Archivierte Aggressionen

Archivierte Aggressionen

Wie geht ein Tänzer mit einer Situation um, die nicht nur aktuell lebensbedrohlich ist, sondern die er schon beinahe sein ganzes Leben lang so empfinden muss? Wie kann man den israelisch-palästinensischen Konflikt zum Thema einer Performance machen? Was geschieht mit archiviertem Filmmaterial, in dem Aggressionen festgehalten wurden, die so oder ganz ähnlich nach wie vor ausgelebt werden? Kann man als der einen oder anderen Seite Zugehöriger dennoch einen Meta-Standpunkt einnehmen, ausbrechen aus seiner eigenen Verzweiflung und Wut? Kann man physische Gewalt überhaupt in einem kulturellen Surrounding vermitteln?

Arkadi Zaides hat in seiner Arbeit „Archive“ sich all diesen und noch wesentlich mehr Fragen gestellt und sie zu einer fulminanten, unter die Haut gehenden, schlüssigen Performance gebündelt. Zu sehen war diese am 23. April im Tanzquartier. Es war zugleich einer der Höhepunkte der diesjährigens Scores-Veranstaltung, die in Wien bereits zum 11. Mal stattfand. Der Choreograf und Tänzer wurde 1979 in der Sowjetunion geboren und emigrierte 1990 nach Israel wo er bis heute lebt. Seit dem Jahr 2006 erhielt er beinahe jährlich einen großen Preis, darunter 2014 den Emile Zola Chair for Human Rights.


Für „Archive“ benützte Zaides filmisches Material, das ihm von B’Tselem zur Verfügung gestellt wurde, dem israelischen Informations Zentrum für Menschenrechte in den besetzten Gebieten. Dafür wurden freiwillige Palästinenser, die in den Brennpunktzonen wohnten, mit Kameras ausgestattet, um Übergriffe zu dokumentieren. Zaides suchte sich einzelne, aussagekräftige Szenen aus einem gigantischen Materialkonvolut heraus und projizierte diese auf eine große Leinwand auf der Bühne. Er selbst positionierte sich davor und nahm immer wieder bestimmte Positionen von Männern ein, die im Film zu sehen waren. Zuerst eingefroren, skulptural, später dann in Bewegung. Wieder später auch mit den Worten, Sätzen und Geräuschen, die seine Protagonisten von sich gaben. Was sich erst im Laufe der Performance herauskristallisierte, waren die vielen unterschiedlichen Schichten, die in dieser Arbeit ein ganzes Geflecht von Sinnzusammenhängen und Deutungsmöglichkeiten ergaben.

ARCHIVE von Arkadi ZAIDES (c) Christophe RAYNAUD DE LAGE

ARCHIVE von Arkadi ZAIDES (c) Christophe RAYNAUD DE LAGE

Durch die Dreidimensionalität, die Zaides mit seinem eigenen Körper dem filmischen Geschehen hinzufügte, bekamen die dokumentarischen Szenen eine aktuelle Realität. Mit seinem Auftreten wurde physisch erfahrbar, nachfühlbar, beinahe angreifbar, was in der Zweidimensionalität des Filmes selbst zwangsläufig immer flach bleibt. Jugendliche, die sich im Steine-Werfen üben, ein Polizist, der unter Deckung mit einem Maschinengewehr auf Menschen auf einem Dach zielt, ein Protestierender, der von der israelischen Polizei an Händen und Beinen davon geschleppt wird und, und, und. Das, was hier zu sehen war, war harter Tobak. Und ist bis heute Alltag im Gazastreifen. Zaides schlüpfte in die Rolle jenes Mannes, der Schafe von ihrer Herde vertrieb, aber auch in jene eines Jugendlichen, der nach und nach einen Stein nach dem anderen vom Boden aufhob, um ihn so weit und präzise wie möglich zu schleudern. Er wimmerte wie jener Junge, der völlig betrunken von einer Frau an Armen und Beinen festgehalten wird und er positionierte sich bedrohlich, sein Gesicht mit dem eigenen T-Shirt vermummt, vor dem Publikum.

