Tanz kann uns ganz, ganz tief berühren

Tanz kann uns ganz, ganz tief berühren

Das Stück „Körper“ der Choreografin Sasha Waltz erlebt am 15. Oktober 2015 im Tanzquartier in Wien seine Österreich-Premiere. Wir hatten die Gelegenheit, mit der Künstlerin vorab ein Gespräch zu führen. Darin erzählt sie über das Stück selbst, aber auch ihre künstlerische Entwicklung und was den Tanz von anderen Künsten unterscheidet.

Frau Waltz, Ihr Stück „Körper“, das im Tanzquartier im Oktober seine Österreich-Premiere hat, ist so etwas wie ein Dauerbrenner Ihrer Companie, es wird ja seit 15 Jahren getanzt. Wie stehen Sie heute dazu?

Wenn ein Stück heraußen ist, dann wird zu Beginn vielleicht noch nachgearbeitet, aber irgendwann steht es dann. Jetzt wird es aber wieder wegen eines anderen Aspektes für mich interessant. Das Stück heißt ja „Körper“ und es ist eine Untersuchung des menschlichen Körpers, unserer Anatomie aber auch von philosophischen Themen. Dadurch, dass das Stück fast noch seine Originalbesetzung hat, hat es sich mit seinen Tänzern verändert, weil die Tänzer älter geworden sind. Der Reifungs- oder auch Alterungsprozess macht sich ablesbar an den Körpern. Das finde ich eine spannende Entwicklung. Diesen Aspekt, den ich damals noch gar nicht mitgedacht hatte, der ist jetzt neu dazugekommen. Insofern ist es spannend, wie das Stück nun noch einmal eine andere Perspektive einnimmt.

Hat dieses Stück  in den Tänzerinnen und Tänzern über die lange Zeit hinweg auch etwas bewirkt?

Eine Tänzerin hat mir einmal gesagt, dass man sie in der Nacht aufwecken könnte und sie könnte das Stück sofort spielen, so nahe ist ihr das gekommen. Ich denke, dass das Stück eine große Intimität auch in der Gruppe erzeugt hat. Es war das erste Stück, das ich für die Schaubühne gemacht habe und ich habe auch das Ensemble zum ersten Mal dafür zusammengesetzt. Insofern hatte das eine sehr starke Gruppendynamik. Es war auch in meiner Arbeit ein Neuanfang, weil ich bis dahin eher sozial-realistische, theatrale Stücke entwickelt habe, mit naturalistischen Bühnenbildern. Ab diesem Stück wurde es sehr viel abstrakter, sowohl die Bühne als auch die gesamte Konzeption. Die Tänzer sind diesen Weg mit mir mitgegangen. Viele Tänzer, die vorher mit mir in den Stücken waren, sind auch in dieser Gruppe und auch diese Veränderung hat sehr viel bei ihnen ausgelöst. Erstmal waren sie eher kritisch, sind dann aber mit mir in diese neue künstlerische Phase eingetaucht und haben sie mitgetragen. Insofern glaube ich, dass dieses Stück viel bei den Tänzern ausgelöst hat.

Warum glauben Sie, kommt dieses Stück nach wie vor so gut beim Publikum an? Was sind die Haupttopics, die so dermaßen interessant sind?

Ob es gut ankommt, kann ich gar nicht so sagen. Es sind Themen, die nichts Modisches an sich haben. Es sind Themen, mit denen wir uns als Menschen auseinandersetzen: Wie, was und wer sind wir? Es beinhaltet eine Untersuchung der Anatomie, die ich das Körpersystem nenne, oder Untersuchungen des Nervensystems, des Skeletts, aber auch Fragen zu Manipulationen am Körper und Körperkult. Zum Zeitpunkt der Entstehung hatte ich eine Geburt hinter mir. Mein Sohn war drei Jahr alt und ich hatte die ganze Schwangerschaft, die unterschiedlichen Arztbesuche erlebt. Die Gedanken, die man sich dabei  über den Körper macht, über Eingriffe, über pränatale Diagnose oder auch Eingriffe in das genetische Material – das waren und sind nach wie vor Ideen, mit denen wir uns stark befassen. Wenn ich mir überlege, dass es jetzt schon 16-jährige Mädchen sind, die sich Schönheitsoperationen unterziehen, weil sie dem Schönheitsideal nicht entsprechen, das ihnen irgendwo vorgegaukelt wird, dann sind das absolut Themen, mit denen wir uns zutiefst auseinandersetzen müssen.

Sind Sie ein künstlerischer Mensch, der den Körper auch als etwas Plastisches versteht?

Mit „Körper“ habe ich begonnen, sehr skulptural zu arbeiten. Darin gibt es unterschiedliche Konstellationen, in denen ich die Zeit einfriere und die Körper dabei fast das Materielle des Fleisches verlassen. Das kommt vor allem dadurch, dass ich diesen Zeitfaktor auflöse, wenn auch nur für ein paar Sekunden. Aber den Körper unter den Aspekten der Skulptur zu untersuchen, hat mich fasziniert und von da ab immer weiter beschäftigt.

Finden Sie, dass Ihre Werke eine starke Nähe zur bildenden Kunst aufweisen?

Ich habe im ZKM eine Ausstellung gemacht, in der ich genau diese Befragung meiner Arbeit vorgenommen habe. Dabei wurden bestimmte Bilder wie Ikonen aus den Stücken herausgefiltert, die ich als Installationen in den Raum setzte. Da ist mir ganz stark bewusst geworden, dass es sehr, sehr viel bildnerische und installative Elemente in meinen Stücken gibt. Die Frage würde ich auf jeden Fall mit „ja“ beantworten.

Sie haben in Ihrer Arbeit immer wieder neue Wege beschritten, Neues ausgelotet. Ihre letzten Arbeiten sind im Bereich der Oper entstanden. Was hat Sie daran gereizt?

