Blitz – Donner – Krach !

Blitz – Donner – Krach !

Wenn es eine Möglichkeit gäbe, die neue Inszenierung von Sabine Mitterecker, die am Schauspielhaus in Wien diese Woche Premiere hatte, nicht kritisierend, sondern in einem anderen Medium als dem Literarischen wiederzugeben, so wäre ein Comic-Heft die richtige Wahl. Mit Blitz! Donner! und Krach! wäre so manch gezeichnetes Sujet übertitelt, mit dem man die Geschichte der verrückten und dekadenten Hotelbewohner „Zur schönen Aussicht“ von Ödön von Horvath nachverfolgen könnte. Aber es ist nicht nur der Lärmpegel, der in dem Stück um Macht und Lügen, Selbstverachtung und Demaskierung elender Charaktere auftritt, der ein Comicformat rechtfertigte. Es ist vor allem auch die starke Überzeichnung der handelnden Personen – mit Ausnahme der jungen Christine – Erfolg versprechend interpretiert von Sophie Hutter – die diesen Vergleich aufzwingen.

„Zur schönen Aussicht“ ist eigentlich ein tiefschwarzes „Lustspiel“, an dem in der vorliegenden Inszenierung vordergründig vor allem die „Lust am Spiel“ im Mittelpunkt zu stehen scheint. Horvath jedoch versetzte es über den plakativen Witz hinaus mit bitterbösem Humor und hellsichtigen Wirtschafts-Horrorszenarien, die längst von der Realität eingeholt wurden. Dennoch ist das Stück nicht ganz unproblematisch in seiner Wiedergabe. Vor allem dann nicht, wenn der Text originalgetreu belassen wird, die Personen aber nicht in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts agieren, sondern im Hier und Heute. Denn da reibt sich, was zu reiben nur geht. Die überheblichen Adels-Attitüden, die von der alternden Ada Freifrau von Stetten nur aufgrund ihres finanziellen Polsters ausgelebt werden können schwingen als Machtrelikt der untergegangenen Habsburgermonarchie nach. Zwar macht es – und das ist in Wien besonders schön zu beobachten – heute der neureiche Geldadel aus dem Osten keinen Deut besser – der gedankliche Transfer hierzu bleibt aber dem Publikum selbst überlassen. Helmut Berger und Elfriede Schüsseleder sind als adeliger Zwillingsspross hervorragend besetzt. Berger in hervorragender Kondition mimt mit Verve und viel Witz den dem Tod geweihten Spielsüchtigen. Im letzten Drittel des Geschehens darf er – plakativer geht es nicht mehr – seinen eigenen Strick um den Hals permanent mit sich schleppen. Schüsseleder torkelt sich bravourös in Highheels und engen Jeans durch die verschiedenen Aufzüge, ohne dass jene Stellen, in denen sie offen ihre Verletzlichkeit artikuliert, wirklich berühren können. Müller, der erfolglose Sektvertreter, er gehört einer Zeit an, in der Schulden noch persönlich und nicht über Kreditschutzverbände und Inkassobüros eingetrieben wurden. Hannes Granzer rumpelt und humpelt, droht und lockt als schmieriger Vertretertyp authentisch über die Bühne. Und das unschuldige Mädchen Christine, die schwanger sitzen gelassen wird, würde heute wohl eher beim Sozialamt um finanzielle Hilfe bitten und eine Vaterschaftsklage anstreben als monatelang täglich einen Bettelbrief an den Erzeuger ihres Kindes abzuschicken. Einzig das Triumvirat mit dem Hotelbesitzer Strasser, dem Chauffeur Karl und dem Kellner Max hält den Transfer vom Original in die Jetztzeit völlig unbeschadet stand. Gauner bleibt offenbar Gauner, egal in welche Zeit sie vor- oder zurückversetzt werden.

Anne Neuser hat die Kostümierung als Casualware mit Schlechtem-Geschmack-Acsessoires angelegt. Der Pelzkragen auf Emanuels Jacke sitzt völlig schief, der blaue Anzug von Hoteldirektor Strasser glänzt so elendiglich, dass man sich gut vorstellen kann, darin alles auszuschwitzen, was man so an Schlacken mit sich herumträgt. Heinz Weixelbraun verkörpert darin den hilflosen und vergeblich um Autorität ringenden Chef, der vor keiner mit Drohgebärden gespickten Intrige zurückschreckt, um nicht noch tiefer in die Verschuldung zu rutschen. Und auch das bedruckte T-Shirt von Max dem Kellner tut ein Übriges, um zu erkennen, dass sich die Menschen in einer zeitgeistigen Szenerie bewegen. Germain Wagner switcht – ausgestattet mit Weitblick eines gescheiterten Plakatkünstlers – soweit es die Regie zulässt, zwischen liebenswürdigem Lebenskünstler und traurigem Mitläufer. Das Bühnenbild von Anne Neuser präsentiert einen Raum, in dem sich eine am Leben übersättigte und verwahrloste Generation aufhält. Es beschönigt mit keinem Detail die trostlose Stimmung, die im Hotel herrscht. Rien-ne-va-plus heißt es dort kurz vor dem Exodus des Unternehmens. Ein durchsichtiger Sektkühlschrank, der mit einem Micky-Mouse-Telefon bekrönt wird, ein dominantes Regal, bestückt mit allerlei Spirituosen, ein metallisch glänzender Vorhang, der den Treppenaufgang zu den Obergeschossen verdeckt, jedoch zumindest noch die Leuchtschrift „Zur schönen Aussicht“ teilweise freigibt, ein Regiesessel mit der Aufschrift „Strasser“ der die filmische Vergangenheit des Hoteldirektors persifliert, alles ist dazu angetan, sich nicht wohlzufühlen. Auch hier wird nicht mit Überzeichnung gegeizt.