ARCHIVE von Arkadi ZAIDES (c) Christophe RAYNAUD DE LAGE

ARCHIVE von Arkadi ZAIDES (c) Christophe RAYNAUD DE LAGE

Sein Bewegungsvokabular spiegelte Aggression genauso wider wie Verzweiflung. Martialische Drohgesten und körperliche Schutzhaltungen, die sich bedingen, wurden von ihm in ein und denselben Körper transferiert und transformiert. Dabei wurde deutlich, dass nur eine tatsächliche physische Präsenz jenen Konflikt zumindest ansatzweise nachempfinden lässt, der im Nahen Osten ausweglos auch für die kommenden Generationen erscheint.
Das Geräusch-Looping, das er selbst live in die Elektronik einspielte, schwoll schließlich in einer Kakophonie von Schreien, Lauten, kurzen Sätzen und einzelnen Worten zu einer dichten, bedrohlichen Klangwelle an. Durch das Nachstellen und das Hineinschlüpfen in die Haltung von verschiedenen Aggressoren eignete sich Zaides deren historische Präsenz an einem bestimmten Tag und an einem bestimmten Ort an. Eine Aneignung, die im Grunde nichts Anderes ist als eine Art Bannzauber, wie er in der Menschheitsgeschichte seit Urzeiten immer wieder verwendet wurde. Eine transformierte, physische Einverleibung eines Gegenüber, von dem man am Ende der Performance nicht mehr wusste, auf welcher Seite dieses Gegenüber eigentlich stand. In den letzten Minuten blieb der Performer still vor dem Publikum, knapp vor der ersten Reihe stehen. Nur seine Augen suchten in der Menge Blickkontakt. In jenem magischen Moment verschwamm die Grenze zwischen Gut und Böse. Die Unterscheidung zwischen Angreifer und Opfer. Was blieb, war der Mensch, der Mann, sein Körper, seine Präsenz im Augenblick.

Meine, deine, unsere Familie

Meine, deine, unsere Familie

Es riecht nach Essen. Nach Zwiebeln, nach Kräutern. Der meterlange Tisch steht inmitten des Raumes, vollbepackt mit großen Schüsseln, Gemüse, Messern, Schneidbrettern, Ölflaschen. Offenbar wird gekocht werden. In der Halle G, die das Tanzquartier nutzt. Eine Kochshow?
Mitnichten.

Omar Rajeh, Leiter des Maqamat Dance Theatre aus dem Libanon war zu Gast in Wien. Rajeh, einer der Vorreiter und Hauptproponenten des zeitgenössischen Tanzes im Libanon, kam aber nicht alleine. Zu seiner Inszenierung „Beynta“ our home brachte er das Trio Joubran aus Palästina mit und lud in Wien drei weitere Tänzer und Choreografen ein. Keine geringen.

Koen Augustijnen, der eng mit „Les ballets C de la B“ zusammenarbeitet, Anani Dodji Sanouvi aus Togo, dessen Kompagnie in Amsterdam ansässig ist, sowie den charismatischen Hiroaki Umeda aus Japan, der mit seiner eigenen Körperarbeit ein ganz spezielles Bewegungsvokabular kreierte.

Inmitten all der Männer steht eine ältere Frau mit kurzen, schwarzen Haaren und langem Rock, eine Plastikschürze umgebunden. Sie beginnt ruhig, ohne zu sprechen, Gemüse zu schnippeln. Die Mutter von Omar Rajeh zeigt den Männern vor, wie sie das Gemüse zu schneiden haben. Die Berge von Lebensmitteln, die sich in den Schüsseln türmen, müssen schließlich bewältigt werden. „Beynta“ bedeutet frei übersetzt eine Einladung in ein Zuhause. Ein Zuhause, in dem man sich trifft, um einen Tisch schart, zusammen redet, feiert, isst.

„Früher haben wir uns jedes Wochenende bei meinem Großvater und meinen Onkeln getroffen. Die ganze Familie, das waren dann auch schon 30, 40 Leute“, erzählte Rajeh bei einem Interview. Dieses Feiern mit der Großfamilie hat sich aufgehört. Nur noch selten treffen alle zusammen. Die Sehnsucht nach einem Zuhause, in dem man sich verstanden fühlt, ist aber bei dem Tänzer geblieben. Für ihn ist die Einladung an den großen Tisch auf der Bühne nichts anderes als eine zeitgemäße Form gemeinsam zu feiern. Gemeinsam zu kommunizieren, sich auszutauschen, aber auch die Unterschiedlichkeiten festzustellen und diese auch als Unterschiedlichkeiten stehen zu lassen. Mit einer Familie, die nicht aufgrund von Erbgut zusammengehört, sondern mit einer Familie, die sich Rajeh selbst ausgesucht hat.