In der Oper habe ich die Möglichkeit, mit dem Orchester, den Sängern, dem Chor zu arbeiten und eine Einheit mit Bühne, Licht und Tanz zu finden. Das war für mich sehr spannend, weil meine Arbeit von Anfang an sehr interdisziplinär war und die Oper das ideale Medium dafür ist. Ich habe die Oper unter dem Aspekt der Choreografie untersucht und nenne das auch choreografische Oper.

Könnten Sie uns Ihren kreativen Prozess ein wenig näher beschreiben? Wenn Sie etwas erarbeitet haben, haken Sie dann die Arbeit ab und suchen Sie neue Herausforderungen, oder werden solche auch an Sie herangetragen?

Abhaken kann man nicht sagen. „Körper“ ist der erste Teil einer Trilogie, danach kamen noch „S“ und „noBody“, weil ich gemerkt habe, wie sich vor mir mit dieser neuen künstlerischen Herangehensweise eine ganze Welt öffnet. Zur Oper kam ich tatsächlich über Anfragen, als ich an der Schaubühne gearbeitet habe und meine Stücke sehr viel großformatiger wurden und ich auch mit großem Ensemble gearbeitet habe. Da wurde ich gefragt, was ich denn gerne machen würde und ich habe mich entschieden, Dido und Aeneas von Purcell zu inszenieren. Das hat mich so fasziniert und es war so eine Bereicherung mit dem Orchester, den Chor und den Sängern zu arbeiten, es war so eine unglaublich schöne Erfahrung, dass ich einfach Lust hatte, da weiterzuarbeiten. Künstlerisch nehme ich die Erfahrungen, die ich vorher gemacht habe, ja mit in eine neue Herausforderung. Ich habe viele Jahre über abwechselnd musikalisch und choreografisch gearbeitet, aber Live-Musik mit Orchestern und Sängern wurde tatsächlich immer stärker. Ich habe dann auch die Form der Zusammenarbeit verändert. Ich habe dann musikalische, choreografische Konzerte gemacht. Nicht mehr Opern, weil es für mich spannend war, die Musik zu choreografieren und mit den Musikern zu arbeiten. Jeder Schritt den man geht, hat Auswirkungen auf das Nächste, was man tut. Das ist ja mit unserem Leben auch so. Wenn wir jemanden kennenlernen, dann öffnet der einem möglicherweise wieder eine neue Tür und so ändert sich, je nachdem welche Entscheidung wir fällen, auch unser Weg. Der Prozess ist eine Mischform zwischen einer persönlichen Entscheidung und dem, was einem von außen vorgeschlagen wird. Aber da wählt man ja auch aus, also insofern ist es immer Entscheidung.

Woran arbeiten Sie im Moment?

Ich bereite gerade mein nächstes Jahr vor. Es sind unterschiedliche Projekte, möglicherweise möchte ich etwas mit Film machen, weil das für mich spannend ist und ich das noch nie intensiv untersucht habe. Ich hab zwar auch bei meinen eigenen Stücken Regie geführt, aber wirklich Regie für einen Film habe ich noch nie gemacht. Insofern finde ich das ein spannendes Sujet.

Sind sie ein Mensch, der sich in den verschiedenen Metiers keine Grenzen setzt und auch ohne Scheu darangeht, etwas Neues zu probieren, oder gibt es auch Bauchweh-Momente?

Es gibt natürlich sehr viele Bauchweh-Momente. Wenn man Herausforderungen annimmt, gibt es viele Möglichkeiten, auch viele Konfliktmöglichkeiten. Gerade wenn man in einem anderen, neuen Bereich arbeitet, auch mit vielen Entscheidungsträgern, muss man auch oft Kompromisse eingehen. Das ist alles nicht so leicht. Grenzen finden ist ein absolut essenzielles Thema. Nicht unbedingt künstlerisch, da soll man aus meiner Sicht möglichst frei denken. Aber man muss lernen, sich zu beschränken, weil einfach die Kräfte beschränkt sind. Grenzen ziehen ist ein Thema, mit dem ich mich immer befasse. Nein-Sagen gehört zum Kostbarsten überhaupt. Das muss man auch lernen. Erst mal ist man begeistert und möchte alles machen, aber dann sieht man, dass man auch nur ein Mensch ist mit so und soviel Zeit am Tag.

Was ist für Sie das Interessante am zeitgenössischen Tanz schlechthin? Was ist es, warum Sie sich mit diesem Medium beschäftigen und nicht mit einem anderen?

Der Tanz hat für mich nach wie vor eine Dimension, die den Menschen  über das Wort hinaus erreicht. Er hat etwas, was uns ganz, ganz tief berührt, auch zu unserem Unterbewussten spricht; auch zu dem Geheimnis der Seele spricht. Wir spüren in den Aufführungen, wenn sie gelingen, dass etwas an Erinnerung, an Wahrnehmung, vielleicht auch an Bewusstsein in Gang gesetzt wird . Das kann ich vielleicht vergleichen mit der Musik, denn für mich sind Musik und Tanz wie Bruder und Schwester. Auch in der Musik öffnen wir uns und es ist, als ob die Seele angesprochen wird. Diese Ebene hat der Tanz. Dazu kommt noch die visuelle Ebene, weil der Körper da ist. Tanz kann uns ganz, ganz tief berühren, noch mal anders als bildende Kunst, bei der unsere Sinneswahrnehmungen und unser Intellekt stark stimuliert werden. Das heißt nicht, dass wir nicht im Tanz auch intellektuell gefordert sind. Natürlich, diese Ebene gibt es auch. Ich glaube aber, dass unsere seelische Berührung oder auch unser emotionaler Zugang zum Tanz sich ganz, ganz stark von anderen Künsten unterscheidet.