Inmitten dieser Szenerie wird gestritten, werden Intrigen ausgeheckt, wird gesoffen auf Teufel komm raus, hysterisch gelacht und gesungen und schrittweise der Raum in eine Müllhalde nächtlicher Exzesse verwandelt. Trotz oder sollte man sagen wegen der so dick aufgetragenen Schrillheit des Spiels will jedoch lange kein richtiger Funke ins Publikum überspringen. Was bei Horvath an unterschiedlichen Charakteren aufgebaut und durchdekliniert wird, gefriert bei Mitterecker aufgrund der allzu heftigen Überzogenheit im Spiel zu beinahe nicht mehr unterscheidbaren Stereotypen, was das Spiel über Strecken hinweg langweilig macht. Max, Karl, Müller, Strasser und Emanuel sind alle gleich exaltiert, gleich strizzihaft, gleich duckmäuserisch oder niederträchtig. Keiner schert aus der Reihe. Eine – nur im Bedrohungsmoment ihrer Existenz – eingeschworene Männerbande, bei der ansonsten das Motto „jeder gegen jeden“ gilt. Vielleicht war es Kalkül und Mittereckers Plan, die Egalität der samt und sonders gescheiterten Männer aufzuzeigen. Damit gelang es ihr immerhin aufzugeigen, dass nicht nur der Tod, sondern vor allem Geld – das allen fehlt – schließlich auch alle gleich macht. Zumindest gleich berechenbar. Erst in jenem Moment, in welchem Müller der jungen Christine so nahe rückt, dass seine Drohungen auch körperlich spürbar werden, verdichtet sich das Geschehen zu einer Spannung, die deutlich macht, dass Theater magische Momente in sich bergen kann. Diese halten aber nur solange, bis sich das Blatt wendet und nach der Offenbarung Christines herausstellt, dass sie mindestens ebenbürtig finanziell ausgestattet ist wie ihre alternde adelige Rivalin.

Ab diesem Moment scheint es kein Halten mehr zu geben. Der Slapstick erobert die Bühne gänzlich. Christine sitzt nun bühnenmittig mit glänzend-blauer Discoperücke und einer Schwedenbombe auf der Nase inmitten ihrer neuen Verehrer und verfolgt belustigt das Treiben rund um sie. Ein jeder der Männer möchte ihre Gunst und damit ihr Geld erwerben und legt sich mit allen verfügbaren Mitteln dafür ins Zeug. Der Blumenstrauß von Max mutiert zur Plastikblumenorgie, Müllers Avancen unterstreicht dieser durch die Aufpäppelung seines Outfits mit einem neuen Hut und Jon Kiriac hat überhaupt das große Bühnenlos gezogen, muss er doch im Stringtanga und mit betontem Geschlechtsteil mittels Kopulationsbewegungen auf die Lockungen seiner Potenz aufmerksam machen. Den jungen Zuseherinnen und Zusehern, die direkt von der Schule ins Theater geschickt wurden, hat das sehr gefallen, dem Schauspielhaus-Stammpublikum fiel es schon merklich schwerer, an der allgemeinen Überzeichnung emotional hörbar Anteil zu nehmen.

Was positiv in Erinnerung bleibt, ist, dass jene Kernsätze des Autors, in welchen er den lieben Gott mit Geld gleichsetzt, trocken und beinhart ohne jeden Klamauk von Christine und ihrem ehemaligen Liebhaber Strasser formuliert wurden. Auf die Frage Strassers „Was verstehst du unter lieber Gott?“ erhält er die knappe Antwort „10.000 Mark“ – eine Summe, die zur damaligen Zeit mehrere Jahresgehälter ausmachte. „Man müsste den lieben Gott besser organisieren. Er hilft nur wenigen, aber viele verrecken“ – diese tiefsinnige Aussage Christines beschreibt knapp und bündig ein Problem, das sich tatsächlich seit den 20er Jahren nicht verändert hat und an dem sich nach wie vor philosophische Schulen und Parteiprogramme erfolglos abarbeiten. Es steht zu befürchten, dass Mittereckers trostloses Szenario, in dem die Menschheit orientierungs- und skrupellos sich nur am Geld orientiert, tatsächlich nichts anderes als einen künstlerischen Zustandsbericht unserer Zeit darstellt. Schade eigentlich, dass sich die Protagonistinnen und Protagonisten um uns herum heutzutage jene Schrillheit, die hier kritisiert wurde, im alltäglichen Leben abgewöhnt haben. Dann hätten wir zumindest noch öfter etwas zu lachen.

Eine Koproduktion von Theater.punkt/Sabine Mitterecker, Les Théatres de la Ville de Luxembourg und dem Kasemattentheater, die noch bis 9. September in Wien und im Dezember 2014 in Luxemburg zu sehen ist.

Wer die Nase rümpft, hat dem Leben noch nie in den Hintern geschaut

Wer die Nase rümpft, hat dem Leben noch nie in den Hintern geschaut

Sie kommen in Bademänteln auf die Bühne. Erna, Grete und das Mariedl. Die Haare mit Lockenwicklern verziert, mit Haarspangen fixiert oder, wie bei Erna, unter einer weißen Fellmütze versteckt. Sie kommen von hinten, durch den Mittelgang des Zuschauerraumes und singen ein textloses Lied auf lalala. Dass es einen religiösen Hintergrund hat, soviel kann man aus der choralähnlichen Melodie erahnen, aber nicht mehr. Den Zuseherinnen und Zusehern schauen sie im Vorbeigehen in die Augen und tun dies noch, als sie an der Bühne angekommen sind. Erna (Katja Kolm), die ihr Leben ihrem trunksüchtigen Sohn Hermann geopfert hat und sich eine Zukunft als Fleischersgattin an der Seite von Karol Wottila ersehnt, Grete (Claudia Sabitzer), die den Missbrauch ihrer Tochter durch ihren Vater billigte und das bigotte Mariedl (Martina Stilp), das nicht umsonst einen sächlichen bestimmten Artikel vor ihrem Namen trägt. „Die Präsidentinnen“ heißt das Stück von Werner Schwab, welches sie an diesem Abend im Volkstheater spielen. Jenes Stück, mit dem der Provokateur Schwab berühmt wurde, das ihm zum Durchbruch an den deutschsprachigen Bühnen verhalf, wenngleich mit Anlaufschwierigkeiten und auch viel zu spät, denn nur mehr wenige Jahre blieben dem Autor von seinem Leben noch übrig.


In „Die Präsidentinnen“, dem Stück, das als eines der Fäkaliendramen Schwabs bezeichnet wird, schrieb der schon jung vom Leben gezeichnete Mann seine Erkenntnisse von jener dunklen Seite des Lebens, die viele Menschen in Friedenszeiten zum Glück nie erleben, andere jedoch aber mit all der zerstörerischen Kraft selbst am eigenen Leib spüren müssen. Liest man über Schwabs schwere Kindheit, wird einem klar, dass es zwei Rollen in dem Stück gibt, die autobiografischen Hintergrund aufweisen. Aber eigentlich wichtig ist dieses Wissen für das Verständnis des Stückes nicht, obwohl Schwab selbst äußerste, in einem Präsidentinnenhaushalt groß geworden zu sein.

