Wenn es eine Möglichkeit gäbe, die neue Inszenierung von Sabine Mitterecker, die am Schauspielhaus in Wien diese Woche Premiere hatte, nicht kritisierend, sondern in einem anderen Medium als dem Literarischen wiederzugeben, so wäre ein Comic-Heft die richtige Wahl. Mit Blitz! Donner! und Krach! wäre so manch gezeichnetes Sujet übertitelt, mit dem man die Geschichte der verrückten und dekadenten Hotelbewohner „Zur schönen Aussicht“ von Ödön von Horvath nachverfolgen könnte. Aber es ist nicht nur der Lärmpegel, der in dem Stück um Macht und Lügen, Selbstverachtung und Demaskierung elender Charaktere auftritt, der ein Comicformat rechtfertigte. Es ist vor allem auch die starke Überzeichnung der handelnden Personen – mit Ausnahme der jungen Christine – Erfolg versprechend interpretiert von Sophie Hutter – die diesen Vergleich aufzwingen.

„Zur schönen Aussicht“ ist eigentlich ein tiefschwarzes „Lustspiel“, an dem in der vorliegenden Inszenierung vordergründig vor allem die „Lust am Spiel“ im Mittelpunkt zu stehen scheint. Horvath jedoch versetzte es über den plakativen Witz hinaus mit bitterbösem Humor und hellsichtigen Wirtschafts-Horrorszenarien, die längst von der Realität eingeholt wurden. Dennoch ist das Stück nicht ganz unproblematisch in seiner Wiedergabe. Vor allem dann nicht, wenn der Text originalgetreu belassen wird, die Personen aber nicht in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts agieren, sondern im Hier und Heute. Denn da reibt sich, was zu reiben nur geht. Die überheblichen Adels-Attitüden, die von der alternden Ada Freifrau von Stetten nur aufgrund ihres finanziellen Polsters ausgelebt werden können schwingen als Machtrelikt der untergegangenen Habsburgermonarchie nach. Zwar macht es – und das ist in Wien besonders schön zu beobachten – heute der neureiche Geldadel aus dem Osten keinen Deut besser – der gedankliche Transfer hierzu bleibt aber dem Publikum selbst überlassen. Helmut Berger und Elfriede Schüsseleder sind als adeliger Zwillingsspross hervorragend besetzt. Berger in hervorragender Kondition mimt mit Verve und viel Witz den dem Tod geweihten Spielsüchtigen. Im letzten Drittel des Geschehens darf er – plakativer geht es nicht mehr – seinen eigenen Strick um den Hals permanent mit sich schleppen. Schüsseleder torkelt sich bravourös in Highheels und engen Jeans durch die verschiedenen Aufzüge, ohne dass jene Stellen, in denen sie offen ihre Verletzlichkeit artikuliert, wirklich berühren können. Müller, der erfolglose Sektvertreter, er gehört einer Zeit an, in der Schulden noch persönlich und nicht über Kreditschutzverbände und Inkassobüros eingetrieben wurden. Hannes Granzer rumpelt und humpelt, droht und lockt als schmieriger Vertretertyp authentisch über die Bühne. Und das unschuldige Mädchen Christine, die schwanger sitzen gelassen wird, würde heute wohl eher beim Sozialamt um finanzielle Hilfe bitten und eine Vaterschaftsklage anstreben als monatelang täglich einen Bettelbrief an den Erzeuger ihres Kindes abzuschicken. Einzig das Triumvirat mit dem Hotelbesitzer Strasser, dem Chauffeur Karl und dem Kellner Max hält den Transfer vom Original in die Jetztzeit völlig unbeschadet stand. Gauner bleibt offenbar Gauner, egal in welche Zeit sie vor- oder zurückversetzt werden.

Anne Neuser hat die Kostümierung als Casualware mit Schlechtem-Geschmack-Acsessoires angelegt. Der Pelzkragen auf Emanuels Jacke sitzt völlig schief, der blaue Anzug von Hoteldirektor Strasser glänzt so elendiglich, dass man sich gut vorstellen kann, darin alles auszuschwitzen, was man so an Schlacken mit sich herumträgt. Heinz Weixelbraun verkörpert darin den hilflosen und vergeblich um Autorität ringenden Chef, der vor keiner mit Drohgebärden gespickten Intrige zurückschreckt, um nicht noch tiefer in die Verschuldung zu rutschen. Und auch das bedruckte T-Shirt von Max dem Kellner tut ein Übriges, um zu erkennen, dass sich die Menschen in einer zeitgeistigen Szenerie bewegen. Germain Wagner switcht – ausgestattet mit Weitblick eines gescheiterten Plakatkünstlers – soweit es die Regie zulässt, zwischen liebenswürdigem Lebenskünstler und traurigem Mitläufer. Das Bühnenbild von Anne Neuser präsentiert einen Raum, in dem sich eine am Leben übersättigte und verwahrloste Generation aufhält. Es beschönigt mit keinem Detail die trostlose Stimmung, die im Hotel herrscht. Rien-ne-va-plus heißt es dort kurz vor dem Exodus des Unternehmens. Ein durchsichtiger Sektkühlschrank, der mit einem Micky-Mouse-Telefon bekrönt wird, ein dominantes Regal, bestückt mit allerlei Spirituosen, ein metallisch glänzender Vorhang, der den Treppenaufgang zu den Obergeschossen verdeckt, jedoch zumindest noch die Leuchtschrift „Zur schönen Aussicht“ teilweise freigibt, ein Regiesessel mit der Aufschrift „Strasser“ der die filmische Vergangenheit des Hoteldirektors persifliert, alles ist dazu angetan, sich nicht wohlzufühlen. Auch hier wird nicht mit Überzeichnung gegeizt.