Links: Homepage Sasha Waltz & Guests

Tanzquartier, Aufführung „Körper“

Das Gelbe hab ich selbst gemacht

Das Gelbe hab ich selbst gemacht

Philipp Gehmacher eröffnete mit „my shapes, your words, their grey“ die „feedback 3rd edition, Platform of the current dance and performance scene in Austria from the perspective of Tanzquartier Wien“. Einer etwas sperrig klingenden Veranstaltung, bei der an vier Tagen ein Remix von insgesamt 13 Performances gezeigt wird. Eine zweitägige Konferenz mit über 70 internationalen Teilnehmenden macht deutlich, dass sich Wien mit seinem Tanzquartier in großen Schritten zu einem internationalen Zentrum dieser Kunstgenres mausert.

Der hohe, entkernte Ausstellungsraum im mumok ist zu einem Drittel mit kleinen Lederstühlen für das Publikum bestückt. Davor liegen verschieden große, rechteckige Platten auf einem kleinen Podest am Boden. Philipp Gehmacher trägt hellgraue Jeans und ein bedrucktes Shirt. Bunte Streifen heben sich vom dunklen Blau darauf ab, die Aufschrift „fade out“ ist zu erkennen. Sie ist eigentlich Programm an diesem Abend. Ausblenden, verblassen ist die korrekte Übersetzung und sicherlich hat der Tänzer und Choreograf, der seit dem Bestehen des Tanzquartiers eng mit diesem verbunden ist und in Wien lebt, dieses Shirt bewusst gewählt.

Nachdem einfache, ohrschmeichelnde Akkordfolgen, von Gérald Kurdian live auf einem Tablet intoniert, langsam leiser werden, beginnt Gehmacher mit einer grauen Platte in der Hand über die Farbe Grau an sich zu sprechen. Darüber nachzudenken, was mit ihr verbunden wird. Mit jener Mischfarbe aus schwarz und weiß, die sich aufs Gemüt legt. Die Seelen- und Lebenszustände charakterisiert, denen das Prickeln abhanden gekommen ist. Währenddessen sind es immer und immer wieder kleine Bewegungen der Arme, des Kopfes oder der Augen, die irritieren. Die einen Körper in einem Zustand beschreiben, der nicht harmonisch ist. The white cube und die black box, die Bezeichnungen für die weißen Ausstellungsflächen und den dunklen Raum eines Theaters werden im Nu in seinen Betrachtungen miteinander vermischt und machen deutlich: Das ist es, was ich hier zeige. Alle schubladisierten Zuordnungen von Kunstgenres sind aufgehoben. Nichts mehr dort, wo es vermeintlich noch hingehört.

Allmählich hebt der sympathische Tänzer, Choreograf, Performer, eine Platte nach der anderen auf, um sie entlang von zwei Wänden zu platzieren. „Stellprobe“ nennt sich im Ausstellungsbetrieb jene Aktion bei der, bevor die Bilder endgültig gehängt, diese erst einmal am Boden abgestellt werden. Sätzen wie „I`m done with apologizing, he said“ oder „no point in being dramatic“ finden sich auf einigen Bildern, andere wieder sind grau, eines gelb, auf einigen sind Fotos zu erkennen. Die Positionierung deutet auf ein geschultes Auge (Stephanie Rauch), die Ideen, die der Künstler sprachlich dabei mitteilt, sind in der bildenden Kunst verankert. Er zitiert „Eight Grey“ von Gerhard Richter oder entwickelt André Malreauxs „musée imaginaire“ weiter, indem er das Publikum anleitet, sich ein Familienportrait auf einem der monochromen Tafeln vorzustellen.

Vom bildenden Künstler zum Tänzer

Philipp Gehmacher (c) Eva Würdinger

Philipp Gehmacher (c) Eva Würdinger

Je weiter die Ausstellungsaufstellung voranschreitet, umso stärker werden aber die tänzerischen Elemente. Die Sprache verliert sich zusehends, erneut erobert Musik den Raum. Die leichtgewichtigen Platten mutieren zu schweren Bürden, zu Demonstrationstransparenten oder auch Decken unter denen sich Gehmacher zum Ausruhen hinlegt. Aus dem eloquenten Künstler, der mit Witz und Charme zu Beginn sein Publikum unterhielt wird zusehends eine schutzbedürftige Person. Ein hochgekrämpelter Ärmel und ein Klopfen in der Armbeuge erzeugen in Sekundenschnelle die Assoziation zur Vorbereitung einer Blutabnahme. Gehmachers ausgestreckter Körper am Boden, die Arme in die Luft gestreckt evozieren das Bild eines kranken Menschen, der in seinem Spitalsbett versucht, sich am Haltegriff über ihm hochzuhieven. Kleine, kurze Bewegungsmuster, manche davon indifferent, andere wieder klar und deutlich, überlagern nun das zuvor bildhafte Ausstellungsszenario.

Die Einspielung vom Geräusch eines prasselnden Regens und vorbeifahrenden Autos lädt den Raum mit ganz neuen Inhalten auf. Als lebende Skulptur stellt sich Gehmacher in ein Eck, dem Publikum zugewandt. Verdeckt sein Gesicht, ob zum Schutz, oder als Geste von selbst auferlegter Blindheit, ist dabei nicht mehr ausschlaggebend. Denn längst ist es das Kopfkino, das die Regie übernommen hat. Die Achtsamkeit auf kleinste Bewegungseinheiten und auf die Geräuschkulisse, die zwischen musikalischen Ereignissen und akustischen Alltagssituationen pendelt, nimmt zu. Das Sein im Hier und Jetzt, oft propagiert und selten tatsächlich erlebt, wird spürbar. Die Fragilität des menschlichen Lebens liegt offen, zur Verhandlung. Und das inmitten eines Surroundings, das künstlicher nicht sein kann. „Das Gelbe hab ich selbst gemacht“ sagt Gehmacher an jener Stelle, an der er eine kleine, gelbe Leinwand in die Hand nimmt und sie in einen positiven Bedeutungsrahmen stellt. „Das ist keine Performance über eine Depression“ – diesen eingangs zitierten Satz unterstreicht dieses kleine, unscheinbare, beinahe monochrome Bild nun ganz stark. Eine Depression in Gelb kann man sich nicht vorstellen. Und ein graues Leben, das sich plötzlich gelb färbt, ist keines mehr, über das bedeutungsschwanger melancholisch sinniert werden muss.