Die drei Protagonistinnen interagieren an diesem Abend im Volkstheater in gänzlich anderen Kostümen als den landläufig bekannten. Sie stecken nicht in Arbeitsschürzen, sondern legen in der ersten Szene nach und nach Schminke auf, toupieren ihre Haare und wechseln die Bademäntel gegen pastellfarbige, bodenlange Abendroben (Kostüme: Nina Ball). Keine Spur mehr von Abortfrauen, zumindest rein äußerlich. Ihre Sprache jedoch legen sie nicht wie ihre Kleidung ab, um in eine andere zu schlüpfen. Die deftig-kräftige Schwab´sche Diktion bleibt durchgehend erhalten und es gibt nur wenige Minuten, in welchen Scheißdreck oder Stuhl keine Erwähnung finden. Die Spannungen zwischen Erna und Grete schaukeln sich in der Inszenierung von Miloš Lolić, der am Volkstheater schon bei Magic Afternoon von Wolfgang Bauer Regie führte und damit den Nestroypreis erhielt, so hoch, dass es schließlich zu einer Rauferei kommt. Einer waghalsigen, denn das Bühnenbild besteht nur aus einer schwarzen, den gesamten Bühnenraum einnehmenden Treppe, die im Hintergrund von einer Fototapete begrenzt wird, auf welcher der gespiegelte Zuschauerraum zu sehen ist. Auf den obersten Stufen balgen sie sich, so lange, bis das Mariedl einschreitet und die Streithennen trennt.

Das Bühnenbild von Hyun Chu – nach und nach senkt sich für die Szene im Bierzelt eine leuchtend rote Wand wie aus glitzerndem Geschenkpapier vor den Zuschauerraumprospekt, um danach von einer tiefschwarzen, alles Licht absorbierenden verdeckt zu werden – spiegelt die jeweils seelische Befindlichkeit der Präsidentinnen augenfällig. Bei jener orgiastisch aufgebauten Szene, in die sich die drei Frauen wie in eine Trance hineinmanövriert haben, um von ihren Liebesabenteuern und erfolgreichen Kloreinigungen zu fantasieren, strahlt das kräftige Rot durch ihre Herzen und Unterleiber hindurch. Mit der Verwendung eines Mikrofons, in welches die einzelnen Monologe immer schneller und schneller abwechselnd gesprochen werden, bis es Erna die Stimme beinahe überschlägt, präsentieren sie sich als Entertainerinnen und unterstreichen, während eine von ihnen redet, deren  Ausführungen im Hintergrund mit Choreografien, wie von einem schlechten Fernsehballett.

Von Beginn an, an dem Erna feststellt „Jö, so viele Leute“ und damit das Publikum meint, bleibt die Interaktion mit demselben bis zur letzten Minute aufrecht. Mariedl blinzelt neckisch in die Menge, während sie sich die Nägel lackiert, und nimmt explizit Blickkontakt mit den Menschen in den vorderen Logen auf, als sie von der „feinen Gesellschaft“ spricht, die ihr fürs „Klofreimachen“ immer Handschuhe bereithält. Erna wirft ihre zu Beginn getragene Pelzmütze in die erste Reihe, um diese am Schluss wieder einzufordern. Und Grete fragt einen Besucher nach seinem Namen, bevor sie von ihrer Bierzeltliebe Fredi zu erzählten beginnt. Die spontane Aussage, als ein Ehepaar die Vorstellung verlässt: „Die müssen aufs Klo“, von Katja Kolm, wird mit Applaus quittiert – man spürt – hier darf mitgespielt werden, mehr noch, hier ist man ein Teil des Geschehens, nicht nur passives Zuschauermaterial. Eine der Stärken dieser Aufführung.

Zumindest in Österreich sind die historischen Personenbezüge zu Papst Johannes Paul II – Karol Józef Wojtyła – und dem damaligen Präsidenten Kurt Waldheim – nach wie vor präsent. Und so evozieren gerade jene Sätze, mit welchen Erna beständig den Pontifex und den Bundespräsidenten zitiert und deren Autorität als unbedingt darstellt, Lachsalven. In der Inszenierung von Lolić wird Schwabs Text, nicht wie in so vielen anderen, ungekürzt aufgeführt und so ist nicht die Auferstehungsszene von Mariedl die letzte, sondern ihre Ermordung durch ihre beiden Freundinnen. Sie wollen sich von ihr ihre Träume nicht kaputt machen lassen, hat das Mariedl ihnen doch zuvor ein grausames Ende, das sie durch ihre Kinder erfahren werden, an die Wand gemalt. Des Schreckens noch nicht genug, setzt Grete dem Geschehen noch einen verbalen Tiefpunkt auf – sie möchte dem toten Mariedl die Zunge herausschneiden, um diese an ihr Hündchen Lydia zu verfüttern. Jener schwarze Moment geht tief unter die Haut, kippt die Lächerlichkeit von der Bühne und landet mit aller Wucht im Publikum.

Es ist nur der Regie von Miloš Lolić zu verdanken, der übrigens auch für die Inszenierung von • YDP I • Hinkemann, einer Tragödie von Ernst Toller bei den kommenden Salzburger Festspielen verantwortlich zeichnet, dass die Grabesstimmung noch einmal kippt. Er erweckt das Mariedl wieder zum Leben und lässt die drei Frauen sich in jenen Zustand zurückverwandeln, in welchem sie auf die Bühne kamen. Ungeschminkt, und in ihren Bademänteln verlassen sie den Zuschauerraum, ineinander eingehängt, wie sie gekommen sind. Diesmal hat ihr Lied allerdings auch einen Text. Einen tiefschwarzen, Schwab´schen, klarerweise, in dem er den Herrgott einen Autobus, einen Zwetschgenbaum und eine Melkmaschin`sein lässt. Als sarkastisch witzig präsentiert er darin seine Religionsinaffinität, genauso, wie sie auch im Stück beständig auftritt, ohne jedoch Gott explizit zu verleugnen.

Katja Kolm, Claudia Sabitzer und Martina Stilp füllen ihre Rollen zu gleichen Teilen mit draller Weiblichkeit und Stimmgewalt und erweitern gerade mit ihrer in dieser Inszeierung zur Schau getragenen Eleganz garantiert die zukünftigen Rollenbesetzungen dieses Stückes. Noch im Jänner dieses Jahres waren Erni Mangold, Johanna Mertinz und Krista Schweiggl in einer szenischen Lesung der „Präsidentinnen“ im Schauspielhaus in Wien zu Gast und beeindruckten mit ihrer Interpretation der vom Leben so Gebeutelten. Größer hätte der Kontrast zur Insezenierung im Volkstheater wohl nicht ausfallen können – interessanter aber auch nicht.

