Was ist Familie? Dieser Frage geht Rebekka Kricheldorf pointiert und humorvoll in ihrem Stück „Alltag und Ekstase“ nach. Derzeit im Theater Drachengasse
Eiskalt scheint der Wind zu blasen. Zumindest akustisch ist dies zu erahnen. Zwei dick eingemummte Figuren mit dunklen Brillen, so wie man sie auf hohen Bergen zum Sonnenschutz trägt, klettern zwischen den Sitzreihen des Theater Drachengasse und imitieren einen gefährlichen Aufstieg. Man erfährt, dass Gunda für diesen Trip ihre Lebensversicherung verkauft und Jonas den Familienschmuck seiner Ex verscherbelt hat. Kostet ja auch, so ein Spaziergang auf den Himalaya in Nepal. Genauso halsbrecherisch wie die unwirtliche Umgebung ist auch der Dialog der beiden, der jedoch nicht lang andauert. Dann findet sich Jonas sterbend im zerklüfteten Gebiet der Theaterstufen zum Regieraum.
Szenenwechsel. Janne (Michael Smulik) muss sich von seiner Exfrau Katja (Katrin Grumeth) eine Belehrung über sein „Ficktempo“ anhören. Zu schnell ist er und lernt offenbar nichts dazu. Bald schon greift er zu einem Asthmaspray, denn emotionale Belastungen schlagen bei ihm direkt auf den Atmungsapparat. Erwachsen geworden ist der 40 Jährige noch nicht wirklich, lebt er doch, wenn´s brenzlig wird, von den Zuschüssen seiner Eltern. Günther, sein Vater (Rolf Schwab) und Sigrun, seine Mutter (Doina Weber) sind zwar längst geschieden, aber immer noch „die allerbesten Freunde“. Und permanent bemüht, sich gegenseitig auszutauschen und zu diskutieren, die eigenen Gefühlslagen in einer Art Permanentkommunikation den anderen mitzuteilen. Wer dialektisch ungeschult ist, bleibt hier auf der Strecke. Auch, wer sich nicht ununterbrochen in seine Seele schauen lassen möchte. Und so wird eifrig hinterfragt und diskutiert, attestiert, unterschwellig angeklagt und lächerlich gemacht, was das Zeug hält. Sohn, Mutter, Vater und Schwiegertochter halten mit nichts hinter dem Berg. Was die Allerjüngste, River, betrifft, kann man aus den Erzählungen über sie unschwer einen pubertären Entwicklungsschub diagnostizieren, mit dem eigentlich niemand wirklich richtig umgehen kann oder besser umgehen will. Zu sehr sind die Erwachsenen rund um sie herum mit sich selbst beschäftigt. Jeder und jede einzelne mit sich selbst.
Bis der junge Takeshi auftaucht. Ein angeblicher Geschäftspartner von Günther, der sich wiederum vornehmlich mit Riten fremder Kulturen beschäftigt. Der Japaner, stellt sich rasch heraus, wird zum Geliebten von Günther und bringt seine eigene Sicht auf das Brauchtum der Deutschen mit. „Ich habe ein Expertentum in“ – diesen Stehsatz wird man an dem Abend von ihm noch öfter hören. Egal ob es japanische Gartengestaltung, Robotik oder germanisches Brauchtum ist – Tekashi kennt sich dabei überall blendend aus. Und stellt bei Jonas fest, dass er nicht atmen kann, weil sein Gespenst gequetscht ist und er einmal eine Auszeit von sich selbst braucht.
Schräge Figuren in einer schrägen Familienkonstellation
Rebekka Kricheldorf schuf mit der Komödie „Alltag & Ekstase“ ein intelligentes, witzig-rasantes Stück über familiäres und außerfamiliäres Zusammenleben. Eine Art Bestandsaufnahme unserer westlichen Gesellschaftsbefindlichkeit, die von Selbsterfahrungskursen, psychologischen Diagnosen und gesellschaftsliberalen Einstellungen geprägt ist. Jeder und jede darf alles, solange er oder sie dies auch argumentieren und kommunizieren kann. Für den einen, wie Günther, sind es Rituale, die unabdingbar notwendig sind, um sein Leben halbwegs im Griff zu haben. Ihm ist es egal, ob er den mexikanischen Totenritus oder Chanukka feiert, Hauptsache gut durchritualisiert und ein alljährlich wiederkommender Markstein im sonst so undurchschaubaren Alltag. Sigrun wiederum geht ganz im Bau ihres Holzhauses auf und scheut sich auch nicht, sich von ihrer Familie mit einer hübschen Summe Geld loszukaufen. Keinen Sohn mehr, keine Ex-Schwiegertochter und schon gar kein dickes Enkelkind, von dem sie ja ohnehin nie geliebt wurde. Da lieber Geld auf den Tisch und los ist man seine Verwandtschaft.