BEYTNA (c) TONY ELIEH

BEYTNA (c) TONY ELIEH

Seine Kollegen, die wie er tanzen und choreografieren, die Musiker mit denen er auftritt, die Menschen rings um die Produktion, jene die sich für seine Arbeit interessieren, das ist jetzt seine Familie. Seine selbst gewählte. Aber bis am Ende der Vorstellung tatsächlich gemeinsam gegessen und gefeiert wird, bieten Omar Rajeh und seine Freunde noch reichlich Tanz- und Musikfutter. Die drei Joubran-Brüder und ihr rhythmischer Begleiter Youssef Hbaisch stammen aus Palästina. Sie spielen jeder auf einer Oud, die sie mit ihrem Vater gemeinsam selbst gebaut haben. In der vierten Generation sind sie bereits Musiker und touren durch die ganze Welt. Der Sound, den sie an diesem Abend liefern, ist an die traditionelle Musik ihrer Heimat angelehnt, schwenkt aber während der einzelnen Darbietungen wie bei jener des Japaners Umeda auch in die asiatische Pentatonik und Klangmelodik. Das Oszillieren, der Austausch zwischen den Kulturen passiert auch im Tanz selbst, wobei jeder einzelne der Tänzer sich dabei seinem eigenen Tanzstil treu bleibt.

Sanouvi eröffnet dabei mit einer Choreografie, die stark an die Nachahmung eines großen Vogels erinnert. Wie Rajeh greift er dabei auf die genuine Tanzkultur seiner Heimat zurück, ohne jedoch diese nur zu kopieren. Sein Merkmal an diesem Abend ist jene Bewegung, die seinen Körper vom Kopf bis zu den Beinen durchschütteln lässt. Dabei hat es den Eindruck, als ob sich Sanouvi in eine Art Trance schüttelt, aus der er jeweils nur langsam wieder entweichen kann. Bei Rajeh sind es immer wieder Schrittfolgen aus dem traditionellen libanesischen Dabke, bei dem in rascher Folge Schritte mehr gestampft als getanzt werden, die er in sein Repertoire mit aufnimmt. Aber auch Gesten der Hände, die an jene der Frauen erinnert, die den arabischen Tanz pflegen, sind zu erkennen. Oft nimmt er beinahe Anlauf, um den Raum in der Diagonale zu durchqueren und abrupt wieder innezuhalten um in kleinteilige Schrittabläufe zurückzufallen. Umeda zeigt, wie man, ohne sich von der Stelle zu rühren, so bewegen kann, als gäbe es keine natürlichen Gesetze, die einem der Knochenbau eines Körpers vorgibt. Gegengleich verschieben sich bei ihm die Hüften, die Schultern und der Kopf und beugt dabei noch seine Knie. Der Belgier Augustijnen zelebriert den Ausdruckstanz mit verständlichen Gesten und kreiert einen neuen „Säbeltanz“ bei dem die Bedrohung mit einem Messer gegen sich selbst gerichtet ist.

Die schönsten Momente des Abends sind jene, in denen die Tänzer gemeinsam auftreten. In Zweier- oder wie am Schluss in einer Viererkonstellation. Wie sie sich in ihrem eigenen Ausdruck treu bleiben, zugleich aber auf die anderen eingehen, wie sich ihre Energien bündeln und ein neues, schillerndes Ganzes erzeugen ist nicht nur toll anzusehen, sondern macht auch Hoffnung.

BEYTNA (c) TONY ELIEH

BEYTNA (c) TONY ELIEH

Der Libanon ist ein Land, in dem sich viele Völker miteinander vermischen. Rajeh, der ein Stipendium an der Amerikanischen Universität in Beirut sausen ließ, um in London Tanz zu studieren, ist in einem Umfeld aufgewachsen, in dem Multikulturalität die Norm ist. Angesprochen auf die Flüchtlingsproblematik antwortete er völlig unprätentiös: „Wir haben so viele Flüchtlinge in unserem Land, dass ihre Zahl ein Drittel unserer Bevölkerung ausmacht. Aber was sollen wir tun? Niemand von ihnen kommt freiwillig, niemand wohnt freiwillig in Camps in einem Zelt. Das sind Menschen, denen müssen wir helfen.“ Als Europäerin ist man beschämt, ob dieser Aussage, wenn man daran denkt, welche Aufstände die Menschen hierzulande machen, welche Ausgrenzungen vonstattengehen, welche Abschottungen getroffen werden. Rajeh fährt die absolute Gegenstrategie. Man kann ihn ohne Weiteres als Pionier des zeitgenössischen Tanzes im Libanon bezeichnen, denn nach seinem Studium in London begann er die Tanzlandschaft in seinem Heimatland sukzessive aufzubauen. Mit bipod, einem internationalen Tanzfestival, das er auf die Beine gestellt hat – und das ohne öffentliche Förderung – ist er auch in der internationalen Wahrnehmung angekommen. Mit seinem Abend zeigt er, dass es möglich ist, auch extreme Individualisten, wie es Choreografen, ja alle kreativen Menschen zwangsläufig sind, unter einen Hut zu bringen.