Jenen Menschen, die sich nach wie vor über die Ethik von Schwabs Stück erregen können und die Nase darob rümpfen, sei bescheinigt, dass sie zu jenen Glücklichen gehören, die dem Leben noch nie in den Hintern schauen haben müssen. Und diese Feststellung kommt nicht von Werner Schwab.

Wohin kehrt man heim?

Wohin kehrt man heim?

Das Schauspielhaus Wien ist bei seinem fünften und letzten Teil der Serie „Die Welt von Gestern“ nach Stefan Zweig angekommen. Die junge Autorin Anne Habermehl wurde sowohl für die erste als auch auch für diese letzte Folge, die den Titel „Heimkehr nach Österreich“ trägt, beauftragt.

Aufführungen in Altersheimen rangieren unter der Beliebtheitsskala von Kreativen nicht gerade an oberster Stelle. Zwar ist das Publikum gemeinhin nicht allzu schwer zu begeistern, allerdings funktioniert ein Auftritt nur dann zufriedenstellend, wenn er genügend Erinnerungspotential enthält. Das Schauspielhaus in Wien benötigt für seinen fünfte und letzte Serie nach Stefans Zweig Biografie jedoch gar kein Publikum aus dem Altersheim, sondern nimmt sich dieses dorthin einfach mit. Nach einem kurzen Spaziergang vom Haupthaus in der Porzellangasse ist das Haus Rossau in der Seegasse 11 erreicht. Ein Ort, mit geschichtsträchtiger Vergangenheit, der den bislang gebräuchlichen Namen „Altersheim“ abgelegt hat. „Häuser zum Leben“ nennt die Betreibergesellschaft vielmehr jene Institutionen, die vornehmlich alte Menschen, die nicht mehr alleine wohnen können, beherbergen. Und so befindet sich das Publikum in seinem solchen „Haus zum Leben“, in welchem an diesem Abend jedoch das Sterben in den Mittelpunkt der Betrachtungen rückt. Die Geschichte dieses speziellen Hauses ist äußerst bemerkenswert, vielschichtig und daher zugleich auch sehr interessant für eine Theateraufführung im Zusammenhang mit jener Thematik, die das Schauspielhaus Wien in dieser Saison aufarbeitet.
Im Hof des Hauses befindet sich nämlich ein jüdischer Friedhof, der in den letzten beiden Jahrzehnten in mühsamer Kleinarbeit wieder rekonstruiert wurde. Dafür mussten alte Grabsteine, die 1943 mit Zustimmung der NS-Verwaltung auf den Zentralfriedhof verbracht wurden, wieder zurückgeholt werden, um an ihren ursprünglichen Ort wieder aufgestellt werden zu können. Das jetzige Wohnheim stammt aus den späten 70er, frühen 80er Jahren, gehört der Stadt Wien und wird als konfessionsfreies Altersheim geführt. Bis zum Jahr 1943 jedoch war es ein jüdisches Altersheim, an dessen Platz schon zu Beginn der Neuzeit – bis dahin lassen sich einige Grabsteine zurückdatieren – ein jüdisches Siechenhaus stand. Nachdem die letzten Alten 1943 aus dem Haus abtransportiert worden waren, wurde es von den Nationalsozialisten beschlagnahmt, um aber gleich nach dem Krieg den Heimkehrenden aus den Deportationslagern als allererste Anlaufstation zu dienen. Diese Geschichte, in der sich das Unrecht gegen die Wiener jüdische Gemeinde über Jahrhunderte hinweg widerspiegelt und letztlich auch ein Faktum aufzeigt, das im öffentlichen Bewusstsein nicht verankert ist, diente der Autorin sicherlich als bedenkenswertes Faktum. Sie wählte diese Seniorenresidenz, um darin die letzte Station einer alten Dame zu beschreiben, die zeitlebens nirgends ein richtiges Zuhause hatte.

Habermehl hat für ihre zwei Abende 100Jährige Wienerinnen und Wiener interviewt und sich auf die Geschichte eines Ehepaares konzentriert. Im ersten Teil erzählte sie dessen Leben bis zum Freitod des Mannes in den 80er Jahren, der sich, seiner Demenz bewusst, in den Wald zurückzog, aus dem er nicht mehr heimkam. Im letzten Teil nun knüpft die Autorin an die Geschichte seiner Frau an und erzählt indirekt über ihre Tochter und deren Mann ihren Alterungsprozess. Dass sich das Geschehen nicht auf einer Theaterbühne abspielt, sondern in ein reales Seniorenheim verlegt wurde, macht in mehrerlei Hinsicht Sinn. Denn der Abend wird nicht nur intellektuell verarbeitet, sondern beansprucht alle menschlichen Sinne. Das beginnt beim olfaktorischen Eindruck, der einen sofort umfängt, wenn man das Haus betritt, geht weiter zu einer kleinen Essensausgabe, bei der man einen Dosenobstalat im kleinen Schüsselchen erhält und endet schließlich auf der nächtlichen Terrasse – mit Blick auf den jüdischen Friedhof.

