Über das genaue Datum sind sich die Fachleute nicht einig. War es der 22. oder der 23. Februar an welchem Stefan Zweig und seine Frau 1942 in Petropolis, ungefähr 50 km von Rio de Janeiro entfernt, Selbstmord begingen? Sein Abschiedsbrief ist mit 22. datiert. Darin hoffte er, dass seine Freunde nach der langen Nacht noch die Morgenröte sehen mögen. Seine Kräfte seien nach langen Jahren heimatlosen Wanderns erschöpft und seine Ungeduld zu groß.
Der dritte Teil der fünfteiligen Stefan-Zweig-Serie des Schauspielhauses Wien führt geradewegs in diese letzten Lebensmomente und in das Sterbezimmer des Schriftstellers. In dieser Produktion liegt es jedoch zu Fuß nur ca. 10 Gehminuten entfernt vom Haus in der Porzellangasse. Sabina Holzer und Jack Hauser, die diese Folge als Performer bestreiten, gehen mit dem Publikum vom Nebenhaus des Schauspielhauses durch die Nacht – auf kleinen Umwegen – wie man zuvor noch erfährt, an einen noch nicht näher genannten Ort. Vorbei am Sigmund Freud Museum, dessen Namensgeber Zweig als einen seiner wichtigsten Freunde titulierte, geht es links von der Berggasse ab in die Wasagasse, bis hin zum Gymnasium, an dessen Außenmauer, links und rechts vom Eingang, jene Tafeln prangen, mit denen sich die Schule öffentlichkeitswirksam schmückt. Es sind Memorabilien an jene Schüler, aus denen „etwas geworden“ ist. Neben Friedrich Torberg liest man die Namen von Erich Fried, Marcel Prawy und Stefan Zweig. Ob Letzterer darüber erfreut gewesen wäre, darüber lässt sich streiten, beschreibt er doch in einem ganzen Kapitel seiner Biographie „Die Welt von Gestern“, wie sehr er die Schule gehasst hatte und sie als Knebelung des Erwachsenwerdens empfand.
Von all dem erfährt das kleine Grüppchen unerschrockener Theatergängerinnen und Theatergänger aber nichts, wurde ihm doch zuvor aufgetragen, den Weg so still wie möglich zu beschreiten. Und sich dabei vorzustellen, die Stadt nicht zu kennen, fremd hier zu sein und einen fremden Blick aufzusetzen. Was sich für viele als gar nicht leichte Übung herausstellte. Ein tatsächliches Gefühl der Befremdung stellte sich dann aber doch ein. Beim Eintritt ins Haus Währinger Straße 12. Dort ging es im Gänsemarsch hinauf in den ersten Stock, das Hochparterre und das Mezannin mitgerechnet in den „gefühlten“ 3. Stock, in welchem sich die Hotel-Pension Baron befindet. Das Logo wirkt wie die weibliche Ausführung des Werbesujets einer alteingesessenen Wiener Kaufmannsfamilie, deren jüngster Spross durch waghalsige Bankgeschäfte in den Fokus der Justiz geraten ist. Mit dunklem Holz vertäfelt nimmt ein kleiner Empfangsraum, bestückt mit großen, schweren Samtsofas und ebensolchen Fauteuils, die nun neugierig gewordene Menschengruppe auf. An der einen Seite zeigen polierte Messingnummern den Zutritt zu einzelnen Hotelzimmern an, eine schwere Holztreppe mit gediegenem Handlauf führt in eine höhere Etage. Durch eine kleine Türe und einen engen Gang geht es