Während das große Finale getanzt wird, ganz nah am Publikum, schweißtreibend und aufregend, weil jeder der vier Männer eine Persönlichkeit für sich ist, weil man jedem auch alleine gerne zusieht, arbeitet Rajehs Mutter am großen Tisch im Hintergrund. Sie bäckt frische Brotfladen, die im Libanon das Gericht namens „Fatouch“ begleiten. Frisch werden sie dem Ensemble und dem Publikum mit dem großen Salat serviert werden. Um zu demonstrieren, dass die Vielfalt eine große Spange hat, die alles zusammenhält. „Convivialité“ nennen die Franzosen das Zusammenkommen, das Teilen und Feiern unter Freunden. „Beynta“ nennen es die Libanesen. Müssen wir im deutschen Sprachraum dafür erst einen Begriff erfinden?

Hüpfen bis Arzt kommt

Hüpfen bis Arzt kommt

8 Paar Turnschuhe stehen fein sauber aufgereiht am vorderen Bühnenrand. 8 junge Menschen wärmen sich vor dem Bühnenprospekt der Halle G im Tanzquartier auf. Bewegen ihren Kopf von links nach rechts, schütteln ihre Beine aus. Auf ein unhörbares Kommando formieren sie sich, schreiten nach vor in die Bühnenmitte, zu den Schuhen, ziehen Socken und danach die Turnschuhe an und stehen in Reih und Glied eine ganze Weile unbeweglich. Wie bei einer Musterung. Wie, um sich zu taxieren und miteinander vergleichen zu lassen.

Dann, langsam und kaum merklich wippen sie in den Knien und beginnen, mit beiden Beinen zu hüpfen. Im selben Rhythmus, 1,2,1,2,1,2. Diese schweißtreibende Bewegung wird ungefähr 45 Minuten lang penibel von Piet Defrancq, Julien Josse, Steven Michel, Cherish Menzo, Laura Vanborm, Nelle Hens, Naomi Gibson und Ilse Ghekiere eingehalten werden. Sie hüpfen nebeneinander, wechseln ab und zu dabei langsam die Plätze, hüpfend, versteht sich, formieren sich zu einem sich drehenden Kreisradius. Die Arme leicht abgewinkelt, hüpfen und hüpfen sie, als ob sie von einem Mechanismus aufgezogen wären. Hüpfen und hüpfen, bis man an einem gewissen Punkt versteht, dass diese körperliche Ertüchtigung zur Sucht werden kann. Den Körper aufs Äußerste zu fordern und dabei den Kopf abzuschalten – das tun Millionen Menschen rund um den Globus. Gemeinsam meist in Fitness-Studios, aber viele auch für sich alleine.

Ab und zu gibt es ein laut gebrülltes Kommando, eine laut gebrüllte Zahl, dann wieder wird still weiter gehüpft. Schweißtreibend, wie man nach ca. 30 Minuten an den nassen Oberkörpern sehen kann. Jan Martens Truppe gastierte im Wiener Tanzquartier mit der Produktion „The dog days are over“, was nicht ganz der Wahrheit entspricht. Denn so lange die Truppe auf Tournee ist, sind sie in „dog days“ eingespannt, hüpfen sagenhafte 70 Minuten im Gleichklang, auf lange Strecken sogar in Reih und Glied. Je länger die Vorführung anhält, umso variabler werden die Bewegungen. Als ob unsichtbare Vorturnerinnen oder Vorturner ein Kommando übernommen hätten, geht es weiter ich Laufschritt am Stand. Dabei werden einzelne Körperteile gebeugt , die Hände auf die Oberschenkel geklatscht. Erst nach ca. 45 Minuten dürfen die drei Männer und fünf Frauen für einige Minuten stillstehen. Man atmet tief mit ihnen durch, um fast zu verzweifeln, als die Aerobic-Übungen wieder weitergeführt werden.

In der Mitte der Vorführung lässt Martens, der sich in der Wiener Aufführungswoche einer Knieoperation unterziehen musste, ein klassisches Gitarrenstück erklingen. Während die Hüpfwütigen unbeirrt weiterspringen, darf man dieser extrem kunstfertig interpretierten Musik lauschen. Hier steht die Leistung eines Einzelnen im krassen Kontrast zu einer im Pulk durchgeführten, stupiden Dauerbewegung, die es nicht zulässt, das Schöne, Poetische der Musik auch nur im Ansatz wahrzunehmen. Ganz im Gegenteil, je lauter die Musik, umso lauter werden die Kommandos gebrüllt.