Die Tochter der alten Dame hat genauso wie ihr Ex-Mann oder Ex-Freund keinen Namen, auch nicht ihr kleines Mädchen, über das genauso wie über die alte Dame selbst, nur gesprochen wird. Die junge Frau zeigt kräftige Ansätze einer bipolaren Störung und hat große Schwierigkeiten, das Alter ihrer Mutter und ihr langsames Siechtum zu akzeptieren. Angela Ascher verkörpert diesen impulsiven Charakter. Trotz aller Ressentiments gegen ihre Mutter versucht sie doch, zumindest deren Vergangenheit zu heroisieren. Tim Breyvogel als ihr Ex-Freund erträgt ihre psychische Schieflage nicht und wird ihr gegenüber mehrfach gewalttätig. Die alte Dame, über die sich das junge Paar unterhält, kommt an diesem Abend nie persönlich auf die Bühne, bzw. in den Speisesaal, in dem sich das Geschehen abspielt. Und dennoch ist sie der Dreh- und Angelpunkt des Geschehens. Sie wird zum Projektionspunkt für die unaufgearbeiteten Familiengeschichten des Paares, das mit aller Macht ein eventuelles Naheverhältnis ihrer Vorfahren zum Nationalsozialismus verdrängen möchte. Doch es ist nicht nur die Vergangenheit, die zum Problem der jungen Menschen wird. Es ist auch der nahe Tod, das Sich-Zurückziehen und Verstummen der Alten, welches sie ratlos und zornig zugleich zurücklässt. Die Erinnerungen, die von der betagten Frau nicht mehr hervorgerufen werden können, bietet Habermehl sozusagen aus zweiter Hand, auditiv, über Kopfhörer. In die kalte Nacht auf die Terrasse entlassen, lauscht das Publikum einer 8minütigen Dokumentation von Aussagen jener Menschen, die noch den Ausbruch des ersten Weltkrieges erlebt haben. Dabei entwickelt sich aus dem Abstand, den eine dramatische Fassung mit sich bringt, eine persönliche Bezugsebene zu den alten Menschen. Obwohl man diese nur hört und nicht sieht. Allen gemeinsam ist die Tatsache, dass ihr Erinnern ein selektives ist, eines das noch dazu beständig abnimmt und damit auch eine Zeit verschwindet, die prägend für unser Hier und Heute war. Dabei steigt das Bewusstsein auf, dass all diese Geschichten bald gänzlich verschwunden sein werden. Nur vereinzelt mehr nachzulesen, so wie in Stefan Zweigs Biografie, die den Ausgangspunkt zu diesem Theatererlebnis bildete. Erinnerung an das eigene Leben erlischt schon in demselben. Permanent und ständig, im fortgeschrittenen Alter mit Riesenschritten. Die „Heimkehr“, die auch im Titel dieses Abends verankert ist, ist ab einem bestimmten Lebensabschnitt keine „Heimkehr“ an einen bestimmten Ort. Vielmehr ist es eine Heimkehr in einen Zustand, der, bevor er eintritt, nicht gefühlt werden kann.

In der Regie von Felicitas Brucker mimt Tim Breyvogel jenen jungen, zornigen Mann, der seine Gefühle nicht unter Kontrolle halten kann. Schon einmal Mal in dieser Serie war er mit dieser Charaktereigenschaft belegt worden. In der zweiten Folge, die er mit Michael Gempart bestritt und die Philipp Weiss verfasst hatte, waren es ebenfalls seine familiären Prägungen, unter denen er litt und welchen er mit Gewalt versuchte zu entkommen. Eine kluge und passgenaue Besetzung.

In der Replik auf die fünf Serienteile kann man feststellen, dass es dem Team – allen voran den Autorinnen und Autoren – gelang, viele differenzierte Sichtweisen auf das 20. Jahrhundert aufzuzeigen. Sichtweisen, die sich in Einzelschicksalen manifestierten, welche aber alle mit den politischen Bedingungen ihrer Lebensspanne verwoben waren. Es gibt kein Entrinnen, kein Abgekoppelt-Sein aus einem politischen Umfeld – so könnte man eine der Kernbotschaften dieser Produktionen bezeichnen. Auch wenn viele Menschen heute das Gefühl haben, unpolitisch und nur am Rande von der Politik betroffen zu sein. -“Die Welt von Gestern“ wurde in dieser Produktion zur „Welt von Heute“, wenn nicht sogar zur „Welt von Morgen“. Ein gelungenes Experiment, das neben den jeweiligen Abendvorstellungen räumliche und geistige Plätze noch und nöcher öffnete, um historisch zu reflektieren und nicht zuletzt auch unsere heutige ganz persönliche Positionierung in vielen Lebensbereichen zu hinterfragen.

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reichtum ist die kotze des glücks

reichtum ist die kotze des glücks

Die Welt von Gestern

Raphaela Möst, Martin Vischer (c) Schauspielhaus

Katharina und Albrecht sind ein Geschwisterpaar. Eingeschlossen in den über Generationen vererbten Familienreichtum, beglückt mit einem Hauslehrer, den sie das fürchten lehren vor dem Lehren. Katharina und Albrecht sind ein ungleiches Geschwisterpaar. Angetrieben von ganz unterschiedlichen Motivatoren repräsentiert der Bruder den grübelnden Philosophen, der vor der Gewalt seiner Schwester solange zurückschreckt, bis sie bei ihm selbst ausbricht. Katharina hingegen ist eine gelangweilte junge Frau, deren Gier nach Leben hinter den abgeschotteten Mauern des fortifizierten Heimes keine Erfüllung finden kann. „reichtum ist die kotze des glücks“ konstatiert sie trocken an einer Stelle, ohne zu wissen, wie sehr sich ihre Zustandserkennung noch in die Tragik zugespitzt bewahrheiten wird.

Der junge Autor Ferdinand Schmalz (geb. 1985 in Graz) hat die Herausforderung des Schauspielhauses Wien angenommen, den vierten Teil der Staffel „Die Welt von Gestern“ nach Stefan Zweig zu gestalten und einen dramatischen Text dazu zu verfassen. Was dabei herausgekommen ist, ist ein Abend, gespickt mit Zweig-Zitaten aus dessen Biografie, einer Vielzahl an Verweisen in die klassische Literatur, angefangen mit einem Faust-Ausspruch, weiterführend mit der Rezitierung eines Gedichtes Nietzsches aus seinem „Ecce homo“ bis hin zum unterschwelligen, musikalischen Hinweis mit einem Ausschnittes aus dem 2. Satz der 9. Symphonie von Beethoven, den weiland schon Stanley Kubrick in seinem Kultfilm Clockwork-Orange mit den Gewaltexzessen von gelangweilten Jugendlichen verband. Eine explosive Mischung, die in der Regiearbeit von Felicitas Brucker in seiner ganzen Tiefe wahrscheinlich nur jenen schlüssig zugängig wird, welche Ohren haben zu hören und einen kulturhistorisch geschulten Intellekt, um vollständig in das Schmalz`sche Universum eintauchen zu können. Und selbst dann noch birgt der Text historische Untiefen, die sich erst in einem Autorengespräch an die Oberfläche der Textwahrnehmung zerren lassen werden. Aber das ist gut so, denn das fixt an. Oder etwas präziser ausgedrückt: Eine Prise Schmalz-Text und man wird zum Literaturjunkie.