Mit der Figur des japanischen Liebhabers schafft es Kricheldorf, den Blick auf vielleicht allzu Vertrautes aus unserem Kulturkreis von einer gänzlich anderen Seite aus zu beleuchten. Was für Takeshi altes Brauchtum, ist für Janne nationalistisches Gedankengut. Das Feiern mit Tausenden auf dem Oktoberfest bedeutet für Janne eine intellektuelle Pein, der man schließlich nur durch den Suff entkommt, für Takeshi bedeutet es Spaß ohne Ende. Dass dabei manches in eine gewaltige Schieflage gerät, liegt auf der Hand.
Sandra Schüddekopf meistert den schwierigen Raum in der Drachengasse mit Bravour
Mit viel Witz aber auch äußerst intelligenten Dialogen vergehen die 110 Minuten wie im Flug. Sandra Schüddekopf, die für die Regie verantwortlich zeichnet, lässt keine Verschnaufpausen zu. Der hohen Gag-Taktung fügt sie einen raschen Wechsel von Auf- und Abtritten hinzu, in deren Abfolge es keine einzige Minute gibt, die eine Länge aufweist. Der schwierige Theaterraum, der fast keine Tiefe aufweist, wird von ihr und Andrea Fischer, die die wunderbar schrägen Kostüme und das Bühnenbild gestaltete, optimal verwertet. Die Musik von Rupert Derschmidt pendelt zwischen deutschem Gesangsgut, Bierzeltmusik und japanischer Pentatonik bis hin zu einer Neuauflage von „Muss i denn zum Städele hinaus“, bei der sich Takeshi an einem wahnwitzig-hybriden elektronischen Instrument selbst begleitet. Seine Sicht auf Familie und Spaß kann für so manchen Liebespuristen westlicher Prägung erhellend sein. Auch wenn Janne meint, dass die Trennung von Familie auf der einen und Spaß auf der anderen Seite in unserem Kulturkreis als etwas sehr Trauriges empfunden wird.
Was ist Familie nun aber wirklich? Was ist Freundschaft? Alles nur eine Konstruktion, die man nach eigenem Gutdünken umkonstruieren kann? Michael Smulik, dem die undankbare Rolle von Janne zugedacht ist, jenem Janne, der sich von seinem Umfeld als wohltuend unexaltiert abhebt, brilliert in jeder einzelnen Gefühlslage. Vor allem aber in jener Szene, in der er den Urin von Takeshi trinken soll, angereichert mit halluzinogenen Substanzen von getrockneten Pilzen. Und er bringt, offenbar erwachsen geworden, entgegen allen anderen sein Unwohlsein auf den Punkt. Will er doch einmal in seinem Leben nichts anders tun als Millionen anderer Väter auch. Einen Urlaub gemeinsam mit seiner Tochter genießen. Und er will vor allem nicht mehr ständig an seinem Ich herumschrauben müssen.
Die Stärke des Stückes von Rebekka Kricheldorf liegt nicht allein in seinen mit Humor aufgeladenen Dialogen und der andersartigen Sicht eines Nicht-Europäers auf unsere familiären Strukturen. Vielmehr ist es auch ihre sensible Wiedergabe der unterschiedlichen Charaktere, die trotz aller Klamaukhaftigkeit dennoch einen authentischen Kern besitzen. Egal ob dies eine Sehnsucht, eine übergroße Libido, die Angst des Versagens oder die Weigerung erwachsen zu werden ist. Emotionen, die niemandem unbekannt sind. Gerade deswegen ist das Lachen des Publikums ein befreiendes. Was auf der Bühne des Theater Drachengasse verhandelt wird, ist trotz aller theatralischen Exotik ein Teil unserer Lebenswirklichkeit. Schön, sie einmal von einem anderen Standpunkt aus betrachten zu können!
Fazit: Ein tolles Stück und ein wunderbares Ensemble, das sich bis zum Letzten verausgabt. Empfehlung: Hingehen und ansehen!
Link: Theater Drachengasse