Spätestens jetzt ist alle graue Theorie vergessen. Der Blick auf die Arme, die ausgestreckt hinter dem Körper Flügelbewegungen von Tragflächen imitieren, der erhobene Kopf, der in einer imaginierten Ferne etwas auszumachen scheint, der Hinweis auf die graue Mutter, die plötzlich gelb wird, all das schwappt ins Bewusstsein ohne sich je dorthin einen brachialen Zugang gesucht zu haben. Es schleicht sich vielmehr ein und nimmt uneingeschränkt Besitz von der eigenen Wahrnehmung. Zwar wird diese Manipulation bewusst erlebt, aber sie stört nicht, leitet hin zu Gedanken, die längst überflüssig waren und erzeugt ein Gefühl von Empathie und Solidarität mit jenem Mann, der in Personalunion so viele Personen, Figuren und Erlebnisstadien vorführt, ohne dass man dabei schwindlig geworden ist. So wie er die verschiedenen Kunstgenres miteinander verschränkt, so schlüpft er auch ohne Brüche von einem Charakter in den nächsten ohne dass die Übergänge bewusst wahrnehmbar wären.

Abseits der angelegten Bühnensituation betrachtet Philipp Gehmacher seine aufgebaute Ausstellung noch einmal wortlos, um dann abschließend das Wort zu ergreifen. Mit zwei Postskripten entlässt der Kreative sein Publikum schließlich. Zuerst mit der Erzählung der Geschichte eines Onkologen, der selbst an Krebs erkrankte, sich Auszeit von seinem Job nahm, um aufs Land zu fahren und dort mit den Füßen im eiskalten Flusswasser an seine Zeit als junger Mann zurückzudenken. Und dann mit der Wiedergabe einer Unisono-Stelle eines Streichorchesters, die nichts anderes hörbar macht als eine auf- und abgespielte Tonleiter. Das überschwängliche Lob, wohl des Dirigenten, das danach zu hören ist, ist wie ein Fingerzeig: Schaut hin und hört. Das Einfache ist das Schönste. Dass das Leben nicht einfach ist, weder in seiner beruflichen Konnotation, noch in seiner körperlichen Verfasstheit. Dies ist nicht wegzuleugnen und wird auch in seiner Problematik in dieser außergewöhnlich ästhetischen Inszenierung vermittelt. Aber es erhält eine große Portion Würde an diesem Abend, egal, wie zerbrechlich und ephemer es auch immer ist. Das „fade out“ wird in „my shape, your words, their grey“ zum unübersehbaren Bestandteil unseres Daseins erklärt, obwohl der Holzhammer dieser Erkenntnis sich an keiner Stelle offenbart. Es sind die homöopathischen Dosen der Bewegungen, die hier wirken.

Philipp Gehmacher kann man getrost als Denker unter den Choreografen bezeichnen, denn er schleust in dieser 2013 entstandenen Produktion Neues, eigentlich Revolutionäres in den Kulturbetrieb. Ohne dabei auch nur einmal das Gefühl einer martialischen Avantgarde bemühen zu müssen. Das ist große Klasse.

Ein gelungener Festival-Auftakt in Anwesenheit des Bundespräsidenten Heinz Fischer und seiner Gattin. In der anschließenden Eröffnungsrede erinnerte er nicht nur an das Gezänk anlässlich des Ausbaus des Museumsquartiers, sondern er verwies auch auf die gestiegene Akzeptanz des zeitgenössischen Tanzes in Österreich und strich dabei die Rolle des TQ besonders hervor.

Lass das Klopfen sein

Lass das Klopfen sein

Eszter Salamons Stück „Monument 0: Haunted by wars (1913-2013) präsentierte sich im Tanzquartier Wien als dunkles Stück Menschheitsgeschichte aber mit einem Fünkchen Hoffnung.

Es ist so finster, dass der eigene Herzschlag hörbar wird. Und eine sanfte, afrikanische Melodie. Von wem und woher bleibt vorerst unbestimmt. Die Bühne, ganz im schwarzen Nichts (Lichtregie Sylvie Garot), gibt einzelne Umrisse nur schemenhaft wieder. Die Augen müssen sich erst an diesen Ausnahmezustand gewöhnen. Bis er vor uns steht. Dieser große Mann, der so groß ist, dass man sich fragt, ob er ein Mensch aus Fleisch und Blut ist. Mit dieser Frage ist man schon ganz nah am Geschehen. Denn in der neuen Arbeit von Eszter Salamon sind es zwar Menschen aus Fleisch und Blut, die vor dem Publikum tanzen. Sie aber verkörpern alle miteinander nicht das Leben sondern den Tod. Wieder ist es ein Stück, das sich im Tanzquartier Wien zumindest ansatzweise mit dem Ersten Weltkrieg befasst, wie schon zuvor „uncanny valley“ von Paul Wenninger und damit dem Gedenkjahr 2013 etwas verspätet Tribut zollt.

