Ein Kompendium der Lust

Ein Kompendium der Lust

Mette Ingvartsen wartete mit zwei Arbeiten im Tanzquartier auf. Aus ihrer Serie „Red Pieces“ präsentierte sie zum einen „69 positions“ aber auch „7 pleasures“, die in diesem Artikel rezensiert werden.

Im Vorraum zur Halle G im Museumsquartier ist an diesem Abend eines auffallend: Auf die Vorstellung von Mette Ingvartsen „7 pleasures“ im Tanzquartier Wien warten auffallend viele ältere Männer. Wer meint, dass hier ein Klischee aufgezeigt wird, liegt falsch. Die Realität überholt, was die Publikumszusammensetzung betrifft, an diesem Abend das Klischee.

Das, was auf der Bühne gezeigt werden wird, soweit steht fest, hat etwas mit nackten Tatsachen zu tun. Und das wiederum ist Augen- und sonstiges Futter auch für Menschen, die sonst eher selten zu zeitgenössischen Tanzperformances kommen. Aber sei´s drum. Die dänische Choreografin und Tänzerin wird sich dieses Phänomens bewusst sein. Beim Eintritt ruft jemand vom Saalpersonal laut „keine Fotos, keine Videos“ und tatsächlich erweist sich das Publikum diszipliniert und erhält im Gegenzug eine intensive Vorstellung. Diese wirkt, das kann man immer wieder erkennen, auf besondere Weise auf das Ensemble selbst. Die Zusehenden werden dabei in speziellen Szenen zum Voyeurismus gezwungen, da die Interaktionen auf der Bühne dafür eigentlich gar keine Zuseher benötigen. Aber es gibt auch Bilder, die ästhetische Komponenten anbieten, die man gerne von den Zuschauerrängen aus verfolgt.

Wie gleich zu Beginn. 12 Darstellerinnen und Darsteller stehen im Publikum auf, ziehen sich nackt aus und begeben sich auf die Bühne. Ballen sich bis auf eine Person zu einem lebenden Menschenknäuel zusammen, zu einem 12-Zeller. Dieser schiebt sich dann vom Boden hoch auf ein schwarzes Sofa, hinab von demselben und quer durch den Raum, bis er bei jener Frau ankommt, die im Vordergrund der Bühne alleine auf einem Fauteuil sitzt. Das Bühnenbild zeigt ein wenig heimeliges Wohnzimmer mit Couch, Tisch, einer Yuccapalme, Sesseln, zwei orangen Knäuellampen. Es bietet, das wird im Laufe der Vorstellung klar, nur die Illusion eines geschützten Raumes. Die Öffnung zum Publikum hin stellt keinen Schutz dar, sondern genau das Gegenteil. Dies dürfte für das Ensemble neben sehr kraftraubenden Aktionen die größte Herausforderung darstellen. Denn schließlich zeigen sich die Frauen und Männer nicht nur nackt, sondern in Positionen, die normalerweise hinter verschlossenen Türen eingenommen werden.

Das Zucken der Leiber, das bald einsetzt, fordert konditionsmäßig alles, aber es setzt auch jede Menge Adrenalin frei. Sich zum Rhythmus des harten Beats bis zur Verausgabung zu bewegen, bewirkt nach einer bestimmten Zeit offenbar ein unglaubliches Glücksgefühl. Zumindest lässt sich das an den Mienen der Tänzerinnen und Tänzer gut ablesen. Erinnerungen an die Happenings der 68er steigen auf. Damals war es das erste Mal in der Geschichte, dass der Zustand der Nacktheit, in gruppendynamischen Aktionen ausprobiert, ungestraft blieb.