Der Abend beginnt im historischen Lesesaal des Josephinum. Jenem klassizistischen Gebäude, in welchem die medizinische Schausammlung von Wachspräparaten der Universität Wien untergebracht ist, die Josef II ganz nach Vorbild des Specola in Florenz unter der Leitung des Modelleurs Clemente Susini anfertigen ließ. Letzterer findet übrigens im Text von Ferdinand Schmalz eine kurze Erwähnung. In unsere heute Währung umgerechnet, musste der Habsburgerkaiser 650.000,— Euro bezahlen um diese Präparatensammlung schließlich sein Eigen nennen zu dürfen. Die Vorbildwirkung der Medici, deren Sammlung in jene des Specola einfloss, dürfte nicht unmaßgeblich bei der Ankaufsentscheidung Josefs eine Rolle gespielt haben. Wann hat man als vermögender „Sammler“ schließlich schon die Gelegenheit, ein ehemals weltberühmtes Herrschergeschlecht mit seiner eigenen Ankaufspolitik noch zu übertrumpfen?

Zurück aber zum Stück von Schmalz, das den Titel „Die Agonie des Friedens“ trägt. Darin ist es nicht Josef II, sondern der Vater von Katharina und Albrecht, welcher dieser Sammelleidenschaft erlegen ist. Und das sosehr, dass die Beziehung zu seinen Kindern dabei eine untergeordnete Rolle in seinem Leben spielt. Ganz zu Beginn des Stückes wähnt man sich zurückversetzt in jene feudalistischen Zeiten, in welchen Hauslehrer sich um die Bildung der adeligen Sprösslinge kümmerten. Bald aber schon finden sich Hinweise auf unser Hier und Jetzt, von dem aus so manche Rückblende in die Familiengeschichte erfolgt. Worauf sich der Familienreichtum gründet, bleibt unerwähnt, nur soviel ist zu erfahren, dass der Großvater der beiden jungen Menschen in seiner Fabrik Zwangsarbeiter beschäftigt hatte. Mit diesem Hinweis und jenem, dass ein Foto des Großvaters, auf dem er mit Dollfuß zu sehen ist, lange schon auf dem Dachboden verschwunden ist, unterfüttert Schmalz das Geschehen mit jener zweiten historischen Dimension, welche in die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg zurückführt. Also in jene Zeit, in der Stefan Zweig im Exil seine Biographie schrieb. Katharina und Albrecht sind das letzte Glied einer Familie mit einem langen Stammbaum. Ihr charakterlicher Unterschied zeigt sich auch in ihrem Sprachvermögen. Albrecht verweilt darin häufig in einem antiquierten Diktum, das sich gerne der Reimform bedient, Katharina kommt gerne unverblümt zur Sache.

Nachdem das Setting abgesteckt und klar geworden ist, dass die Geschwister abgeschottet von der Außenwelt ein Leben leben, dass ausschließlich auf eine gegenseitige Referenzierung angewiesen ist, steuert das Stück auch schon seinem ersten Höhepunkt zu. Die Schilderung von Katharina, wie sie Zeugin eines Übergriffes auf eine alte Frau wurde, die eine Horde junger Männer zu Boden prügelte, ohne dass sie selbst eingegriffen hätte. Zählt man eins und eins zusammen, so kann man davon ausgehen, dass Katharina nicht nur Zeugin dieser Tat, sondern auch direkt daran beteiligt war. Die Vorhaltungen ihres Bruders quittiert sie einzig mit einer Tirade auf dessen Schwäche. So lange, bis dieser, dem sie zuvor auch noch sein handgeschriebenes Notizbuch verbrannte, seine Nerven verliert. Nachdem er das Heinrich Heine Zitat abwandelt und seine Schwester nicht nur der Bücherverbrennung, sondern auch der Möglichkeit der Menschenverbrennung bezichtigt, kommt es zur Tat im Affekt. HIngesunken auf den Boden, bleibt die junge Frau in ihrem Blute nach dem tätlichen Angriff und der Würgeattacke ihres Bruders schließlich liegen. Als Abschluss des ersten Teils animiert Albrecht das Publikum noch, ihm aus der Bibliothek zu folgen und seine Schwester alleine im Raum zurückzulassen. Einen langen Gang entlang geht es in einen jener Säle, in welchen sich die Wachspräparate befinden.

Katharina taucht dort plötzlich völlig unerwartet und unversehrt darin auf. Das Attentat auf sie hat sie überlebt und folgt nun argumentativ ganz jener Freud´schen Logik, nach welcher das Böse in jedem Menschen steckt. Solange, bis die dünne Haut, die über den menschlichen Trieben gespannt ist, zerplatzt und die blinde Aggression zutage tritt. Siegmund Freud hat diese psychologische Argumentation in Zusammenhang mit den Gräueltaten des NS-Regimes gegenüber Stefan Zweig bei Gesprächen in England dargelegt. Schmalz nimmt diese auf und transferiert den unmenschlichen Zustandes eines Regimes in ein menschliches Einzelschicksal. Und dennoch hat das Böse in seiner Interpretation viele Gesichter. Katharinas Verweis auf des Menschen höchstes Gut, nämlich seine Freiheit, ganz im Sinne von Sartres Selbstbestimmung, die in letzter Konsequenz auch alle negativen Entscheidungen zu tragen hat, zeigt, dass die junge Frau nicht geläutert aus des Bruders Angriff hervorging. So ist nicht sie die Verliererin in diesem Spiel um Gut und Böse, um Moral, Ethik und Gewalt, sondern ihr Bruder. Eingeschlossen in eine Nervenheilanstalt, widersetzt er sich dem Rat seiner Schwester, doch Beruhigungsmittel zu nehmen – sich einer „Chemokatharsis“ zu unterziehen. „ich weigere mich, das handwerk des verdrängens zu erlernen“ kontert er, wohl wissend, dass außerhalb seines neuen Exils die Menschen gerade den Verdrängungsmechanismus bis ins Perfekteste kultivieren. „der krieg kommt immer wieder, weil er da in den herzen wohnt. die menschen, sie werden nicht friedlicher. müsst man den krieg schon selber töten“. Mit dieser Kernaussage lässt Albrecht keine positiven Zukunftsaussichten aufkommen.

Martin Vischer in der Rolle des Bruders überzeugt in jenen Momenten, in welchen er seinem Menschsein in der Psychiatrie unmittelbar ohne Beschönigungen ausgeliefert ist. Von Liebe, Hass und Eifersucht befreit, lebt er dort sein Leben hellsichtigst, wenngleich abgeschottet vor den sogenannten „Normalen“ und berührt in diesen letzten Sequenzen unglaublich. Raphaela Möst verkörpert perfekt das schöne Böse, ohne jegliche Moral. In all ihren Äußerungen ihrem Bruder in ihrer Außenwirkung stets überlegen, bleibt ihr der humane Zugang jedoch bis zum Schluss gänzlich verweigert.