schließlich weiter in das – wie an den Buffetaufbauten und -utensilien unschwer zu erkennen ist – Frühstückszimmer. Nur die Tische fehlen. An zwei Wänden je eine Stuhlreihe auf der sich das Publikum etwas ausruhen und die zweite Tanzperformance von Sabina Holzer betrachten kann. Zu harten E-Gittarrenklängen von Jack Hauser formt sie einen Tanz, der sie immer wieder ganz abrupt zusammenbrechen aber auch rasch immer wieder aufstehen lässt. Schon im Nebenhaus des Schauspielhauses, kurz vor dem kleinen Marsch in die Nacht, hat Holzer getanzt. Dort aber zu unhörbaren Klängen. Aber schon dort war ihr Tanz aus irgendwie aus dem Gleichgewicht geraten. Die Erde unter ihren Füßen scheint sie nicht immer tragen zu wollen, die Kraft, die sie fürs Tanzen benötigt, scheint nicht mehr ganz auszureichen. Im Hotel Baron ist nicht gleich klar, dass sich die Räume, in denen nun das Geschehen seinen Lauf nimmt, Behausungen darstellen werden, die Stefan Zweig in seinem letzten Lebensabschnitt in Brasilien bewohnte. Damals war nichts mehr, wie es am Beginn seines Lebens noch gewesen ist. Das Kaiserreich nach dem Ersten Weltkrieg aufgelöst, die Zwischenkriegswirren und einsetzende Nazifizierung sowie der Beginn des Zweiten Weltkrieges – all das hat Stefan Zweig erlebt und aufgrund seiner Verfolgung, in den Tiefen seiner Seele erschüttert. Hier nun in der Währinger Straße – nein – hier nun in Brasilien ist er angekommen. Das letzte Kapitel in seinem Leben ist aufgeschlagen. „Umwege auf dem Weg zu mir selbst“ so heißt das 8. Kapitel in Zweigs Biographie. Aber so nennt sich auch dieser dritte Theaterabend aus der Serie „Die Welt von Gestern“, die den Spuren des Autors bis ins Hier und Heute folgt.
Nach der tänzerischen Einstimmung, die dem Publikum nur eine Aufgabe stellt, nämlich sich gefühlsmäßig auf den Ort und die Stimmung von Holzer und Hauser einzulassen, werden die Besucherinnen und Besucher in zwei Gruppen geteilt. Jede von ihnen wird in eines der beiden angrenzenden Hotelzimmer geleitet und erlebt dort wiederum einen ganz bestimmten Zweig´schen Lebensabschnitt. Beengt sitzt und steht man in den kleinen Hotelzimmern. Im ersten haben es sich Hauser und Holzer auf dem Bett bequem gemacht und beginnen aus Textpassagen von Vilém Flusser und Stefan Zweig zu lesen. Es geht um Heimat und Exil und rasch folgen einzelne Personen aus dem Publikum der Aufforderung, sich in diese Thematik persönlich einzubringen. Jetzt ist der Bann gebrochen, aus dem Zur-Schau-Stellen, dem Schau-Spielen ist ein Dialog geworden. Die Situation von Flüchtlingen wird zur Sprache gebracht, aber es wird auch über Menschen in anderen lebensbedrohlichen Situationen gesprochen in welchen sie sich nicht mehr in ihrem Körper zuhause fühlen. Und dennoch ist es schwer, sich ein Exil in seiner ganzen Tragweite tatsächlich vorzustellen. Internet sei Dank. Ein Klopfen an der Zimmertüre beendet die Session und es wird in das zweite Zimmer gewechselt.