Langsam verändern sich die Bewegungsmuster auf der Bühne und zeigen schließlich Kopulationsbewegungen, wenngleich auch ohne Erektionen oder Penetrationen. Und doch scheint sich die Menschenmasse in einem gemeinsamen, vorexstatischen Zustand zu befinden. Immer wieder verändert Ingvartsen die unteschiedlichen Bilder. Lässt auf Exstase eine Ruhephase folgen bis sich die Szenerie erneut verändert. Sie wird dies an diesem Abend noch mehrfacht tun und dabei sexuelle Praktiken anklingen lassen, die mit Lust aber auch mit brutaler Unterwerfung zu tun haben. In einer Sequenz werden Objekte, wie die Palme, aber auch ein großes, schwarzes Baurohr und der Tisch einfach zu Lustobjekten uminterpretiert. Bondage-Aktionen, masochistische und sadistische Eingriffe in die Körperlichkeit der anderen können noch immer als individuelle Lustparameter gelesen werden, die hier an diesem Ort und zu dieser Zeit öffentlich praktiziert werden. Noch herrscht, obwohl sich hier die ersten Ansätze zu Machtverschiebungen unter den Darstellerinnen und Darstellern zeigen, eine Egalität unter den Menschen. Noch scheint alles mit dem Einverständnis eines jeden und einer jeden stattzufinden. Bis hin zu jenem Moment, in dem sich sechs der insgesamt 12 Personen wieder anziehen.

Schlagartig gibt es kein vereinheitlichendes „Wir“ mehr, sondern die Aufteilung in Schwarze und Weiße. In solche, die Macht ausüben und solche, die Macht erdulden müssen. Nun kippt das, was zuvor noch als Lust erlebt werden konnte, ins Brutale, Menschenverachtende. Kollektive Erniedrigung verbreitet eine Stimmung der Ohnmacht. Nun im Publikum sitzen zu müssen und nicht einschreiten zu dürfen, erweist sich in gewissen Momenten als pure Qual. Die Bandbreite der Emotionen von den Zusehenden dürfte sich zwischen Lust und Abscheu bewegen. Je nach Sozialisation und eigener sexueller Präferenz.

Ingvartsen erhebt Intimes zum kollektiven Erlebnis. Ästhetisch aufbereitet wandelt es sich zum kulturellen Event, dessen Subtext es jedoch aufgrund der eindeutigen Bilder schwer hat, an die Oberfläche zu dringen. Was ist es, was sie hier zeigt, was in der Fülle des pornografischen Internetangebotes nicht gesehen werden kann? Ist es allein die künstlerische Transformation, die einen Abend wie diesen gesellschaftsfähig macht und wenn ja, was soll diese bewirken? Die Erfahrungen, die für die Truppe selbst besonders sein dürften, sind auf das Publikum nur bedingt übertragbar. Was bleibt, ist schließlich die Erinnerung an einzelne Bilder und Szenen, die den menschlichen Leib in seiner Lustbewegtheit in mannigfachen Positionen in einem öffentlichen Raum zeigen. Nacktheit an sich ist schon seit den 20er Jahren auf den europäischen Tanzbühnen ein Phänomen, das immer wieder in unterschiedlichen Variationen auftaucht. Dass dabei jedoch wie bei Ingvartsen das Thema der Sexualität und ihrer Spielarten behandelt wird, so explizit behandelt wird, ist neu.

Wer enträtselt das Rebus?

Wer enträtselt das Rebus?

Alix Eynaudi zeigte mit „Edelweiß“ im Tanzquartier ein getanztes Rebus, das seinen Namen verdient. Wer auf Auflösung hoffte, grübelt wahrscheinlich immer noch.

Eine junge Frau steht in der ersten Reihe auf und betritt langsam die Bühne. Sie zieht ihre Stiefel aus und verschwindet hinter einem Vorhang, der mittig im hinteren Teil der Bühne angebracht ist. An der linken Seite tritt ein Mann hinter dem Samtbehang hervor. Macht langsame, beinahe bedächtige Bewegungen, geht in die Knie und versucht so aufzustehen, dass er dabei sein ganzes Gewicht auf seine Fußrücken verlagert hat, kippt dabei aber um. Seltsame Schritte macht er, erweckt den Eindruck, als seien seine Gliedmaßen verbogen. Aus dem Lautsprecher kommen Geräusche wie aus einer Fabrikhalle.

In der nächsten Szene stellt sich eine Frau auf ein kleines Holzpodest und hält ein großes Tuch vor ihren Körper. Eine Schwarz-Weiß-Zeichnung darauf zeigt geometrische Linien und Flächen, die von einer zweiten Frau langsam, ganz langsam scheinbar nachgezeichnet werden. Bald schon treten die beiden in Interaktion und beginnen mit Druck und Gegendruck, mit Zug und Gegenzug und Gewichtsverlagerungen immer wieder neue Körperkonstellationen aufzubauen. Aus einfachsten Grundpositionen entwickeln sich Dreh- und Hebebewegungen, die akrobatisch wirken. Der Sound hat sich gewandelt, Vögel zwitschern, ein Hund bellt. Ein langer, inniger Kuss der beiden beendet die Szene.