Ferdinand Schmalz hat – nicht zuletzt mithilfe von Felicitas Brucker – seine Feuertaufe als Autor am Schauspielhaus in Wien bestanden. Sein Text beeindruckt durch seine Vielschichtigkeit aber auch durch die mannigfaltigen historischen Verschränkungen und der offenen Klammer des Geschehens bis in die Jetztzeit. Wer eine gewisse Abhängigkeit verspürt und mehr Texte des Autors lesen möchte, sei auf seine derzeitige Funktion als Alsergrunder Bezirksschreiber verwiesen und behalte seine Homepage im Auge.

LINKS:

Webseite Ferdinand Schamlz
Webseite Josephinum

Brasilien liegt im Neunten

Brasilien liegt im Neunten

Über das genaue Datum sind sich die Fachleute nicht einig. War es der 22. oder der 23. Februar an welchem Stefan Zweig und seine Frau 1942 in Petropolis, ungefähr 50 km von Rio de Janeiro entfernt, Selbstmord begingen? Sein Abschiedsbrief ist mit 22. datiert. Darin hoffte er, dass seine Freunde nach der langen Nacht noch die Morgenröte sehen mögen. Seine Kräfte seien nach langen Jahren heimatlosen Wanderns erschöpft und seine Ungeduld zu groß.

Die Welt von Gestern

Sabina Holzer und Jack Hauser (Foto: Schauspielhaus Wien)

Der dritte Teil der fünfteiligen Stefan-Zweig-Serie des Schauspielhauses Wien führt geradewegs in diese letzten Lebensmomente und in das Sterbezimmer des Schriftstellers. In dieser Produktion liegt es jedoch zu Fuß nur ca. 10 Gehminuten entfernt vom Haus in der Porzellangasse. Sabina Holzer und Jack Hauser, die diese Folge als Performer bestreiten, gehen mit dem Publikum vom Nebenhaus des Schauspielhauses durch die Nacht – auf kleinen Umwegen – wie man zuvor noch erfährt, an einen noch nicht näher genannten Ort. Vorbei am Sigmund Freud Museum, dessen Namensgeber Zweig als einen seiner wichtigsten Freunde titulierte, geht es links von der Berggasse ab in die Wasagasse, bis hin zum Gymnasium, an dessen Außenmauer, links und rechts vom Eingang, jene Tafeln prangen, mit denen sich die Schule öffentlichkeitswirksam schmückt. Es sind Memorabilien an jene Schüler, aus denen „etwas geworden“ ist. Neben Friedrich Torberg liest man die Namen von Erich Fried, Marcel Prawy und Stefan Zweig. Ob Letzterer darüber erfreut gewesen wäre, darüber lässt sich streiten, beschreibt er doch in einem ganzen Kapitel seiner Biographie „Die Welt von Gestern“, wie sehr er die Schule gehasst hatte und sie als Knebelung des Erwachsenwerdens empfand.

Von all dem erfährt das kleine Grüppchen unerschrockener Theatergängerinnen und Theatergänger aber nichts, wurde ihm doch zuvor aufgetragen, den Weg so still wie möglich zu beschreiten. Und sich dabei vorzustellen, die Stadt nicht zu kennen, fremd hier zu sein und einen fremden Blick aufzusetzen. Was sich für viele als gar nicht leichte Übung herausstellte. Ein tatsächliches Gefühl der Befremdung stellte sich dann aber doch ein. Beim Eintritt ins Haus Währinger Straße 12. Dort ging es im Gänsemarsch hinauf in den ersten Stock, das Hochparterre und das Mezannin mitgerechnet in den „gefühlten“ 3. Stock, in welchem sich die Hotel-Pension Baron befindet. Das Logo wirkt wie die weibliche Ausführung des Werbesujets einer alteingesessenen Wiener Kaufmannsfamilie, deren jüngster Spross durch waghalsige Bankgeschäfte in den Fokus der Justiz geraten ist. Mit dunklem Holz vertäfelt nimmt ein kleiner Empfangsraum, bestückt mit großen, schweren Samtsofas und ebensolchen Fauteuils, die nun neugierig gewordene Menschengruppe auf. An der einen Seite zeigen polierte Messingnummern den Zutritt zu einzelnen Hotelzimmern an, eine schwere Holztreppe mit gediegenem Handlauf führt in eine höhere Etage. Durch eine kleine Türe und einen engen Gang geht es schließlich weiter in das – wie an den Buffetaufbauten und -utensilien unschwer zu erkennen ist – Frühstückszimmer. Nur die Tische fehlen. An zwei Wänden je eine Stuhlreihe auf der sich das Publikum etwas ausruhen und die zweite Tanzperformance von Sabina Holzer betrachten kann. Zu harten E-Gittarrenklängen von Jack Hauser formt sie einen Tanz, der sie immer wieder ganz abrupt zusammenbrechen aber auch rasch immer wieder aufstehen lässt. Schon im Nebenhaus des Schauspielhauses, kurz vor dem kleinen Marsch in die Nacht, hat Holzer getanzt. Dort aber zu unhörbaren Klängen. Aber schon dort war ihr Tanz aus irgendwie aus dem Gleichgewicht geraten. Die Erde unter ihren Füßen scheint sie nicht immer tragen zu wollen, die Kraft, die sie fürs Tanzen benötigt, scheint nicht mehr ganz auszureichen. Im Hotel Baron ist nicht gleich klar, dass sich die Räume, in denen nun das Geschehen seinen Lauf nimmt, Behausungen darstellen werden, die Stefan Zweig in seinem letzten Lebensabschnitt in Brasilien bewohnte. Damals war nichts mehr, wie es am Beginn seines Lebens noch gewesen ist. Das Kaiserreich nach dem Ersten Weltkrieg aufgelöst, die Zwischenkriegswirren und einsetzende Nazifizierung sowie der Beginn des Zweiten Weltkrieges – all das hat Stefan Zweig erlebt und aufgrund seiner Verfolgung, in den Tiefen seiner Seele erschüttert. Hier nun in der Währinger Straße – nein – hier nun in Brasilien ist er angekommen. Das letzte Kapitel in seinem Leben ist aufgeschlagen. „Umwege auf dem Weg zu mir selbst“ so heißt das 8. Kapitel in Zweigs Biographie. Aber so nennt sich auch dieser dritte Theaterabend aus der Serie „Die Welt von Gestern“, die den Spuren des Autors bis ins Hier und Heute folgt.

