idee, die Persönlichkeit von George Sand nur ganz punktuell zu beleuchten, geht auf. Anita Zieher gelingt es, Sands seelische Verletzungen, ihre Höhenflüge aber auch ihr analytisches Denken wiederaufleben zu lassen und in den knapp eineinhalb Stunden das Publikum so zu infizieren, dass man mehr von und über Sand lesen möchte.

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