Im Film würde man Cut sagen – und so wirkt auch der Übergang zur nächsten Szene. Unvermittelt treten nun nacheinander Alix Eynaudi, Mark Lorimer, Cécile Tonizzo und Alice Chauchat auf die Bühne. Sie tragen Kostüme von An Breugelmans, ganz im Stil der Reformkleider, die Emilie Flöge für sich und Gustav Klimt zu Beginn des vorigen Jahrhunderts entwarf. „Raus aus dem engen Korsett und dem Hemd mit Vatermörderkragen“ war die Devise und als ob Breugelmans diese Geste ins Heute übersetzen wollte, hat dann auch das lange, cremefarbene Kleid von Alice Chauchat über ihrer Brust keinen Stoff. Kleine Einzelchoreografien, so als ob die Tänzerinnen und der Tänzer jeweils eine andere Musik hörten, bestimmen nun den Ablauf.

Wieder Szenenwechsel. Nun sind es zwei Lautsprecher, die die Hauptrolle auf der Bühne spielen. Aus ihnen ertönen Geräusche, die zu Beginn an R2-D2 erinnern, dem berühmten Starwars-Roboter. Bald schon werden die Lautsprecher über die Bühne geschoben, um die eigene Achse gedreht, gegenübergestellt, damit sie besser kommunizieren können. Offenbar färbt die Technik auf Mark Lorimer ab, der beginnt, sich wie ein Roboter zu bewegen. Nach einer kleinen Lichteinlage gibt es ein Zwischenspiel mit einer kleinen Holzskulptur. Sie steht vor der Tänzerin am Boden, wird von ihr hochgehoben und wie ein Fetisch präsentiert und mit ihr schließlich auch getanzt. Eine wunderbare Flötenmusik, Marke Minimal-Ethnomusic, untermalt die poetische Darbietung.

Immer wieder finden sich Bewegungen, die schwimmende Fische imitieren. Der Daumen, an dem gelutscht wird, das Kitzeln von Fußsohlen – all das was hier momenthaft aufblitzt, erlebte man in seiner Kinderzeit selbst. Vierfüßler krabbeln quer über die Bühne, in der Erde wird gegraben, von Bäumen etwas gepflückt, oder sind das Assoziationen, die nur im eigenen Kopf stattfinden?

In den letzten Bildern werden Männer-Frauen-Beziehungen gezeigt, die sowohl eine körperliche, als auch beziehungsmäßige Aussagekraft haben. In einer Dreierkombination erwecken die Frauen einen marionettenhaften Eindruck, werden von Lorimer sichtbar fremdbestimmt. Der Rätsel noch nicht genug werden zwei Zeichnungen präsentiert, die einen Fisch und einen Penis darstellen. Symbole, die sich auf den ersten Blick widersprechen. Der Fisch als christliches Symbol schlechthin wird dem Phallussymbol gegenübergestellt. Einmal wird es über diesem, dann wieder unter diesem präsentiert. Ist dies der ultimative Hinweis zum Geschehen? Kann dies als jene Bipolarität unseres Lebens aufgefasst werden, die allgegenwärtig ist? Geist versus Körper, das Verlangen gegen die Enthaltsamkeit? Oder führt uns Eynaudi einfach frech auf eine falsche Fährte? Lässt unsere Gedanken im Kreis wandern, ohne je anzukommen?

„Edelweiß inspiriert sich an Gustav Klimt und Emilie Flöge, an Sport, an den Aquarien des 19. Jahrhunderts, an Babys, den 70ern, der Zukunft und an dem Künstler Lucio Fontana“. Liest man die kurze Erklärung aus dem Programmheft, so kann man viele der gezeigten Bilder auch tatsächlich in diese Aufzählung einordnen, aber man kann sie auch ganz anders dekodieren. Oder sie stehen lassen, als getanztes Rebus, das unendlich viele, wunderbare, neue Bewegungsmuster und Figuren anbietet, aber letztlich nicht aufgelöst werden soll. Eine Fundgrube für Tänzerinnen und Tänzer und für das Publikum eine Inspirationsquelle, die erlaubt, der eigenen Fantasie Flügel wachsen zu lassen.