„Was tut ihr hier, liebe Leute!“, möchte man mehrfach aufstehen und auf die Bühne schreien. Erkennt ihr die Uniformität eurer Bewegungen nicht einmal im Ansatz? Seid ihr so auf euer Äußeres fixiert, dass ihr euch dafür schindet, bis zur völligen Erschöpfung? Wann habt ihr das letzte Mal einfach nur so dagesessen, ein Buch gelesen, Musik gehört? Wann habt ihr selbst versucht, Musik zu machen? Die Social Media sind voll von Selfies auf denen sich Menschen rund um den Erdball in Badeoutfits fotografieren. Vor dem Schlafzimmerspiegel mit Vorliebe. Schaut, wie toll ich durchtrainiert bin! Das ist doch ein Grund zum Herzeigen, oder?

Was ihnen allen, die sich derart schinden meist entgeht, ist, dass diese Beschäftigung, der sie nachgehen, eine völlig unkommunikative ist. Denn hüpfen und springen, auf einer Hantelbank agieren oder das Laufband zu frequentieren – das alles sind Betätigungen, die man alleine ausführen muss und während derer man sich nicht auch noch mit jemandem unterhalten kann. Wie Soldatinnen und Soldaten folgt Martens Truppe den gebrüllten Kommandos und macht unverdrossen und ununterbrochen weiter.

Die quietschenden Turnschuhe und nach einer gewissen Zeit auch der Schweißgeruch, den die acht auf der Bühne verströmen, versetzen einen unwillkürlich in einen Trainingssaal. Und dennoch hat die Performance auch eine ästhetische und poetische Komponente. Die Figuren, die im Gleichklang gehüpft werden, das Auseinanderbrechen und Wiederzusammenfinden folgen nach einem ausgeklügelten Prinzip. Der Klang der auf dem Boden Aufkommenden, auch er kann sich, je nach Betonung des Taktes, verändern und eine Art von Musikalität entwickeln, die man sich im eigenen Kopf zusammenbauen kann.

Im Programmheft ist zu lesen, dass ein Mann aus dem Publikum bei einer Aufführung in Paris gerufen hätte „das ist Folter“ – womit er nicht unrecht hat. Der Unterschied ist aber, dass die Tänzerinnen und Tänzer auf der Bühne diese Tortur freiwillig auf sich nehmen. Money rules und schließlich ist das ja ihr Job. All jene aber, die damit kein Geld verdienen, sondern es mit ihren monatlichen Mitgliedsbeiträgen in den Fitness-Studios ausgeben, haben eine andere Motivation. Es ist der Drang, wenn nicht sogar die Obsession, sich in einem fitten, gestählten, muskulösen Körper zu befinden, der sich keines Vergleiches schämen muss. Neben des Fitnessaufbaues hat es den Anschein, als ob sich die Männer und Frauen aufs Äußerste rüsten wollten. Für den Kampf außerhalb des Trainingsraumes, für die Competitions, die in der Gesellschaft stattfinden und aus denen sie siegreich hervorgehen möchten. Gesundheitswahn, die Anforderungen im Arbeitsprozess, der zunehmend auch gestählte Körper benötigt, die Suche nach einem Partner oder Partnerin, all dies sind Gründe, warum sich Menschen in Situationen begeben, die ihnen körperlich das Letzte abverlangen. Nicht zu vergessen der Adrenalinausstoß, der immer und immer wieder abgeholt werden muss.

Jan Martens Stück bietet schon während seiner Aufführung reichlich Gelegenheit, über all diese Komponenten nachzudenken. Auch darüber, wie reduziert Körperbewegungen eigentlich sein können, um damit dennoch einen ganzen Abend spannend zu füllen. Im Schlussbild stehen alle wieder unbeweglich in Reih und Glied. Die Lichttechnik macht es möglich, dass es den Anschein hat, als würden sie von den Zehen bis zum Scheitel gescannt werden. Schließlich muss vermessen werden, was an Muskelmasse aufgebaut wurde.

Beim Nachhauseweg probierten wir es selbst und hüpften auf der Straße eine Zeitlang vor uns hin. Untrainiert, wie wir sind, geben wir keine Auskunft über die Anzahl der Sprünge. Nur so viel sei verraten – bis zur Ampel an der Museumsstraße haben wir es immerhin geschafft.

Tanz aus alltäglichem und sportlichem Bewegungsvokabular

Tanz aus alltäglichem und sportlichem Bewegungsvokabular

Fotos und Slowmotion – aus beiden Medien kennen wir sie: Bilder von alltäglichen Bewegungsabläufen, die darin entweder extrem verlangsamt werden und dadurch eine eigene Ästhetik erhalten oder ganz eingefroren werden. Noé Soulier, französischer Tänzer und Choreograf widmet sich in seiner Arbeit „Removing“ einem eigenwilligen Bewegungsvokabular, das er einerseits aus Alltagsbewegungen entnahm, andererseits aus jenen der Kampfsportart Jiu Jitsu.