In Monument 0: Haunted by wars (1913 – 2013), so der Titel der neuen Inszenierung, schafft es die Choreografin, das seit dem Mittelalter bekannte Motiv des Totentanzes aus einer neuen Perspektive zu beleuchten. Der personifizierte Tod steht den Menschen näher als sein abstrakter Begriff. Er ist es in ihrer Vorstellung, der sie zu sich holt, erlöst oder auch mitten aus dem Leben reißt. Er tanzt in mittelalterlichen Handschriften und auf bunten Fresken mit jungen Mädchen und alten Frauen, eng umschlungen, damit sie ihm nicht mehr entkommen und in einer Art und Weise, die mehr als Verführung denn als Heimholung empfunden werden kann.

Insgesamt sechs Personen verkörpern bei Salomon diesen Grauen erweckenden Gesellen. In manchen Szenen bedrohlich, dann wieder melancholisch oder sogar erheiternd. Ein ums andere Mal verlöscht das Licht, um wieder eine neue Spielart eines Totentanzes zu präsentieren. Mit Menschen, die in eng anliegenden Anzügen (Vava Dudu) auftreten, auf denen zumindest stilisiert Gerippe erkennbar werden. Ihre Gesichter sind die meiste Zeit über hinter weißen Totenschädelmasken verborgen. Ihre Gebärden folgen ihrem Atem – beinahe das einzige Geräusch an diesem Abend. Musik ist ein Elixier der Lebenden. Salomons Gestalten kommen ohne sie aus, geben den Takt alleine durch ihre lauten Atemstöße von sich.

Tote tanzen Tänze aus vieler Herren Länder

Afrikanische Stammestänze, Irish Dance, alpenländlerische Schuhplattler oder balinesische Tempeltänze; all das und noch viel mehr ist während der unterschiedlichen Auftritte zu erkennen. Sie versinnbildlichen all jene Länder, die durch den ersten Weltkrieg in Mitleidenschaft gerieten und auch heute noch an dessen Spätfolgen zu tragen haben. Ab und zu trägt eine der Tänzerinnen einen Rock, ab und zu kommen Stöcke zum Einsatz. Doch meist benötigt es keine Requisiten, um alleine, zu zweit oder auch in der Gruppe zu tanzen. Nach vorgegebenen Tanzmustern und Choreografien. Nichts ist dem Zufall überlassen, das, was gezeigt wird, sind Tänze, die sich in den unterschiedlichsten Ländern oft über Jahrhunderte herausbildeten und zum jeweiligen Kulturgut gehören. Wie aus dem Titel ersichtlich, behandelt die ungarische Choreografin, die schon mehrfach mit ihren Arbeiten in Wien zu sehen war, das Thema der Millionen von Menschen, die in den letzten 100 Jahren in Kriegen ihr Leben lassen mussten.

Salamon tut das auf eindrucksvolle Art und Weise. Nicht nur, dass sie den Toten zumindest ihre kulturelle, wenn nicht schon explizit nationale Identität zurückgibt. Sie macht auch deutlich, mit welcher Vehemenz der Tod seine Opfer auf dem Schlachtfeld oder rundherum einforderte und das noch immer tut. Und wieder ist es eine afrikanische Melodie, die hörbar wird. Die sich verdichtet, und plötzlich von allen im Chor gesungen wird. Afrika ist jener Kontinent, der ohne Krieg offenbar nicht existieren kann. Das machen auch die vielen Schilder am Ende der Vorführung deutlich auf denen jeweils das Anfangs- und Endjahr eines Krieges verzeichnet ist. Viele dieser Schilder weisen aber nur ein Datum auf was bedeutet, dass der Krieg noch nicht abgeschlossen wurde.

Nach und nach sind es einzelne Gestalten, die sich von Toten zu Lebenden wandeln. Lebende, die mit den Toten in Reih und Glied tanzen, aber auch solche, die solistisch auftreten. Wie jener schwarze Mann, der schon zu Beginn das Staunen des Publikums auf seiner Seite hatte. Eingehüllt nun in weiße Gewänder mit einem überdimensional großen Hut auf dem Kopf mäht der hünenhafte Corey Scott-Gilbert sukzessive die meisten Kriegsschilder um. Er tut dies im Takt, der ihm von einer Frau vorgegeben wird. Mit einem harten Stöckchen klopf sie ihn auf eine Flasche, sodass dies ein blechernes und eindringliches Geräusch ergibt, das den Mann beständig in seiner Raserei weitertreibt. Der Tod kennt also kein Erbarmen und folgt seinem eigenen, ufer- und endlosen Rhythmus. Bis schließlich der Mensch auf der Bühne, der zuvor ohne Rücksicht auf Verluste durch alle Schlachtfelder trampelte, zur Besinnung kommt. Als ob er sagen würde „lass das Klopfen sein“, hört er nicht mehr darauf. Verloren steht er da, sieht sich an, was er gemacht hat und hört nicht mehr auf den klirrenden, einpeitschenden Rhythmus. Lässt sich nicht mehr ein auf eine den Kopf ausschaltende rhythmische Gehirnwäsche, sondern bestimmt selbst, nicht mehr weiter zu machen. Corey Scott-Gilbert, der schon mit William Forsythe, Jiri Jylian, Sasha Waltz, aber auch in einer Produktion des Cirque du Soleil auftrat, drückt dem Abend seinen unverkennbaren körperlichen Stempel auf. Groß, schlank, muskulös und ausgestattet mit einer Energie, die außerirdisch scheint, ist er sicherlich die optimale Besetzung für diese Rolle.

Es ist der Schluss, der das Stück von Eszter Salamon befriedet. Der ein kleines Fünkchen Hoffnung weitergibt an uns alle, die wir uns jederzeit aus freiem Willen entscheiden können, dem Kriegswahn nicht beizutreten oder aus ihm auszutreten, so er uns schon überrollt hat. Gleichzeitig wird klar, wie sehr der Krieg gerade Afrika heimsuchte und bis heute noch immer heimsucht. Wie sehr das Sterben dort zum alltäglichen Leben gehört während es bei uns in Europa leider nur fast gänzlich verschwunden ist.