Der Körper als Conditio sine qua non

Der Körper als Conditio sine qua non

„Körper“ von Sasha Waltz erlebte im Tanzquartier in Wien seine Österreich-Premiere. Das Stück, das vor 15 Jahren für die Schaubühne in Berlin inszeniert wurde, ist zu einem Dauerbrenner ihrer Compagnie „Sasha Waltz & Guests“ geworden.

Das Publikum sucht noch seine Plätze, da ist auf der Bühne schon Hochbetrieb. Bei Saallicht agieren zwei Männer in schwarzen Anzügen vor einer hohen, schwarzen Wand, laufen hin und her, pirschen sich an das rechte Eck, legen sich auf den Boden. Zwei Löcher in der Wand bieten Händen, Armen, Beinen und Haaren die Möglichkeit, sich einmal ganz exklusiv zu präsentieren. Ohne lästige weitere menschliche Anhänge. So kommen die Extremitäten zu ihrem großen Auftritt und heben sich hell vom Dunkel der Wand ab.

Wie ein Nummerngirl schreitet eine der Tänzerinnen mit einer roten, digitalen Laufschrift über die Bühne. In mehreren Sprachen wird gebeten, die Handys auszuschalten. Ein diffuser Sound (Hans Peter Kuhn) untermalt das Geschehen noch dezent. Im Laufe des Abends wird dieser anschwellen, sich zu stampfenden Maschinenrhythmen verdichten, um dann doch einer kleinen Akkordeonmelodie Platz zu machen.

Schon bald nach der Eröffnungsszenerie formiert sich ein Bild, das sich durch seine starken Gefühle, die es auslöst, ins Langzeitgedächtnis förmlich einbrennt. Nur mit hellen Slips bekleidete Männer und Frauen drängen sich in langsamen Bewegungen in einem kleinen, in der Tiefe sehr schmalen Fenster. An der Vorderseite Glas, dahinter ein schwarzer Raster, der dem Ensemble die Möglichkeit bietet, darauf auf und abzusteigen. Die Geräuschkulisse erinnert entfernt aber doch an Hörerlebnisse, die man unter Wasser hat und löst gemeinsam mit den fließenden Bewegungen Assoziationen aus, die an das menschliche Sein im Uterus anknüpfen. Es ist ein Schweben und ein sich Verlieren, ein Aneinanderdrücken und ein Emporsteigen, dem man nicht müde wird zuzusehen. Für andere Menschen mag dieses Bild andere Erinnerungen hervorrufen – ein Charakteristikum dieser Arbeit, das sich im Laufe des Abends immer wieder zeigen wird.

Bilder, das ist es, was Sasha Waltz hier vermittelt, keine dramaturgisch durchgehende Geschichte, sondern einzelne Szenen, die unabhängig von einander funktionieren. Und doch ergeben sie am Schluss ein Ganzes. So etwas wie ein Kompendium des menschlichen Seins. Das, was uns am nächsten ist, ist unser Körper. Nicht nur für Tänzerinnen und Tänzer, sondern für alle von uns. Die Erfahrungen, die wir mit ihm machen, sind zwar subjektiv, dennoch aber empathisch von allen Menschen nachzuempfinden. Das ist auch ein Grund, warum eine weitere Szene ebenfalls extrem berührt. Darin wird ein Mann von anderen an seiner Haut hochgehoben, wieder fallen gelassen, erneut aufgehoben. Die Schmerzen, die damit verbunden sein müssen, sind ad hoc nachvollziehbar. Die darauf folgende Beschriftung von einzelnen Körperteilen zweier Frauen und das Benennen derer materiellen Wertigkeit lässt einem Schauer über den Rücken laufen. Parallel dazu findet das Entleeren von Körpern statt. Nicht aus den bekannten Körperöffnungen, sondern aus der Flanke, aus dem Hals, aus einer Armbeuge rinnt Wasser auf den Boden. Surreale Bilder, die dennoch in der Lage sind, multiple Emotionen auszulösen. Die Eindrücke dieser Bilder, die Körper in neuen Funktionszusammenhängen zeigen, irritieren.