Im Tanzquartier präsentierte der Pariser nach „Movement on Movement“ im Vorjahr seine zweite Arbeit. Dafür extrahierte er einzelne Bewegungselemente, verband sie mit anderen und setzte sie zu einem neuen Ganzen zusammen. Das ist zwar im zeitgenössischen Tanz nicht neu. Was jedoch ungewöhnlich ist, sind die Ableitungen aus sportlichen Disziplinen. Wobei in dieser speziellen Choreografie die Grenze zwischen Tanz und Sport teilweise zu verschwimmen scheint. Die Vorführung kommt größtenteils ohne Musik aus, nur zu Beginn und am Schluss werden Geräusche wie leichtes und lautes Donnergrollen eingespielt. Jeder und jede der vier Tänzer und zwei Tänzerinnen verwenden auf große Strecken hin die selben Schritt- und Bewegungskombinationen, wandeln sie ab, ergänzen sie und stellen sie immer wieder neu zusammen.

Auch wenn Soulier selbst nicht davon spricht, ist man versucht, die mehrstimmigen Inventionen von Bach als theoretisches Vergleichsmodell heranzuziehen. Das Ensemble tritt solistisch auf, in Duetten oder Terzetten, zu viert fünft oder sechst. Sie tanzen synchron, dann wieder wie in einem Kanon verschoben oder so, dass sich die Bewegungsmuster auf der Bühne in der Aufsicht verstricken und wieder auflösen. Dies ergibt eine ästhetische Basis, die im exakten Vier-Vierteltakt durchgehalten wird, auch wenn keinerlei Musik erklingt. Das rasche Tempo verlangt den Tänzerinnen und Tänzern viel Kraft ab.

Immer wieder entsteht der Eindruck, als würden Bälle im Spiel sein, Tennis- oder Squashbälle, nach denen ausgeholt wird und die fort geschlagen werden. Dann wieder sind Jiu Jitsu Aktionen deutlich erkennbar. Das Ausholen eines Beines, das Treten nach einem imaginären aber auch realen Gegenüber, das Fangen, Werfen, Ausweichen, Fallen, das Attackieren und zu-Boden-Gehen, all das verbindet Soulier mit einem tänzerischen Habitus.

Dabei ist es keine Geschichte, die erzählt wird. Die Bewegung an sich, die daraus entwickelte Choreografie, steht im Vordergrund des Erlebens, muss stark genug sein, um ein Programm zu füllen. Soulier meinte dazu in einem Interview mit Thomas Hahn im tanz.Jahrbuch 2015, das auszugsweise im Programmheft abgedruckt wurde: „ Narration ist nur noch retrospektiv…und sie verlangt eine enorme Vereinfachung. Von daher verliert sie immer an Glaubwürdigkeit.“ Das ist einer der Gründe, warum der Choreograf versucht, Erzählerisches zu vermeiden. Immer wieder laufen die Tänzerinnen und Tänzer für ihren nächsten Einsatz in ihren Turnschuhen auf die Bühne, so als wollten sie ihre Kolleginnen und Kollegen abklatschen. An manchen Stellen agieren sie, indem sie sich gegenseitig unterstützen, manches Mal reagieren sie auf Momente, in welchen Druck Gegendruck oder Zug Gegenzug erzeugt.

Im Mittelteil geht es in den körperlichen Nahkontakt. Zwei der Tanzenden verbinden sich zu einem einzigen Organismus, der sich über lange Strecken auf dem Boden in immer neuen Formationen mit und gegen sich selbst bewegt. Ineinander verhakt, rollen die beiden Männer verknäuelt, bleiben auf- und untereinander liegen, verharren für Sekunden regungslos, um von Neuem die Bewegung aufzunehmen. Ein sehr langer Teil, der von offensichtlichen Hafengeräuschen begleitet wird. Hier hätte Soulier ohne Verlust kürzen können, das Geschehen scheint wie in einer Endlosschleife repetiert zu werden.

Wie zu Beginn endet der Abend mit  Solo- und gemeinsamen Auftritten, die sich ablösen. Das Zusammenballen, das Auseinandergehen, das sich-wieder-Finden der Tanzenden, das Abgehen geschieht nun in einer formvollendeten Tanzsprache, die, auch aufgrund einiger weniger erkennbarer Tanzschritte, an klassischen Tanz erinnert. Obwohl die einzelnen Körper bis auf diese Miniaturen völlig andere Bewegungsvokabularien verwenden.