Vereint in Leid und Schmerz

Vereint in Leid und Schmerz

Bachs Johannespassion in der Choreografie von Laurent Chétouane im Tanzquartier Wien

Was bleibt, was bleibt? Wo ist das Menschliche? Wo ist das Göttliche? Kann Musik und Tanz berühren, zurück führen zu einem Geschehen, das vor zweitausend Jahren der Ausgangspunkt einer neuen Religion darstellte? Kann die Johannespassion von Johann Sebastian Bach von ihrem barocken Impetus entkernt werden und dennoch die Herzen rühren?

Wer kennt sie nicht, jene Chöre, die in der Johannespassion von Bach den Schlusspunkt markieren: „Ruhet wohl, ihr heiligen Gebeine“ und „Ach Herr, lass dein lieb Engelein“. Ohrwürmer, die normalerweise mit perfekten Stimmen und perfekter Instrumentierung die Hörenden aus dem Geschehen entlassen. Hinaus in eine durch die Musik befriedete, geglättete Harmonie, die der Beruhigung der Gemüter dient und das zuvor Vermittelte seines Grauens beraubt.

Laurent Chétouane, der in der Presse als „umstrittener Choreograf“ gehandelt wird, eine Festlegung, die gerne auch für volle Häuser sorgt, choreografierte die musikalische Passion von Jesus Christus mit den Tänzerinnen und Tänzern Lisa Densem, Mikael Marklund, Sigal Zouk, Nitsan Margaliot und Senem Gökçe Oğultekin. Letztere agiert darin jedoch vorrangig als Sängerin und bestreitet nicht nur einzelne Soli, sondern vor allem auch die Rezitative. Jenen Sprechgesang, der die Handlung erklärbar macht, aber von den meisten Menschen als störende Einschübe zwischen Bachs wunderbaren Chorälen, Chören und Arien wahrgenommen wird. Den Ablauf von Christi Passion kennt man ja und viele würden diesen Part gerne aus der Aufführung ganz streichen.

Die Rezitative stehen plötzlich im Mittelpunkt

In dieser Inszenierung jedoch, die im Herbst vergangenen Jahres ihre Uraufführung in Hamburg erlebte, sind es nicht zuletzt gerade diese Rezitative, die das Publikum fesseln, betroffen machen und in das Geschehen sogar mit einbeziehen. Dabei schreiten die Tanzenden und Singenden häufig auf das Publikum zu, nimmt Oğultekin immer und immer wieder intensiven Blickkontakt mit den Menschen in den Sitzreihen auf und kreiert so eine Stimmung, in der schließlich die Musik als willkommene Ablenkung zum grausigen und blutrünstigen Geschehen wahrgenommen wird, das kaum auszuhalten ist. „Habt ihr verstanden, was ich euch erzähle?“ ist die Metabotschaft ihrer Bühnenpräsenz. Mit traurigem Blick und hängenden Schultern, dabei aber völlig unaufgeregt, erzählt sie die Vorkommnisse der letzten Tage von Jesus. Dabei changiert das aufkommende Gefühl zwischen Betroffenheit aber auch Schuld. Schuld, die aus der Passivität resultiert, in der das Publikum gefangen bleibt. Ob sich die Zuhörerinnen und Zuhörer dabei als Juden, Anhänger Jesu oder Römerinnen und Römer verstehen, bleibt dahingestellt. Die Bühne beherbergt nicht mehr als braune Stühle, eine kleine Orgel und einen Tisch. Die Tänzerinnen und Tänzer tragen bequeme, unspektakuläre Outfits. Die Musikerinnen und Musiker scheinen sich in ihrem Alltagsgewand eingefunden zu haben. Spektakulär geht anders.

Chétouane lässt seine Passion mit dem Tod Jesu beginnen. Mit „Zerfließe, mein Herz“, eigentlich Arie Nr. 35, in welcher der Text „Dein Jesus ist tot“ vorkommt, beginnt der Abend. Nach zwei Rezitativen und den zuvor schon beschriebenen Chorälen geht das Licht aus. Bleibt nichts als Stille. Als es wieder hell wird, herrscht Ratlosigkeit. Was nun? Was ist geschehen? Wo bleibt der Trost? Der Choreograf bietet diesen nicht an. Die Instrumente geben Geräusche von sich, unrhythmisiert, unmelodisch. Das körperlich spürbare Bedeutungsvakuum löst sich nur langsam auf. Schrittkombinationen werden hörbar, die Flöte beginnt eine kleine Melodie zu spielen und unmerklich schaukelt sich Musik und Tanz hoch, um schließlich im Chor „Herr, unser Herrscher“, dem ursprünglichen Beginn und Eingangschor der Passion zu münden.