Das pralle Leben, in dem alle einen bestimmten Platz einnehmen und sei er auch noch so sinnentleert, visualisiert sie durch das Bild des Schifahrers, der von luftiger Höhe entlang der dunklen Wand auf den Boden herabgeseilt wird. Dort befindet sich alles in hektischer Betriebsamkeit, läuft, geht seinen eigenen Geschäften nach. Objekte fliegen durch die Luft, ein Mann zerreißt ein Plüschtier und verwandelt sich selbst zu einem solchen, ein anderer bläst Tabakrauch in einen Glaskubus, um sich diesen anschließend überzustülpen. Fantastische Traumsituationen, die den Blick für unsere oftmals mehr als absurde Realität imstande sind zu schärfen.

Das Kulminieren von Angstzuständen schafft Waltz durch eine atemlose Choreografie, unterstützt mit anschaulichen Kostümen, die verletzte Körperteile und Blut assoziieren. Bernd Skodzig schuf eine Kollektion, die auch heute noch auf jedem Laufsteg für Furore sorgen würde. Die Angst vor körperlicher Versehrtheit, vor Krebs treibt die Tanzenden in einsame Zustände, in denen sie willenlos Getriebene sind. Das harte Aufschlagen der Körper materialisiert förmlich auch jenen Zustand, den man durchleben muss, wenn man mit lebensbedrohlichen Diagnosen konfrontiert wird. Während die Agierenden über einzelne Körperteile berichten, sie benennen, zeigen sie auf völlig andere Körperstellen. Auch das Thema der Realitätskonstruktion bringt die Choreografin auf diese Weise in dem Stück unter.

Vieles, was Sasha Waltz in „Körper“ an Bewegungsrepertoire zeigt, hat in den darauffolgenden Jahren bis heute in Choreografien anderer Einzug gehalten. Körperagglomerationen von übereinander geschichteten Leibern, organische Linien, die sich durch das Aneinanderreihen von liegenden Körpern ergeben, ein lebender Radius, der sich durch eine gemeinsam ausgeführte Bewegung im Moment eines Augenaufschlages in einen marschierenden Durchmesser verwandelt. Und da sind noch jene Fabelwesen, die mit verdrehten Gliedmaßen das Publikum in Staunen und Entzücken versetzen. Dieses Stückchen Varieté inmitten all der tänzerischen Hochkultur fokussiert die Blicke und die Aufmerksamkeit auf das, was nur das Theater bieten kann. Auf Sensationen, die das Auge täuscht. Auch solche gibt es mehrere in der Inszenierung. Die Wand, die mit einem lauten Krach zu Boden fällt, deren Glasscheibe jedoch später wie von Zauberhand wieder von der Decke schwebt. Plötzlich auftauchende und wieder verschwindende Leiber, durch eine geschickte Lichtregie ins Nichts gezaubert. Waltz arbeitet mit jenen theatralischen Mitteln, die schon seit Jahrhunderten die Zusehenden fesseln. Sie tut dies so kunstvoll, dass man sich dessen gar nicht richtig bewusst wird. Perfekter kann man die Illusionsmaschine des Tanz-Theaters nicht bedienen.

Die Beziehungsuntersuchungen, die am Ende der Inszenierung durch Mann-Frau und andere unterschiedliche Paarkonstellationen vorgenommen werden, scheinen vom bis dahin stringenten Thema abzuweichen. Sie knüpfen aber an jene Szenen an, die den Körperanschauungen zuvor schon immer wieder zwischengeschoben wurden. Erst durch sie wird klar, was den Menschen tatsächlich ausmacht. Neben all den Körperteilen, neben all den Organen, neben all den Schmerzen und Abnormitäten sind es die zwischenmenschlichen Beziehungen, sind es die Beschäftigungen mit den anderen, die uns zu sozialen Wesen machen. Unser Körper ist die Conditio sine qua non, aber ohne unsere Gefühle, unsere zwischenmenschlichen Interaktionen, ohne Beziehungen zu anderen blieben wir nur bewegte Hände, Arme, Beine. Wie im ersten Bild, in dem sich diese hell vom Dunkel der Wand abheben.