Einzeln nur werden hier die Personen eingelassen, nachdem die Reihenfolge zuvor direktiv ausgesucht worden waren. So ist es also, das Warten auf etwas, von dem man nicht weiß, was einen erwartet. Das Warten in einer Situation, die keine Selbstbestimmung zulässt. In dem kleinen Hotelzimmer ist es stickig. Die Sträuße mit dunkelroten Rosen, die überall verteilt sind, verströmen einen starken Verwesungsgeruch. Es wird auf den zugeteilten Orten Platz genommen. Auf Sesseln, Hockern und auf dem Bett, auf dem es scheint, als ob jemand zuvor geschlafen habe. Auf Knopfdruck wird ein Video abgespielt und auf dem kleinen Fernsehbildschirm sichtbar. Darin folgt eine Handkamera Sabina Holzer, die in einen schwarzen Bodysuit gekleidet auch eine schwarze Haube auf dem Kopf trägt aus der nur die Augen ausgeschnitten sind. Im Minutentakt nimmt die Beklemmung vor dem Bildschirm zu, geht Holzer doch genau jenen Weg, den das Publikum zuvor auch in das Hotel und das Zimmer gegangen ist. Der einzige Unterschied zur real-life-Situation ist, dass sich im Film im Bett zwei Menschen befinden. Zwei Männer, die augenscheinlich schlafen. Der eine auf dem Rücken, der andere seitlich an diesen geschmiegt. Und damit wird es klar. Was hier gezeigt wird, ist die Nachstellung jenes dokumentarisch aufgenommenen Bildes, das Zweig nach seinem Suizid mit seiner Frau tot in ihrem Bett zeigt. Hier muss man präzisieren: Es ist eines jener zwei überlieferten Bilder, die Stefan Zweig und seine Frau auf ihrem Totenbett zeigen. Nur geringfügig unterscheiden sie sich voneinander. Auf einem schmiegt sich Zweigs Frau an dessen Seite, auf dem anderen hat sie ihren linken Arm innig über die Brust ihres Mann gelegt. Holzer nimmt im Film vorsichtig den linken Arm des Mannes, der die Position von Zweigs Frau eingenommen hat und verändert ihn so, wie es auf dem zweiten Foto zu sehen ist. Dann verlässt sie den Raum und legt die beiden Fotos, die sie für die Veränderung noch einmal inspizierte, auf einen kleinen Tisch. Warum es zur Veränderung der Platzierung der Extremitäten von Zweigs Frau Lotte bei der Aufnahme des Fotos kam, wird nicht weiter erklärt. Auch nicht, welche Position denn nun jene gewesen ist, in der die Hausangestellten das Ehepaar tot aufgefunden haben. Mutmaßungen könnten zwischen einer drastischer dargestellten Liebesbekundung und einer besseren Sichtbarkeit des Literaten ohne die Körperdecke seiner Frau schwanken. Aber sie werden an diesem Abend nicht gestellt. Das Geheimnis bleibt als solches in der Figur der schwarz gekleideten und unerkannt bleiben wollenden Sabina Holzer aufrecht.
Die Flucht, die Unruhe, das Exil hat seine Spuren hinterlassen. Das Gefühl, dem Krieg und dem Naziterror nicht entkommen zu sein – Zweig hat wenige Tage vor seinem Tod noch die Torpedierung von brasilianischen Unterseeboten durch die Deutschen mitereleben müssen – dieses Gefühl lässt sich in diesem Moment in der Währinger Straße im neunten Wiener Gemeindebezirk zumindest erahnen.
Es herrscht allgemeines Aufatmen, als das Zimmer verlassen werden darf und gemeinsam im Frühstücksraum mit einem Glas Sekt angestoßen wird. „Zum Wohl“ wünscht man sich dabei und ist an den Titel des Romans von Johannes Mario Simmel erinnert: „Hurra wir leben noch“. Wie spürt man dem Ende eines Lebens nach? Ist es möglich, Stefan Zweigs Situation in Brasilien kurz vor seinem Tod auch nur im Ansatz nachvollziehbar zu machen?
Sabina Holzer und Jack Hauser ist es unter der klugen Regie von Anne Habermehl gelungen, mit wenig theatralischem Einsatz ein Maximum an Gefühlen und Assoziationen beim Publikum hervorzurufen. Es ist ihnen gelungen, das Todesphänomen des Ehepaares nicht als reißerisches Nachspiel zu inszenieren sondern dem Publikum gedanklich das Seine zu überlassen, um die Tragik nicht in ein geschauspielertes Mäntelchen einzuhüllen zu müssen. Ein bewegter, für manche vielleicht auch bewegender und zugleich sehr ruhiger Theaterabend, der aufzeigt, dass es immer wieder Möglichkeiten gibt, Theater neu zu denken.