Mit einem Augenzwinkern verabschiedet sich „Removing“, das man mit  „Neu-Zusammensetzung von Bewegungen“ übersetzen könnte. Denn Jose Pauolo Dos Santos steppt ganz wider Erwarten leichtfüßig von links nach rechts, mit einigen beruhigten Zwischenschritten über die Bühne. Tanz von vorgestern, wie im Hauch ins Heute herüber wehend, winkt dem Publikum noch einmal zu. Es wird kein Zufall sein, dass Soulier einen Tanzstil wählte, bei dem das Publikum in seiner Entstehungszeit im 19. Jahrhundert vielleicht sogar ähnliche ästhetische Erfahrungen machen konnte wie dies heute in seinem „Removing“ der Fall ist. Alltägliches neu sehen und neu interpretieren, das ist die künstlerische Leistung des jungen Choreografen, die er mit diesem Stück vorlegt.

Mit: Jose Pauolo Dos Santos, Yumiko Funaya, Anna Massoni, Norbert Pape, Nans Pierson, Noé Soulier

Phace tanzt

Phace tanzt

Sie gehören weltweit zu den besten Ensembles für zeitgenössische Musik. Sie zeichnen sich durch ihre Flexibilität und ihren Mut aus, Neues auszuprobieren. Beides brauchten die Damen und Herren des Ensemble Phace bei der österreichischen Uraufführung von Monadology XVIII «Moving Architecture».

Es ist ein Gemeinschaftswerk des Komponisten Bernhard Lang und der Tänzerin und Choreografin Silke Grabinger, das sie bereits 2002, anlässlich des 10-Jahre-Jubiläums des Baus des Austrian Cultural Forum NYC von Raimund Abraham, erarbeiteten.
Nicht nur, dass die Komposition und die Choreografie Hand in Hand gingen. Nicht nur, dass Grabinger eine eigene Notation für die Choreografie erarbeitete, die Lang dann in seine Partitur integrierte. Die Choreografie bezieht sich auch auf die Musikerinnen und Musiker. Sie kommt dann zum Einsatz, wenn diese in ihrer musikalischen Produktion Pause haben.

Barbara Vuzem und Matej Kubuš agierten dabei sowohl solistisch, als auch als Vortanzende, die dem Ensemble Halt und Sicherheit bei seinen ungewohnten Bewegungen gab. „Ein wichtiger Punkt ist, dass die Bewegungen auf den Gesten der Musikerinnen und Musikern basieren, die ich von den Proben abgenommen habe. Ich habe mich dabei gefragt: Wie bewegt sich eigentlich ein Musiker, eine Musikerin, wenn sie nichts tun? Es ist interessant, welch lustige, interessante und unterschiedliche Gesten es da gibt. Daraus konnte ich einen eigenen Bewegungskatalog erarbeiten“, erklärte Grabinger in einem gemeinsamen Interview mit Lang. Und auch, dass die Bewegungen nicht in die Breite ausufern, sondern vertikal ausgerichtet sind, war dabei zu erfahren. Ein Bezug auf den nur 7,5 Meter schmalen Grundriss des Hauses, das aber 24 Stockwerke aufweist.

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Monadology XVIII „Moving Architecture“ (c) Markus Bruckner / Phace

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Monadology XVIII „Moving Architecture“ (c) Markus Bruckner / Phace

Die Musik von Bernhard Lang fußt ebenfalls auf dem Gebäude-Grundriss, der sich nach oben hin ständig verjüngt. Und so ist auch das Anfangs-Stück das längste und das allerletzte, das kürzeste. Mit weißen Stirnbändern und Bemalungen rund um den Kopf, weißen Shirts und Hosen waren die Tanzenden und Musizierenden ausstaffiert. Einzig die Solistin Daisy Press trug ein bodenlanges, weißes Kleid, das sie beim Gehen wie einen Fächer auseinander falten konnte. Ein wunderbares Lichtdesign unterstützte die extrem abwechslungsreiche Performance. Mal glänzend weiß und hell, dann wieder leicht rosa beleuchtet, mal in Schatten getaucht, dann wieder unter einzelnen Lichtkegeln agierten die Damen und Herren auf der Bühne des Tanzquartiers. Dem Generalthema „Pop Song Voice“ von Wien Modern wird das Stück in mehrfacher Hinsicht gerecht. Denn Lang verwendete Bob Dylan´s „Like a Rolling Stone“ als Ausgangsmaterial, das er nicht nur zu Beginn, sondern immer wieder innerhalb des Stückes aufblitzen lässt.