Eine musikalische Leistung der Sonderklasse

Das Solistenensemble Kaleidoskop, das mit einer kleinen Abordnung (Kontrabass, Cello, zwei Violinen und einer Bratsche, Flöte und einem kleinen Orgelpositiv) die Musik interpretiert, schafft mit seiner Transkription das Unglaubliche. Bach bleibt Bach, auch wenn es einige Stellen gibt, die nur mehr kleine Klangfitzelchen anbieten. Tilman Kanitz, der Cellist, kommt – wie alle anderen auch – stimmlich zum Einsatz. Dabei vermittelt er nur brummend, unverständlich und zugleich tief berührend einen Teil des Foltergeschehen. Ein Höhepunkt des Abends, radikal in seiner Idee, aber auch radikal im Brückenschlag hin zum Publikum. Die Stimme von Kanitz kann nicht einmal andeutungsweise die von ihm verlangte Melodie interpretieren, gerade aber diese Brüchigkeit und Unvollkommenheit stellt das Menschliche extrem in den Vordergrund. Seine Kolleginnen und Kollegen sind durchgehend mit mehr Stimmkraft ausgestattet, der oder die eine mehr oder weniger. So fehlt es der Interpretation, auch aufgrund des so kleinen Instrumentalapparates, an jenem Volumen und jener Perfektion, welche die Johannespassion sonst als Kunst-Werk erlebbar macht. Dies war bislang auch in den Inszenierungen von John Neumeier und Peter Sellars der Fall. Auch wenn es sich dabei um die wesentlich opulenter instrumentierte Matthäuspassion handelte. Aber auch Christoph Hagel, der vor zwei Jahren im Berliner Dom die Johannespassion getanzt aufführen ließ, sparte nicht mit musikalischer Opulenz. Und auch die Aufführung, die Wien im vergangenen Jahr im Muth erlebte, hielt so getreu wie möglich, allerdings mit Kürzungen, an der Bach´schen Partitur fest.

In der neuen Arbeit des französisch-deutschen Choreografen folgten die Tänzerinnen und Tänzer offensichtlich ihren eigenen Bewegungsabläufen. Sie wiederholen zarte Gesten und Schrittkombinationen oft und bleiben dabei über lange Strecken einsam. Immer dann jedoch, wenn es darum geht, Leid und Schmerz auszudrücken, agieren sie gemeinsam. Bilden kleine Ketten, oder zumindest Zweierformationen, und helfen einander. Sie streicheln sich zart über die Arme oder den Kopf, richten jene auf, die in Schmerz am Boden verharren. Sie treten nahe an Oğultekin heran, schauen ungläubig ob des von ihr erzählten Grauens und der Gewalt und helfen auch ihr, ihre Gefühle in der Gruppe auszuleben und damit umgehen zu können.

Die Brüchigkeit der Stimmen

Das Solo von Kanitz bleibt nicht die einzige verfremdete musikalische Stelle. Auch der Choral „In meines Herzens Grunde“ erlebt eine ätherisch schöne Neuinterpretation. Beinahe dem Metrum enthoben und verzerrt wiedergegeben, macht er deutlich, was an Bachs Musik so dermaßen berührt. Ohne dabei Bach tatsächlich eins zu eins wiederzugeben. Die Idee dahinter und die Ausführung gipfeln hier in einem unglaublichen Niveau, das man atemberaubend nennen darf.

Nichts an dieser Inszenierung kann man als „umstritten“ bezeichnen. Vielmehr muss man den Hut ziehen vor einer kreativen künstlerischen Leistung, die historisches Geschehen und historische Musik völlig neu erlebbar machen. Die Entkernung von Bachs Johannespassion, rückt das Geschehen so stark in den Fokus, dass das Publikum dabei richtiggehend herausgefordert wird. Die emotionale Ansprache, aber auch die Länge des Abends dürften für einige zu starker Tobak gewesen sein. So lichteten sich die Reihen gegen Schluss etwas. Die Idee, das Ende an den Anfang zu stellen und die streichelweichen Schlusschöre in den Mittelteil zu verpflanzen, ergeben ein neues emotionales Erlebnis von Bachs Johannespassion.

Dass die Aufführung in Wien wenige Tage nach den Massakern in Paris stattfand, gab ihr einen zusätzlichen Bedeutungsschub. Die Religionen bleiben in dieser Interpretation, in der die Kernaussage des Christentums, die Auferstehung, nicht behandelt wird, austauschbar. Wer letztlich welcher Ideologie zum Opfer fällt, ist zweitrangig. Immer sind es Menschen aus Fleisch und Blut, die leiden. Und immer sind es Menschen, die den Tod fordern, ausführen oder auch nur zulassen. Die dahinterstehende Machtkomponente darf nie übersehen werden. Die Solidaritätskundgebung in Paris zeigte in großem Stil, was auch auf der Bühne, diesem subrealen Raum, deutlich wurde. Leid und Schmerz sind die einzigen Motivatoren, so man dieses Wort hier verwenden kann, die Menschen dazu bringen, zusammen zu stehen und sich gegenseitig zu helfen. Wie immer toppt das Leben die Kunst, aber es ist der Kunst vorbehalten, in brillanten Aufführungen dennoch Trost und Erklärungsmodelle anzubieten.

Alles auf die Bühne!

Alles auf die Bühne!

„Symposion“ von Elisabeth B. Tambwe wurde im Tanzquartier Wien uraufgeführt. Ein Lehrstück über vorgefasste Meinungen und versteckte Realitäten

Bei vielen Menschen aus dem Publikum herrscht erst einmal Irritation. Die Sitzreihen sind mit Bändern abgesperrt, der Weg führt nicht in einen bequemen Stuhl, in dem man sich zurücklehnt und abwartet, was passiert. Vielmehr findet man sich unversehens mitten auf der Bühne. Gemeinsam mit Bühnentechnikern, Adriana Cubides, Radek Hewelt und Elisabeth B. Tambwe.

Letztgenannte liebt es, das Geschehen rund um eine Tanzperformance zu hinterfragen, zu dekonstruieren und Erwartungshaltungen des Publikums zu brechen.