„Der Tanz hat für mich nach wie vor eine Dimension, die den Menschen  über das Wort hinaus erreicht. Er hat etwas, was uns ganz, ganz tief berührt, auch zu unserem Unterbewussten spricht; auch zu dem Geheimnis der Seele spricht.“ Die Erklärung, die Sasha Waltz in einem Interview gab, gilt eins zu eins auch für ihr Stück „Körper“.

Mehr Mut zum Scheitern!

Mehr Mut zum Scheitern!

Von der Poesie der Alltagsobjekte, Teil 2

Clément Layes gastierte mit seinem neuesten Stück „Title“ im Tanzquartier Wien. Als Vorpremiere für Berlin konnte der Choreograf und Künstler in Österreich noch bis zum Schluss an diesem Werk arbeiten, das davon lebt, das Unvollkommene als Lebensprinzip in den Vordergrund zu stellen.

„Title“ war seine zweite Arbeit, die gemeinsam mit „Allege“ an einem einzigen Abend gezeigt wurde. Performte Vincent Weber den Opener „Allege“, so stand Layes in „Title“ selbst auf der Bühne. Groß und schlank gewachsen, mit grauen Haaren schreitet er langsam von der Treppe des Zuseherranges herab. Einen kleinen Lautsprecher, aus dem Musik düdelt, hat er bei sich. Die Bühne selbst ist ein einziger Chaoshaufen, jedoch beschränkt auf eine ovale, weiße Grundfläche in der Mitte des Raumes. Allerhand Dinge liegen am Boden herum. Ein Kübel, eine große Plastikwanne, zwei Metallhandschuhe und ein Ritterhelm, ein kleines, rotes Auto, Seile, Bohrmaschinen. An größeren Objekten sind eine weiße übermannsgroße Kiste, ein Blumentischchen und ein langes Vierkantholz zu erkennen. Nach und nach räumt Layes auf. Spuren einer unbekannten Aktion, die zuvor hier stattgefunden haben muss. Was das genau war, lässt sich aber nicht sagen.

Nachdem Ordnung herrscht, zaubert der Tänzer und Choreograf in Personalunion ein kleines Buch hervor, aus dem er zu lesen beginnt. Oder besser gesagt, aus dem er gerne vorlesen möchte. Diese Aktion gestaltet sich jedoch unerwartet schwierig. Denn Layes findet keinen adäquaten Platz, auf dem er sitzen kann. Jede Position, die er einnimmt, scheint unbequem zu sein und wird rasch wieder gewechselt. Das Kantholz, das er mit der großen Kiste zu einer schiefen Ebene aufbaut, bietet ihm genauso wenig Halt wie eine Flasche, die er für wenige Momente als absurde Sitzgelegenheit nutzt. Mit der Positionierung einer Rotweinflasche auf seinem Rücken, die er eine Zeitlang gebückten Ganges mit sich herumschleppt, setzt Layes dem Gefühl der Instabilität noch eins drauf. Spätestens als er mit einem Seil die Flasche auf seinem Rücken einfängt und sie wie mit einem Lasso bis hin zu seinem Steißbein zieht, ist das Publikum erheitert. Hier agiert einer mit Verve und Witz, einer, der sich und seinen Beruf selbst aufs Korn nehmen kann. Das macht einfach Spaß.

„In this world, in this place, in this theatre…“, immer und immer wieder versucht Layes das Gedicht, das er nicht imstande ist, in Ruhe vorzutragen, von vorne zu beginnen. Zumindest schafft er es, jedes Mal ein neues Nomen hinzuzufügen. Dann aber kommt ihm wieder seine Rastlosigkeit dazwischen. Zu eingespielten, harten Trommelschlägen beginnt er die schwere Kiste mit einem Seil hochzuziehen. Auch das Vierkantholz darf sich mittels eines Seils in die Luft schwingen und nach und nach werden alle Objekte, die luftige Höhe schnuppern dürfen, in Bewegung gesetzt. Ein Riesen-Perpetuum-Mobile baumelt über der Bühne, ein wahrhaft skulpturales Gebilde, das den Eindruck erweckt, als hätten sich hier ein paar Seilakrobaten einfach verdinglicht.