Der Komponist verschmolz Texte der Emigrantin Rose Ausländer mit seiner Musik, die Grabinger an einigen Stellen förmlich illustrierte. Als Press über den „floor“ singt, legen sich alle auf den Boden, als sie einen Raum als „Zelle“ benennt, beginnen sich alle wie in Hospitalisierungsbewegungen mit ihrem Oberkörper rasch nach vor- und zurückzubewegen.

Die vielen Loops, aber auch kurzen Wiederholungspassagen ergeben eine eigene Dynamik, in die man sich rasch einhört. Die einzelnen musikalischen Teile, die ganz unterschiedlich gefärbt sind, gehen teilweise ineinander über, oder präsentieren sich wie symphonische Ausschnitte, aber auch kammermusikalische Sätze. An einer Stelle lassen Fanfaren und langgezogene Dur-Akkorde in Gedanken einen italienischen Fürstenhof der Renaissance auferstehen, dann wiederum groovt der Sound und swingt, sodass man gerne mittanzen möchte.

MOV ARCH - (C) Markus Bruckner - PHACE_4163c

Monadology XVIII „Moving Architecture“ (c) Markus Bruckner / Phace

MOV ARCH - (C) Markus Bruckner - PHACE_4192c

Monadology XVIII „Moving Architecture“ (c) Markus Bruckner / Phace

Vom Dunkel der Emigration, die sich in den ersten Teilen breit macht, hin zu einer starken Hoffnung und auch Spaß am Leben ist die Komposition ausgerichtet. Die Bewegungselemente jedoch bleiben immer dieselben. Der choreografische Kanon zeigt zackige Arm- und Bein- und ruckartige Kopfbewegungen. Die Menschen sehen in dieser Choreografie aus, als wären sie von einem Außen getrieben. Nur an einer Stelle darf sich Vuzem an ihren Partner in Zuneigung anlehnen. Sonst, so hat es den Anschein, ist das Leben ein einsames, von Arbeit und Zwängen geprägtes.

Ergänzend zum ohnehin schon dichten Geschehen auf der Bühne sind verschiedene Projektionen zu sehen. Nicht durchgehend, sondern in einer bewussten Dramaturgie von abstrakt bis illustrierend, erhellt sich die Wand hinter dem Ensemble zeitweise. Gezeigt werden Bilder des ACF von außen, konzentrische Kreise, die dunkler und heller werden, Rauch, der wie ein bewegtes, abstraktes Bild von oben nach unten seine Schlieren zieht, aber auch zarte Wolken beim allerletzten Satz. Hoch oben, im letzten Stock darf man schon den Himmel schauen!

Immer wieder in der Musikliteratur werden Musikerinnen und Musiker auf die Bühne geholt. Aber wenn, dann als musizierende Statisten, die ein Orchester spielen oder auch als Solistinnen und Solisten oder als marschierende Blasmusikkapelle. In diesem Stück ist die Rolle sowohl der Ensemblemitglieder als auch der Tanzenden und der Solistin gänzlich neu gedacht. Sie verschmelzen zu einer Einheit, einem Organismus, bei dem sich die Grenzen zwischen den verschiedenen Berufen auflösen. Dass sie alle, inklusive dem Dirigenten Joseph Trafton, barfuß agierten, hat ganz sicher nicht nur etwas mit der Ästhetik der Choreografie zu tun. Ohne Schuhe auf der Bühne zu sitzen, ist für Musikerinnen und Musiker so, als würden sich Tänzerinnen und Tänzer nackt ausziehen. Das Mitklopfen eines Taktes gestaltet sich völlig anders, ob man Leder oder Plastik unter den Füßen hat, oder gar nichts. Die Erdung, das Gefühl, mit dem Boden in direktem Kontakt zu stehen, wirkt sich sicherlich auch ursächlich auf das Spiel selbst aus. Die bloßen Füße können aber auch als ein Hinweis auf die Verletzbarkeit des Menschen gedeutet werden. Auf der Flucht zu sein, so wie Rose Ausländer es war und wie es heute Millionen Menschen weltweit sind, bedeutet unter Umständen, alles zu verlieren und mit Glück das nackte Leben zu behalten.

Dass sich solche Gedanken einstellen, kann als Indiz dafür gesehen werden, dass Lang und Grabinger mit all den Interpretinnen und Interpreten ganze Arbeit geleistet haben. Das Stück hat das Zeug, sich zu einer Musik- und Tanzikone des beginnenden 21. Jahrhunderts zu mausern. Dazu bedarf es nicht viel mehr, als einiger verständnisvoller Augen und geschulter Ohren, die sehen und hören, welch unglaubliches, vorausschauendes Kreativpotential in Monadology XVII „Moving Architecture“ enthalten ist. Und dies weitertragen oder damit weiterarbeiten.

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