Nach der tänzerischen Einstimmung, die dem Publikum nur eine Aufgabe stellt, nämlich sich gefühlsmäßig auf den Ort und die Stimmung von Holzer und Hauser einzulassen, werden die Besucherinnen und Besucher in zwei Gruppen geteilt. Jede von ihnen wird in eines der beiden angrenzenden Hotelzimmer geleitet und erlebt dort wiederum einen ganz bestimmten Zweig´schen Lebensabschnitt. Beengt sitzt und steht man in den kleinen Hotelzimmern. Im ersten haben es sich Hauser und Holzer auf dem Bett bequem gemacht und beginnen aus Textpassagen von Vilém Flusser und Stefan Zweig zu lesen. Es geht um Heimat und Exil und rasch folgen einzelne Personen aus dem Publikum der Aufforderung, sich in diese Thematik persönlich einzubringen. Jetzt ist der Bann gebrochen, aus dem Zur-Schau-Stellen, dem Schau-Spielen ist ein Dialog geworden. Die Situation von Flüchtlingen wird zur Sprache gebracht, aber es wird auch über Menschen in anderen lebensbedrohlichen Situationen gesprochen in welchen sie sich nicht mehr in ihrem Körper zuhause fühlen. Und dennoch ist es schwer, sich ein Exil in seiner ganzen Tragweite tatsächlich vorzustellen. Internet sei Dank. Ein Klopfen an der Zimmertüre beendet die Session und es wird in das zweite Zimmer gewechselt.

Einzeln nur werden hier die Personen eingelassen, nachdem die Reihenfolge zuvor direktiv ausgesucht worden waren. So ist es also, das Warten auf etwas, von dem man nicht weiß, was einen erwartet. Das Warten in einer Situation, die keine Selbstbestimmung zulässt. In dem kleinen Hotelzimmer ist es stickig. Die Sträuße mit dunkelroten Rosen, die überall verteilt sind, verströmen einen starken Verwesungsgeruch. Es wird auf den zugeteilten Orten Platz genommen. Auf Sesseln, Hockern und auf dem Bett, auf dem es scheint, als ob jemand zuvor geschlafen habe. Auf Knopfdruck wird ein Video abgespielt und auf dem kleinen Fernsehbildschirm sichtbar. Darin folgt eine Handkamera Sabina Holzer, die in einen schwarzen Bodysuit gekleidet auch eine schwarze Haube auf dem Kopf trägt aus der nur die Augen ausgeschnitten sind. Im Minutentakt nimmt die Beklemmung vor dem Bildschirm zu, geht Holzer doch genau jenen Weg, den das Publikum zuvor auch in das Hotel und das Zimmer gegangen ist. Der einzige Unterschied zur real-life-Situation ist, dass sich im Film im Bett zwei Menschen befinden. Zwei Männer, die augenscheinlich schlafen. Der eine auf dem Rücken, der andere seitlich an diesen geschmiegt. Und damit wird es klar. Was hier gezeigt wird, ist die Nachstellung jenes dokumentarisch aufgenommenen Bildes, das Zweig nach seinem Suizid mit seiner Frau tot in ihrem Bett zeigt. Hier muss man präzisieren: Es ist eines jener zwei überlieferten Bilder, die Stefan Zweig und seine Frau auf ihrem Totenbett zeigen. Nur geringfügig unterscheiden sie sich voneinander. Auf einem schmiegt sich Zweigs Frau an dessen Seite, auf dem anderen hat sie ihren linken Arm innig über die Brust ihres Mann gelegt. Holzer nimmt im Film vorsichtig den linken Arm des Mannes, der die Position von Zweigs Frau eingenommen hat und verändert ihn so, wie es auf dem zweiten Foto zu sehen ist. Dann verlässt sie den Raum und legt die beiden Fotos, die sie für die Veränderung noch einmal inspizierte, auf einen kleinen Tisch. Warum es zur Veränderung der Platzierung der Extremitäten von Zweigs Frau Lotte bei der Aufnahme des Fotos kam, wird nicht weiter erklärt. Auch nicht, welche Position denn nun jene gewesen ist, in der die Hausangestellten das Ehepaar tot aufgefunden haben. Mutmaßungen könnten zwischen einer drastischer dargestellten Liebesbekundung und einer besseren Sichtbarkeit des Literaten ohne die Körperdecke seiner Frau schwanken. Aber sie werden an diesem Abend nicht gestellt. Das Geheimnis bleibt als solches in der Figur der schwarz gekleideten und unerkannt bleiben wollenden Sabina Holzer aufrecht.

Die Flucht, die Unruhe, das Exil hat seine Spuren hinterlassen. Das Gefühl, dem Krieg und dem Naziterror nicht entkommen zu sein – Zweig hat wenige Tage vor seinem Tod noch die Torpedierung von brasilianischen Unterseeboten durch die Deutschen mitereleben müssen – dieses Gefühl lässt sich in diesem Moment in der Währinger Straße im neunten Wiener Gemeindebezirk zumindest erahnen.

Es herrscht allgemeines Aufatmen, als das Zimmer verlassen werden darf und gemeinsam im Frühstücksraum mit einem Glas Sekt angestoßen wird. „Zum Wohl“ wünscht man sich dabei und ist an den Titel des Romans von Johannes Mario Simmel erinnert: „Hurra wir leben noch“. Wie spürt man dem Ende eines Lebens nach? Ist es möglich, Stefan Zweigs Situation in Brasilien kurz vor seinem Tod auch nur im Ansatz nachvollziehbar zu machen?

Sabina Holzer und Jack Hauser ist es unter der klugen Regie von Anne Habermehl gelungen, mit wenig theatralischem Einsatz ein Maximum an Gefühlen und Assoziationen beim Publikum hervorzurufen. Es ist ihnen gelungen, das Todesphänomen des Ehepaares nicht als reißerisches Nachspiel zu inszenieren sondern dem Publikum gedanklich das Seine zu überlassen, um die Tragik nicht in ein geschauspielertes Mäntelchen einzuhüllen zu müssen. Ein bewegter, für manche vielleicht auch bewegender und zugleich sehr ruhiger Theaterabend, der aufzeigt, dass es immer wieder Möglichkeiten gibt, Theater neu zu denken.

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