War bis zu diesem Zeitpunkt Layes Umgebung eine, die es von ihm mit seiner Physis zu beherrschen galt, entwickeln sich nun die kleineren Objekte zu Lebewesen mit einem eigenen Willen. Wunderbar, wie das rote Spielzeugauto den Künstler verfolgt oder versucht, Reißaus zu nehmen. Einfach amüsant, wie mittels der zwei Bohrmaschinen eine Plastikrose und ein Seil in Drehungen versetzt werden, wie sich sein Hut, den er über das renitente Spielzeugauto stülpte, langsam mit diesem fortbewegt. Und ob des Irrwitzes noch nicht genug, zwischendrin, wenn sich der Künstler durch seine Haare fährt oder einfach nur den Kopf schüttelt, bildet sich darum jedes Mal eine kleine Staubwolke. Der stehende Begriff eines rauchenden Kopfes bekommt hier eine Verdinglichung. Als ob das Publikum nicht ohnehin schon genug zu schauen hätte, so als ob Layes nicht ohnehin schon heillos mit dem Chaos, das er nicht bändigen kann, überfordert wäre, beginnt er nun auch wieder zu lesen. Und lässt mit einem Satz aufhorchen, der sich ob seines Potenziales im Netz zu einem Meme entwickeln könnte: „More than machinery we need humanity.“

Was sich vielleicht nach einer reinen Slapstick-Nummer anhört, ist es jedoch nicht. Alleine schon die ausgeklügelte Farbregie, sowohl im Licht als auch in den verwendeten Materialien, machen klar, dass sich die Performance auch entlang der Bruchlinie zur bildenden Kunst bewegt. Rot, weiß und schwarz harmonieren und ergeben eine poetische Ästhetik. Wie überhaupt die Poesie, die sich bei Layes in den kleinen Alltagsgegenständen findet, die er völlig zweckentfremdet auf der Bühne verwendet, eine große Rolle spielt. „Die Dinge, die ich auf der Bühne verwende, umgeben mich auch im Alltag. Und oft ist es so, dass sie einem ja auch tatsächlich über den Kopf wachsen.“ Layes präzisierte in einem Interview einen seiner Gedanken zu diesem Stück.

Die Verwendung von Objekten aus dem Alltag zieht sich wie ein roter Faden durch all seine Arbeiten. Alleine daran kann man schon erkennen, in welch hohem Maße Clément Layes mit Kreativität ausgestattet ist. Wer meint, dass das nichts Besonderes sei, probiere einmal ein beliebiges Ding abseits seines Zweckes kreativ zu benutzen. Sein grenzüberschreitendes Arbeiten ist Zeichen für einen grenzüberschreitenden Geist, der nicht darauf erpicht ist, Perfektion um jeden Preis abzuliefern. Mut zum Scheitern, Mut, dieses Misslungene auch zu zeigen, in die Choreografie bewusst einzubauen, ist ihm wichtig. Am Ende zerreißt er jenes Pamphlet, das ihn ohne Unterlass in eine permanente Überforderung versetzte. Die abschließende Dekonstruierung des Settings zu einem neuen ästhetischen Gebilde erreicht er dadurch, dass er den weißen, ovalen Plastikboden mit Klammern an Seilen befestigt, um ihn dann hochzuziehen. Der Boden, der zuvor noch Halt gegeben hat, auch er ist jetzt nicht mehr zu gebrauchen. So plakativ hat man bislang den Boden, den es einem unter den Füßen wegzieht, auch noch nie gesehen.

Ein zauberhaftes Stück voll Poesie und Humor aber auch voll von Lebensweisheiten für all jene, die diese darin erkennen können und auch annehmen möchten.

Schepper, klapper, krach

Schepper, klapper, krach

„Chivalry is Dead“. Die Aussage, dass das Rittertum tot sei, ist leider nur ein frommer Wunsch. Aber Alex Deutinger und Alexander Gottfarb zeigten in ihrer Performance im Dschungel, anlässlich der 3rd edition von „feedback“ des Tanzquartiers, dass man die Hoffnung auf solch einen Zustand nicht aufgeben darf.