Wer nicht krampfhaft nach zusammenhängenden Inhalten sucht, wird belohnt

In ihrem neuesten Stück „Symposium“, das im Tanzquartier Wien uraufgeführt wurde, kommen all jene auf ihre Kosten, die sich rasch von vorgefassten Ideen im Kopf, was denn Tanztheater sei, befreien können. Eine Sensation folgt der nächsten, einen roten Faden vermisst nur der, der ihn krampfhaft zu suchen beginnt. Da bezaubert und verblüfft gleich zu Beginn die zarte Cubides mit einer furiosen Choreografie mit, auf und unter einer kleinen Stehleiter. Wie sie mit ihr verwächst, über die Bühne hoppelt, sich mithilfe eines T-Shirts an sie bindet, ist sehenswert. Gut, dass man nahe neben ihr stehen kann. Während sie an ihrer akrobatischen Einlage arbeitet, stopft sich Radek Hewelt eine Unmenge an Papier in sein Kostüm. Bald sieht er aus wie ein Muskelprotz, der sich ungeachtet einer Verletzungsgefahr wild in allen möglichen Positionen auf den Boden wirft. Tambwe ist damit beschäftigt, das Publikum zu platzieren und mit einzelnen ein kurzes Gespräch zu führen.

Spätestens zu diesem Zeitpunkt ist klar: Das was hier zu sehen ist und noch sein wird, hat nur bedingt mit den herkömmlichen Gesetzen eines Tanzabends zu tun. Elisabeth B. Tambwe, geboren im Kongo, aufgewachsen in Frankreich, lebt und arbeitet seit einigen Jahren in Wien. Mit Robyn Orlin oder Faustin Lyniekula, um nur zwei Bekannte aus der Tanzszene zu nennen, hat die resolute Tänzerin und Choreografin schon zusammengearbeitet. Auftritte in Frankreich, Belgien, Holland und Österreich hat sie bereits absolviert. In „Symposium“ zeigt sie zu Beginn eine Situation, in der das Ensemble für einen Auftritt eigentlich noch gar nicht bereit ist. Diese Situation hält durchgehend an. Zwar dürfen die Zusehenden nach einer Zeit doch auf den Stühlen Platz nehmen, das heißt aber nicht, dass sie dort auch in Ruhe gelassen werden.

Tambwe fordert von ihren Tänzerinnen und Tänzern Einsatz bis zur Verausgabung. Besonders in jener Szenerie, in welcher sie ihre eigene Profession kräftig aufs Korn nimmt. Schneller, schneller, intensiver, intensiver feuert sie die beiden Agierenden an und treibt sie von links nach rechts immer wieder und wieder über die Bühne. „Brich in Tränen aus“ verlangt sie von Hewelt, der nicht mehr als ein betroffenes Gesicht zu machen imstande ist. Dabei bekommt man einen Eindruck davon, wie sehr die Ausbeutung im Tanzbetrieb zur Realität geworden ist. Zählt man das klassische Ballett dazu, dann sollte man nicht vergessen, dass diese Ausbeutung immer ein Teil des Betriebes war. Tambwe macht jedoch sichtbar, was tunlichst kaschiert wird.

Tambwe, Tänzerin und Choreografin zwischen den Welten, kritisiert mit eindrucksvollen Bildern und Aktionen

Das gelingt ihr auch mit der Verteilung von Porno-Heften aus den 80er Jahren. In jedes einzelne hat sie zu den masturbierenden Protagonistinnen Sprechblasen montiert, auf denen eine Rede von Nicholas Sarkozy nachzulesen ist. Gehalten 2007 in Dakar, ist sie laut Tambwe genauso pervers, wie die Abbildungen in den Heften selbst. Shit zu shit sozusagen und tatsächlich stockt einem der Atem, beginnt man alleine schon die ersten Zeilen dieses unsäglichen Pamphlets zu lesen. Mehr Imperialismusgehabe, Kulturchauvinismus und westliche Überheblichkeit ist kaum möglich. Auf einer Leinwand verschlingt eine Boa Constrictor in unglaublicher Geschwindigkeit ein schwarzes Tier. Eine grauenhafte und einprägsame Metapher, die weit über diesen Abend im Kopf bleibt. Zeigen, was normalerweise versteckt wird, könnte man als ein Motto aus dem Abend filtern. Ob es das gemeinsame Betrachten von Pornoheften ist, wie es das Publikum tut, nachdem es diese ausgehändigt bekommen hat, ob es stilisierte Masturbationen sind oder ob es der kontinuierliche Aufbau eines Objektes ist, das erst ganz zum Schluss für wenige Minuten zum Einsatz kommt.

Die Zurschaustellung des Zustandes der Hoffnungslosigkeit und Desillusionierung, in die sich Hewelt vor einem Mikrofon begibt, oder der Schlussauftritt von Cubides, in welchem sie nackt hüpfend dem Publikum von ihren Erfahrungen in diesem Zustand berichtet – es sind immer Aktionen, die nicht nur unerwartet auftreten, sondern teilweise auch solche, die eine gehörige Portion Mut brauchen, um sie darzustellen. Oder auch eine gehörige Portion Kreativität. Das lässt sich ganz einfach mit der Frage an sich selbst verifizieren, wie man selbst denn Hoffnungslosigkeit dargestellt hätte. Nicolâs Spencer, Spezialist im Bauen von „komplizierten, ungewöhnlichen und unpraktischen Maschinen“, wie man aus dem Programmheft entnehmen kann, schuf während des Abends ständig sichtbar, eine große, aus verschiedenen Holzbalken zusammenmontierte Skulptur. Darin wurden alle möglichen Versatzstücke aus den verschiedenen Szenerien mit verwoben, ein sichtbares Amalgam, das vergängliche Bewegung und Aktion konserviert.

Elisabeth Tambwe fordert ihr Publikum auf, hinter die Kulissen zu schauen. Sie möchte vorgefasste Meinungen im Kopf aufbrechen, eventuelles Schubladendenken zerstören und bietet den Menschen dabei die Möglichkeit, eine ganze Reihe an neuen Erfahrungen zu machen. DenTransfer außerhalb des Kulturbetriebes – die Möglichkeit, Menschen ohne Ressentiments und unvoreingenommen zu begegnen – muss letztendlich jede und jeder für sich selbst bewältigen.

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