Inmitten dieser Szenerie wird gestritten, werden Intrigen ausgeheckt, wird gesoffen auf Teufel komm raus, hysterisch gelacht und gesungen und schrittweise der Raum in eine Müllhalde nächtlicher Exzesse verwandelt. Trotz oder sollte man sagen wegen der so dick aufgetragenen Schrillheit des Spiels will jedoch lange kein richtiger Funke ins Publikum überspringen. Was bei Horvath an unterschiedlichen Charakteren aufgebaut und durchdekliniert wird, gefriert bei Mitterecker aufgrund der allzu heftigen Überzogenheit im Spiel zu beinahe nicht mehr unterscheidbaren Stereotypen, was das Spiel über Strecken hinweg langweilig macht. Max, Karl, Müller, Strasser und Emanuel sind alle gleich exaltiert, gleich strizzihaft, gleich duckmäuserisch oder niederträchtig. Keiner schert aus der Reihe. Eine – nur im Bedrohungsmoment ihrer Existenz – eingeschworene Männerbande, bei der ansonsten das Motto „jeder gegen jeden“ gilt. Vielleicht war es Kalkül und Mittereckers Plan, die Egalität der samt und sonders gescheiterten Männer aufzuzeigen. Damit gelang es ihr immerhin aufzugeigen, dass nicht nur der Tod, sondern vor allem Geld – das allen fehlt – schließlich auch alle gleich macht. Zumindest gleich berechenbar. Erst in jenem Moment, in welchem Müller der jungen Christine so nahe rückt, dass seine Drohungen auch körperlich spürbar werden, verdichtet sich das Geschehen zu einer Spannung, die deutlich macht, dass Theater magische Momente in sich bergen kann. Diese halten aber nur solange, bis sich das Blatt wendet und nach der Offenbarung Christines herausstellt, dass sie mindestens ebenbürtig finanziell ausgestattet ist wie ihre alternde adelige Rivalin.

Ab diesem Moment scheint es kein Halten mehr zu geben. Der Slapstick erobert die Bühne gänzlich. Christine sitzt nun bühnenmittig mit glänzend-blauer Discoperücke und einer Schwedenbombe auf der Nase inmitten ihrer neuen Verehrer und verfolgt belustigt das Treiben rund um sie. Ein jeder der Männer möchte ihre Gunst und damit ihr Geld erwerben und legt sich mit allen verfügbaren Mitteln dafür ins Zeug. Der Blumenstrauß von Max mutiert zur Plastikblumenorgie, Müllers Avancen unterstreicht dieser durch die Aufpäppelung seines Outfits mit einem neuen Hut und Jon Kiriac hat überhaupt das große Bühnenlos gezogen, muss er doch im Stringtanga und mit betontem Geschlechtsteil mittels Kopulationsbewegungen auf die Lockungen seiner Potenz aufmerksam machen. Den jungen Zuseherinnen und Zusehern, die direkt von der Schule ins Theater geschickt wurden, hat das sehr gefallen, dem Schauspielhaus-Stammpublikum fiel es schon merklich schwerer, an der allgemeinen Überzeichnung emotional hörbar Anteil zu nehmen.

Was positiv in Erinnerung bleibt, ist, dass jene Kernsätze des Autors, in welchen er den lieben Gott mit Geld gleichsetzt, trocken und beinhart ohne jeden Klamauk von Christine und ihrem ehemaligen Liebhaber Strasser formuliert wurden. Auf die Frage Strassers „Was verstehst du unter lieber Gott?“ erhält er die knappe Antwort „10.000 Mark“ – eine Summe, die zur damaligen Zeit mehrere Jahresgehälter ausmachte. „Man müsste den lieben Gott besser organisieren. Er hilft nur wenigen, aber viele verrecken“ – diese tiefsinnige Aussage Christines beschreibt knapp und bündig ein Problem, das sich tatsächlich seit den 20er Jahren nicht verändert hat und an dem sich nach wie vor philosophische Schulen und Parteiprogramme erfolglos abarbeiten. Es steht zu befürchten, dass Mittereckers trostloses Szenario, in dem die Menschheit orientierungs- und skrupellos sich nur am Geld orientiert, tatsächlich nichts anderes als einen künstlerischen Zustandsbericht unserer Zeit darstellt. Schade eigentlich, dass sich die Protagonistinnen und Protagonisten um uns herum heutzutage jene Schrillheit, die hier kritisiert wurde, im alltäglichen Leben abgewöhnt haben. Dann hätten wir zumindest noch öfter etwas zu lachen.

Eine Koproduktion von Theater.punkt/Sabine Mitterecker, Les Théatres de la Ville de Luxembourg und dem Kasemattentheater, die noch bis 9. September in Wien und im Dezember 2014 in Luxemburg zu sehen ist.