Man kennt sie aus Museen, Kinderbüchern und Computerspielen. Aus Filmen und Mittelaltermärkten. Jene blechernen Gesellen, die zum Schutz in der Schlacht oder im Turnier metallen gewandet waren. Zwei davon stehen ruhig am Bühnenrand. Man meint, es wären Attrappen, bis sie sich ganz langsam zu bewegen beginnen. In den Rüstungen stecken tatsächlich Menschen!

Wie in Zeitlupe treten sie nach vor, so als ob sie sich aus der Vergangenheit erst ins Hier und Heute transferieren müssten. Ein leises Knarzen und Knirschen begleitet jeden ihrer Schritte. Es hat den Anschein, als wärmten sie sich nach Jahrhunderte langem Schlaf auf. Bald schon verändert sich das Geschehen drastisch. Das Gehen wird lauter, demonstrativer Bodenkontakt verstärkt die Geräuschkulisse, die Hände klatschen im Marschrhythmus an die Rüstung. Einer der beiden Männer gibt den 4/4tel Takt mit lautem Zweier-Stampfen vor, der andere springt dazu wie ein behendes Pferd beim Turnier. Jetzt ist er da, der Klang aus einer fernen Zeit. Ein Geschepper, Geklapper, ein Gerassel und ein Krach, der ein völlig neues Hörerlebnis bereithält.

Der strenge Rhythmus spiegelt sich in den weißen Federn des Ritters mit dem vergitterten Helm wieder. Auf- und ab wippt der zarte Schmuck auf seinem Kopf wie ein kontrapunktischer Augenschmaus. Bald schon wird gelaufen und zur Seite gesprungen, dass man sich ohne Mühe dazugehörige Pferde imaginieren kann. Eine zusätzliche Soundeinspielung verstärkt den Eindruck eines Kampes, der hörbare, schwere Atem zeigt auf, wie anstrengend die Bewegungen für die Männer tatsächlich sind. Schweiß, Herzklopfen, Angst, Anstrengung, all das vermittelt sich wie beiläufig bei dieser Performance. Der Zusammenbruch des einen, der regungslos auf dem Boden liegen bleibt, ist für den anderen nur kurz zu genießen. Bald schon fällt auch dieser um.

Wie zwei Riesenkäfer liegen sie nun ausgestreckt am Boden. Mit Mühe gelingt es ihnen erst nach einer geraumen Zeit wieder hochzukommen. Aber nichts ist nun mehr, wie es zuvor noch war. Das martialische Gehabe ist gewichen. Ein Schwalbe – mit all dem vielen Metall am Körper eine Herausforderung – und ein Spagat zeigen an, dass sich die ritterlichen Tugenden verändert haben. Bewegungen, wie sie aus dem zeitgenössischen Tanz übermittelt werden, fließen in eine Choreografie ein, in der sich die beiden schließlich so nahe kommen, dass die Rüstungen stören. Nebel zieht auf, nacheinander entledigen sie sich ihrer einzelnen Schutzteile. Verstreuen sie dort auf dem Boden, wo sie gerade ausgezogen werden und hinterlassen nach dem Verlassen der Bühne ein Schlachtfeld von blechernen Kriegsattributen.

Es wäre zu einfach, das Stück nur aus einer historischen Perspektive zu betrachten. Alex Deutinger und Alexander Gottfarb schufen mit „Chivalry is Dead“ eine wunderbare Parabel nicht nur auf männliches Machtgehabe. Ein Machtgehabe, das sich seit dem Mittelalter nur marginal verändert hat. Die „Rüstungen“ legen sich heute sowohl Männer als auch Frauen zu, um sich vor der Umwelt zu „harnischen“. Die darunter liegenden Befindlichkeiten werden nur dann sichtbar, wenn es eine zwischenmenschliche Intimität auch tatsächlich zulässt. Die Schönheit des Lebens, die sich jedoch nur abseits von gelebten Machtstrukturen für jeden einzelnen erleben lässt, braucht keine gepanzerten Menschen. Sie zeigt sich gerade in der Verletzlichkeit und auch in der Offenlegung von Wunden. Die Verschränkung zwischen Gegenwart und Vergangenheit funktioniert in dieser außergewöhnliche Performance vom ersten bis zum letzten Augenblick auf wunderbare Art und Weise.

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